"Die ganze Gesellschaft sollte den Interessen der Arbeitenden, nicht der Besitzenden untergeordnet werden." So beschreibt Professor Michael Brie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Gründungsimpuls des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ADAV 1863. In Europa brauche es jetzt den Mut zur positiven Integration, so Brie im L-IZ-Interview.

Herr Professor Brie, die Rosa-Luxemburg-Stiftung lädt für den 20. April 2013 zu einer Geschichtswissenschaftlichen Konferenz. Thema des Tages ist die Bedeutung der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ADAV für die Linke. Geht es dabei nur um die organisationspolitische Leistung der Lassalleaner, oder auch um inhaltliche Fragen?

Die Gründung des ADAV verdankt sich zugleich der schnellen Tat und den überzeugenden Ideen von Ferdinand Lassalle. Er holte unter den Bedingungen erneut erstarkender sozialdemokratischer Bestrebungen das nach, was 1848 im Gefolge der Repressionen nach der niedergeschlagenen Revolution von 1848/49 begonnen wurde. Und gerade Leipzig und Sachsen waren damals insbesondere mit der Zeitschrift “Verbrüderung” das wichtigste Zentrum der sich formierenden Arbeiterbewegung.

Es ging immer darum, wer hat die politische Macht im Staat und in wessen Interesse wird sie genutzt. Die Arbeiter als Stand der “Eigentumslosen” forderten ihren gerechten Anteil. Mehr noch: Die ganze Gesellschaft sollte den Interessen der Arbeitenden, nicht der Besitzenden untergeordnet werden.

Wie viel ADAV steckt denn heute in der Linken, und wie viel ADAV in der SPD?
SPD und Linke stehen gemeinsam in der Tradition der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Dabei sind sie heute natürlich je anders durch den besonderen Bezug auf den reformorientierten oder revolutionsorientierten Flügel der SPD des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt.

Die Linke und vor allem ihre aus der PDS stammenden Mitglieder müssen sich zudem vor allem auch mit Leninismus und Stalinismus auseinandersetzen, der mit dem demokratischen Erbe der Arbeiterbewegung gebrochen hatte. Dies wird auch auf unserer Veranstaltung mit im Zentrum stehen.

Gemeinsam stehen SPD, Linke und alle sozial orientierten Kräfte in Deutschland und der EU vor der Frage, was soziale Demokratie, die zugleich die ökologische Frage und die globalen Probleme insgesamt ernst nimmt, heute bedeutet. Ein Weiter-So des entfesselten Finanzmarkt-Kapitalismus und der Vormacht der Märkte und der sie beherrschenden Finanzoligarchien darf es nicht geben.
“Der Bruch mit dem Leninismus als System. Sozialismus und Demokratie – eine unbewältigte Aufgabe” lautet der Titel Ihres Referats auf der Konferenz. Linken-Guru Oskar Lafontaine tönte 2007 hingegen selbstbewusst “Freiheit durch Sozialismus”. Warum ist denn aus Ihrer Sicht das Zusammenspiel von Sozialismus und Demokratie weiter unbewältigt?

Die historische Erfahrung sagt, dass es keinen Sozialismus ohne Freiheit geben kann, wenn er denn nicht zum Verrat an den Ideen der sozialen Demokratie und des demokratischen Sozialismus werden soll. Und zugleich muss sich jede Politik, die sich sozialistisch nennt, dazu beitragen, dass sie die Freiheit vor allem jener erhöht, die nicht über ein größeres Vermögen, nicht über die höchste Ausbildung verfügen. Und dies ist die große Mehrheit der Bevölkerung, wie wir wissen.

Sozialismus ist vor allem eine Bewegung für Menschenrechte und Freiheit, die von unten, und damit vor allem auch von den Lohnabhängigen, den Kinder, den Älteren her auf die Gesellschaft blickt und deren Interessen vertritt.

Sie beschäftigen sich bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Gesellschaftsanalyse. Wenn Sie die Ergebnisse Ihres Instituts heranziehen: Welchen Weg durch die Euro-Krise wünschen denn demnach die Gesellschaften unseres Kontinents?

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Die Einigung Westeuropas nach 1945 basierte auf der Kombination starker nationaler Sozialstaaten und wirtschaftlicher Kooperation. In den letzten 20 Jahren wurden zugleich die Nationalstaaten mit ihrer Funktion von sozialem Schutz und sozialer Integration geschwächt und Integration vor allem negativ, als mehr Wettbewerb verstanden. Das Hauptziel war, die EU zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu machen. Damit wurden die Differenzen und Widersprüche zwischen den Staaten Europas selbst und in diesen zugespitzt. Das droht, die EU und vor allem die Eurozone zu zerreißen.

Wir brauchen jetzt den Mut, mehr für die positive Integration zu tun, damit die schwächeren Länder und die Lohnabhängigen sehen, dass die EU nicht Bedrohung, sondern Chance ist. Vor allem die Vermögenden, die Gewinner der letzten 20 Jahre, müssen nun im besonderen Maße auch die Lasten tragen.

Sie können es auch. Steuerflucht, Steuersenkung müssen ein Ende haben. Eine Vermögensabgabe insgesamt in der EU wäre sinnvoll. Aber wir müssen zugleich sagen: Was in 20 Jahren sich an Problemen aufgehäuft hat, kann nicht in fünf Jahren abgetragen werden.

Terminhinweis:

Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863
Geschichtswissenschaftliche Konferenz zur Gründung des ADAV 1863 in Leipzig und ihrer Bedeutung für die Linke.
Sonnabend, 20.04.2013, 10 bis 18 Uhr
Haus des Buches, Leipzig
Veranstalterin: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen

www.sachsen.rosalux.de/event/48075/die-gruendung-des-allgemeinen-deutschen-arbeitervereins-1863.html

Im Osten keine Wechselstimmung
www.rosalux.de

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