Er hat es nicht nur in Frankreich geschafft. Auch in Deutschland hat Stéphane Hessel im Sturm die Bestsellerlisten erobert. Beim Sachbuch steht sein kleines Büchlein "Empört euch!" zwei Wochen nach Veröffentlichung unangefochten auf Platz 1. Und wenn alles gut geht, ist der 93-jährige Bestseller-Autor am 18. März in Leipzig.

An diesem Freitag steht um 20 Uhr sein Auftritt zum Leipziger Lesefestival “Leipzig liest” in der Peterskirche auf dem Programm. Vielleicht wird auch diese Kirche nicht reichen, das Publikum zu fassen, das nicht kommen wird, weil sein Büchlein so besonders aufregend geschrieben wäre. Eigentlich hatte Hessel, der 1917 in Berlin geboren wurde, gar nicht geplant, ein Buch zu schreiben. Jedenfalls dieses nicht. Mit zwei Titeln ist er auch in Deutschland längst vertreten: einem Gedichtband, “O ma mémoire”, erschienen im Grupello Verlag Düsseldorf im letzten Jahr, und mit seiner Autobiographie “Tanz mit dem Jahrhundert”, 1998 im Arche-Verlag erschienen. Und Hessel hat wie kaum ein Zweiter über das vergangene Jahrhundert zu erzählen.

Dass das Neue den einstigen Resistance-Kämpfer und Buchenwald-Häftling noch einmal so fordern würde, er hätte es sich selbst nicht gewünscht. Immerhin war er auch einer der wichtigen Autoren der 1948 entstandenen Charta der Menschenrechte, die ein halbes Jahrhundert lang immer wieder wichtiger geistiger Zündstoff für Befreiungs- und Demokratiebewegungen in aller Welt wurde. Sie ist vom freien Geist Frankreichs geprägt, diese Charta, bestätigt Sylvie Crossman im Nachwort. Sie ist Hessels französische Verlegerin, die sein Büchlein “Indignez-vous!” ins Programm von Indigène éditions aufnahm und für 3 Euro in die Buchhandlungen brachte. Aber der Preis allein machte nicht den Erfolg.

Es war die Botschaft, die zündete in einem Land, in dem gerade der allmächtige Staat daran ging, nicht nur soziale Programme zu kürzen, sondern auch ganz offiziell mit der Vertreibung von Sinti und Roma einen neuen Sündenbock für die wirtschaftliche Misere im Gefolge der Finanzkrise kürte.

Verständlich, dass da einer wie Hessel, der auch an den programmatischen Grundlagen der modernen französischen Republik mitgeschrieben hatte, nicht mehr still sitzen konnte. Gerade er nicht: Sohn des Schriftstellers Franz Hessel und der Journalistin Helen Grund. Und hätte es die finsteren zwölf Jahre in Deutschland nicht gegeben, kein Mensch würde es für wichtig erachten, dass Franz Hessel aus dem “assimilierten polnisch-jüdischen Bürgertum” stammte. Vater Franz Hessel hat den deutschen Buchmarkt übrigens um zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen bereichert – Marcel Proust unter anderem (zusammen mit Walter Benjamin). Bis 1938, bis zu seiner unfreiwilligen Emigration, war er für den Rowohlt-Verlag tätig.

Die Ehe mit Helen Grund war in den 1920er Jahren in die Binsen gegangen. Das war die Ursache dafür, dass Stéphane Hessel schon ab 1924 in Frankreich lebte, wo Helen Hessel als Modejournalistin tätig war. 1939 wurde er offiziell französischer Staatsbürger. Allein seine Abenteuer im französischen Widerstand und seine wiederholten Fluchten aus deutscher Gefangenschaft erzählen von einem Charakter, dem Freiheit das höchste aller Güter ist.Dass im 21. Jahrhundert gerade diese Freiheit wieder bedroht ist, hat für ihn zwei unübersehbare Wurzeln: Die ungefesselte Jagd nach Gewinn, wie sie sich in der Finanzkrise 2008/2009 als Milliardenverlust für die Nationen niederschlug – und das Agieren des US-Präsidenten George W. Bush, der den 11. September 2001 zum Anlass nahm, einen verlogenen Krieg gegen den Irak vom Zaun zu brechen.

