Aufmerksamkeit ist durch Wiederholung entstanden. Grob verkürzt ist das die zentrale These des Buchs "Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur" von Prof. Dr. Christoph Türcke. Erst durch das kollektive Anrufen und Bedeuten eines fokussierten Dritten hat sich eine Aufmerksamkeitsgemeinschaft gebildet, die ihre Aufmerksamkeit miteinander teilt. Wenn ein Säugling mit erhobenem Zeigefinger auf einen Gegenstand zeigt und seine Eltern darauf hinweisen will, geschieht genau das, was geteilte Aufmerksamkeit meint.

Im Zuge der medialen Dauerüberforderung wird die Aufmerksamkeit ebenfalls geteilt oder, besser gesagt, zerstreut. Diese Teilung ist allerdings als allmähliche Zerstörung der Aufmerksamkeit zu verstehen. In raschen Abläufen wechseln die Eindrücke. Smartphones, Tablets – kurz der digitale Raum macht scheinbar alles verfügbar, suggeriert beim User eine Allmacht, die am Ende zu einer Abhängigkeit, gar zur Sucht führen kann. Die sogenannte Nomophobie (No-Mobile-Phone-Phobia) ist ein Begriff, der zeigt, dass geglaubt wird, man sein nur existent, wenn man verfügbar ist und selbst dauerhaft Zugriff hat.

Sein ist wahrgenommen werden (esse est percipi). Diese alte philosophische Formulierung von George Berkley besitzt heute paradoxerweise einen gewissen Grad an Geltung. Dass etwas sein kann, ohne dass es wahrgenommen wird, beweist der Maulwurf. Der existiert auch, wenn wir ihn nicht sehen.

Und doch scheint heutzutage jedes Subjekt nur eines zu sein, wenn es in irgendeiner Form (sei es Facebook, Twitter usw.) wahrgenommen werden kann. Die Aufmerksamkeit wird dabei zerstreut (negativ geteilt), auf viele Gegenstände gleichzeitig gerichtet, was kognitiv eine Überforderung darstellt, weil das menschliche Gehirn dafür nicht ausgelegt ist.

Wie aber kam es zur Krise der Aufmerksamkeit?

Für Prof. Dr. Christoph Türcke entstand durch die Programmierung und Objektivierung, die mittels der neuzeitlichen Maschine möglich wurde, eine qualitative Neuerung der Wiederholung. Was bis zu diesem Zeitpunkt Exklusivrecht des Menschen gewesen ist, verlagerte sich aus dem Menschen heraus. Dadurch entstand das, was Türcke die prometheische Scham nennt. Gemeint ist damit das dauerhafte Unterlegenheitsgefühl gegenüber der Maschine, die er selbst erfunden hat.

Als Urknall dieser Entwicklung sieht Türcke die Erfindung der Kamera, mit dem der sogenannte Bildschock zur Welt kam. Die Kamera kann nämlich das, was der Mensch nur mit viel Mühe vollbringen kann: sie kann Gesten und Worte speichern und beliebig wiederholen.
Das stellt zu Beginn sicherlich kein Problem dar. Auch der rituelle Kinobesuch ist noch lange nicht pathogen. Doch durch das Absinken der bewegten Bilder vom Highlight zur Alltäglichkeit ändert sich die Situation entscheidend. Durch die permanente Präsenz und die schnelle Abfolge von Informationen wird das Verharren immer schwieriger. Jeder Bildschnitt erfordert Aufmerksamkeit. Jedoch wird gerade durch die schnelle Abfolge der Bildschnitte gerade das Gegenteil erreicht. Durch die ständige Stimulation wird Aufmerksamkeit zermürbt. Auch Zeitungen und Illustrierte, in denen immer mehr Bilder und immer weniger Text zu finden sind, gehören in dieses Schema.

“Mit alledem ist der Bildschock zum Brennpunkt eines globalen Aufmerksamkeitsregimes geworden, das die menschliche Aufmerksamkeit durch Dauerüberforderung abstumpft,” konstatiert Türcke (S. 29). Durch das Fehlen einer Ruhestätte entsteht eine ständige motorische Unruhe. ADHS ist ein krasser Sonderfall davon.

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Durch die veränderte Reizkultur muss sich das über Jahrtausende aufgebaute Gehirn neu organisieren. Im Umkehrschluss ist es aber durch die ständigen Neueinstellungen gar nicht in der Lage etwas zu verfestigen. Vielmehr führt die Optimierung der Anpassung an die neue Reizkultur zu Ausfällen. Die Unterbrechungslogik des filmischen Aufmerksamkeitsregimes trainiert das Gehirn nach ruckartigen Standards, so Türcke. Damit behindert oder zermürbt die Bildmaschine die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit, weil das gemeinsame Verharren ständig durchkreuzt wird und ein audiovisueller Unruheherd entsteht.

ADHS könnte demnach, so Türcke, als Symptom eines historischen Nervenpunktes verstanden werden, an dem zwei konträre Wiederholungskulturen aufeinander treffen. In deren Konflikt ist die Gehirnarbeit des erlebenden Subjekts verwickelt. Das audiovisuelle Störfeuer ist dabei in der Menge seines Konsums ein Problem, wie alles eine Frage der Dosis ist. Manche Gifte sind in geringen Dosen heilsstiftend. Im Übermaß genossen machen sie süchtig. So auch der Genuss diverser Medien. Diese Sucht ist dann aber auch selbst schon eine Entzugserscheinung. Sie verweist auf das Fehlen von gemeinschaftlichem Bedeuten. Das Begehrte ist verschwunden und durch Surrogate wird versucht das Verschwundene zu simulieren, was den Kreislauf der traumatischen Wiederholung perpetuiert. Und was genau ist eigentlich verschwunden? Kurz gesagt: Rituale, Pausen, Ruhe. Ohne den Fortschritt harsch abzuurteilen, denn er hat viele gute Dinge mit sich gebracht, so muss doch festgestellt werden, dass er sich verselbstständigt hat. Und wir sind irgendwie wie der Zauberlehrling aus dem Goethe’schen Gedicht.

“Ach, ich merk es! Wehe! Wehe! Hab ich doch das Wort vergessen!/ Ach, das Wort, worauf am Ende ?er das wird, was er gewesen. ?Ach, er läuft und bringt behende! ?Wärst du doch der alte Besen!”

Das Wort des Meisters erlöst am Ende den Lehrling vom Schrecken und stellt die Ruhe und Ordnung wieder her. Ruhe und Ordnung bieten Rituale, die uns Sicherheit geben und der Dynamik des audiovisuellen Bildschocks entgegenwirken können. Es scheint uns geboten zu sein, uns an das Wort des Meisters, der Geschichte heißt, zu erinnern. Soll heißen, die Genese und Entwicklung der Aufmerksamkeit zu durchdringen, sie zu ihren Anfängen zurückzuverfolgen, um dort die Mittel zu finden, die uns in der jetzigen Problemlage, die in der Umkehr der menschlichen Wiederholungslogik beschlossen liegt, helfen können.

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Hyperaktiv!
Christoph Türcke, CH Beck Verlag 2014, 9,95 Euro

Ansonsten kann ADHS nur die Ouvertüre zu etwas viel Schlimmerem sein. Türcke nennt es die Repsychotisierung, die durch die technische Einbildungskraft der Maschine in Gang gesetzt wird. Die Differenz von Halluzination und Vorstellung wird dadurch zurückgesetzt und führt zur mentalen Spaltung, die man Psychose nennt. Als Bündnispartner dieser Psychose sieht Türcke die Bildmaschine. “Nur Menschen mit hochentwickelten Vorstellungs- und Abstraktionsvermögen haben eine technische Einbildungskraft aushecken können. Und was tut die, kaum dass sie das ist? Sie kehrt sich gegen ihren Erzeuger … Auch in ihren größten Werken macht die technische Einbildungskraft keinen Unterschied zwischen Halluzination und Vorstellung – und arbeitet unweigerlich daran mit, auch der menschlichen Einbildungskraft diese Unterscheidung abzugewöhnen. Sie hat eine repsychotisierende Tendenz.” (S. 74)

Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, bedarf es des Rituals. Damit ist nicht die Rückannäherung an das Menschenopfer gemeint, sondern eben jene Wiederholungspraktiken, die Aufmerksamkeit generieren können. Dazu gehört das gemeinsame Lesen von Gedichten, das Abschreiben von Texten, auch das sonntägliche Familienfrühstück ist in diesem Zusammenhang zu nennen. In der Restituierung des Rituals als profane Andacht sieht Türcke die vordringlichste Bildungsaufgabe unserer Epoche. Was er sich unter Ritualkunde als Schulfach vorstellt, wird in der nächsten Ausgabe zu lesen sein.

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