Was Hessel aber wunderte, war die Tatsache, dass seine geliebten Franzosen selbst die schlimmsten Übergriffe eines auf Machterhalt fixierten französischen Staatspräsidenten widerspruchslos hinnahmen. “Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit”, schreibt Hessel. Oder besser: Zuerst sagte er es. Am 17. Mai 2009 bei einer Rede auf dem Plateau des Glières im Département Haute-Savoie. Da sagte er auch, dass der wichtigste Antrieb für Veränderungen die Empörung über all jene Dinge ist, die verändert werden müssen. Das war in Zeiten, als die Welt noch in Gut und Böse, Nazis und Alliierte, Rot und Schwarz geteilt war, noch einfach. Doch gegen wen empört man sich, wenn die großen Schweinereien von undurchschaubaren Konzernen, gesichtslosen Bankkonglomeraten, demokratisch gewählten Kabinetten begangen werden?

“Findet eure eigenen Motive für Empörung”, rief Hessel, “bringt euch wieder in diesen großen Strom der Geschichte ein!” Die Rede landete in einem Film von Gilles Peret, “Walter, retour en résistance”. Der Film gab den Anstoß dazu, aus der Rede ein Buch zu machen.

Ein Buch, in dem er nicht nur erklärt, warum Widerstand ohne Empörung nicht funktioniert und dass es mehr als genug Gründe dafür gibt, empört zu sein. “Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen”, stellt er fest. “Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates.”Als das Buch 2010 in Frankreich erschien, konnte Hessel nicht ahnen, wie aktuell es sein würde. Denn er ruft nicht nur zur Empörung auf. Er erklärt auch, wie man sich empören soll. Und es steht – auch gegen alle Rüstungs- und Kriegspolitik der großen Nationen – da: “Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der Kulturen – davon bin ich überzeugt.”

Er bezieht sich auf Mandela und Martin Luther King. Er hätte sich auch auf den Leipziger Herbst 1989 beziehen können. Er sagt den Macht-Habern: Eure Macht ist auf Sand gebaut. “Wirksamkeit setzt gewaltlose Hoffnung voraus. … Wir müssen begreifen, dass Gewalt von Hoffnung nichts wissen will. … Und vor allem muss einen die Wirksamkeit der Gewaltlosigkeit irritieren, die darauf setzt, von allen Gegnern der Unterdrückung in der Welt verstanden und unterstützt zu werden.”

Dass er damit auch das imperiale Selbstverständnis der westlichen Nationen in Frage stellt, versteht sich von selbst. Ein Blick nach Ägypten, Tunesien, Bahrein dieser Tage genügt schon: Hier wehren sich die Völker gewaltlos gegen all jene Regimes, mit denen Europa immer gute Geschäfte gemacht hat.

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Empört Euch!
Stéphane Hessel, Ullstein Buchverlage 2011, 3,99 Euro

“Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen”, schreibt Hessel. “Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‘Immer noch mehr’ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.”

Bleibt nur noch zu wünschen, dass Stéphane Hessel gesund und munter bleibt und am 18. März in Leipzig sein kann. Wer nicht warten will, der kann sich das schmale blaue Bändchen besorgen, das der Ullstein-Verlag für 3,99 Euro auf den deutschen Buchmarkt geworfen hat. Längst in der zweiten Auflage. Übersetzt von Michael Kogon, den Hessel explizit gebeten hat, die Übersetzung zu übernehmen. Michael Kogon ist der Sohn von Eugen Kogon, der Hessel im KZ Buchenwald das Leben rettete und dessen Gesammelte Werke Michael Kogon mit herausgibt.

Lesung mit Stéphane Hessel am Freitag, 18. März, 20 Uhr in der Peterskirche.

Nachtrag vom 24. Februar 2011
Leider wurde die Veranstaltung nun als abgesagt gemeldet. Bei der Buchmesse zu lesen unter
www.leipziger-buchmesse.de

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