Am Donnerstag, 23. Februar, hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem besonderen Workshop in Leipzig eingeladen. Motto: "Wie wollen wir leben?" - Ein Thema, mit dem sich L-IZ-Leser seit sieben Jahren etwas intensiver beschäftigen, das aber auch mittlerweile den Bundestag beschäftigt. Seit Anfang 2011 gibt es dort die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität".

Denn seit einigen Jahren ist Manchem auch auf hoher Ebene bewusst geworden, dass das alte Verständnis von permanentem Wachstum so nicht ewig funktionieren kann. Die Griechenland-Krise hat es noch einmal deutlich gemacht: Das deutsche Wirtschaftswachstum, das das Land auch in der aktuellen Staatsschuldenkrise recht stabil dastehen lässt, ist erkauft mit Exportdefiziten anderer Länder.

Und trotzdem schafft es auch die Bundesrepublik nicht, ihren angehäuften Schuldenberg von 2 Billionen Euro abzubauen. Nicht, weil das nicht möglich wäre. Die deutschen Privathaushalte verfügen allein über Vermögen von 10 Billionen Euro, meldete “Spiegel Online” am 15. Februar. Selbst wenn man die 1,5 Billionen Euro an privaten Kreditverbindlichkeiten gegenrechnet, ist das genug Vermögen, um die kompletten europäischen Staatsschulden abzutragen.

Und: Das private Vermögen wächst. “Allein das Geldvermögen hat sich in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht: Es stieg von 1.750 Milliarden Euro im ersten Quartal 1991 auf mittlerweile 4.662 Milliarden Euro”, heißt es bei “Spiegel Online”. Man ahnt, warum immer mehr Wähler den alten Wahlsprüchen von “Steuern runter” nicht mehr so recht trauen: Die, welche die diversen Steuersenkungen losgetreten haben, haben zwar ihr Privatvermögen dadurch gemehrt – dem Staat aber haben sie wichtige Ressourcen entzogen.

Parallel dazu ist zwischen den Staaten ein großes Rennen um die niedrigsten Steuersätze ausgebrochen, um um die Ansiedlung großer Unternehmen zu buhlen. Gleichzeitig wurde Steuerhinterziehung nicht nur bei deutschen Gutverdienern zum Volkssport. Unter der selben Krankheit leiden auch Griechenland & Co. Und es sah noch vor wenigen Jahren so aus, als würde dieser Betrug an der Allgemeinheit tatsächlich als hübscher kleiner Sport der Reichen geduldet.

Die Staatsschuldenkrise zeigt zumindest, welche verheerenden Folgen dieser Entzug der Finanzierungsbasis für moderne Staaten hat.

Aber wohin soll die Reise gehen? Wie soll denn ein modernes Gemeinwesen aussehen, wenn man nicht darauf warten will, dass wieder seltsame Diktatoren das Ruder an sich reißen, weil die Gesellschaft in immer tiefere Vertrauenskrisen rutscht?

Genau damit beschäftigt sich die Enquete-Kommission. Sie soll tatsächlich Konzepte für nachhaltiges Wirtschaften und mehr Wohlstand und Lebensqualität entwickeln. Und geleitet wird diese Kommission von der Leipziger Bundestagsabgeordneten Daniela Kolbe.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat dazu auch ein Fortschrittsforum ins Leben gerufen, das die Debatte begleitet und Anregungen an die Enquete-Kommission weiterleitet.

Neu war am Leipziger Forum, dass es das Anliegen der Enquete-Kommission erstmals auf lokaler Ebene diskutierte. Hätte auch schief gehen können. Immer mehr Bürgerforen werden ja auch in Leipzig organisiert. In der Verwaltung hat man durchaus begriffen, dass das einfache Verwalten und Entscheiden an Stelle der Bürger so nicht mehr funktioniert. Auch Leipzigs Verwaltung muss sich immer öfter Kritik anhören, die ihr Intransparenz, Beratungsresistenz oder auch Arbeitsverweigerung vorwirft.

Manchmal zu unrecht, weil viele Entscheidungen, die in der Kommune aufschlagen, auf höherer Ebene verursacht wurden. Oft auch zu recht. Denn seit Wolfgang Tiefensee seinen OBM-Wahlkampf 1998 unter den Aspekt von “mehr Transparenz” gestellt hat, sind auch Erwartungen geweckt worden. Im gleichen Jahr bekannte sich Leipzig zum 1991 ins Leben gerufenen Agenda-Prozess. Und es überrascht nicht, dass am Donnerstag von den über 30 Workshop-Teilnehmern genau die Schwerpunktthemen als Problem benannt wurden, die schon 1998 als Grundthema des Agenda-Prozesses beschrieben wurden.Dabei waren die Einstiegsfragen zum Workshop ganz simpel – Fragen, die sich jeder stellt, der über den heutigen Tag hinausdenkt und sich überlegt, was für eine Welt wir eigentlich unseren Kindern und Enkeln hinterlassen wollen: Was heißt für engagierte Bürgerinnen Lebensqualität? Wie können wir die Lebensqualität in Leipzig steigern, wie den Wohlstand mehren? Wie wollen wir leben? Was muss die große Politik dazu für Rahmenbedingungen setzen, was erwarten wir von der Stadtpolitik und was können wir selbst beitragen?

Fragen, die sich die engagierten Leipziger, die in Vereinen und Initiativen der Stadt in vielen Bereichen den Rücken frei halten und stärken, zwangsläufig stellen. Zwangsläufiger noch als gewählte Stadträte oder Bürgermeister, denn entstanden sind viele dieser Initiativen ja direkt aus dem Agenda-Prozess. Andere sind entstanden, weil die Stadt bergeweise voller ungelöster und unbewältigter Aufgaben ist. Und so schälten sich in der Kritikphase gleich drei große Themenfelder heraus, die zur Leipziger Stadtpolitik gehören, die aber auch 2012 noch unbewältigt sind.

Das erste war die städtische Verkehrspolitik, die sich längst in der Vielzahl der Problemfelder vom Lärm über die löchrigen Strukturen im Radverkehr bis hin zu ungelösten Parkraumproblemen verheddert hat.

Ein Mega-Thema in der Kritikrunde war das Feld der Sozialpolitik, die heute noch irgendwie all das bewältigen soll, was an sozialen Problemen entsteht, wenn nicht die Gesellschaft, sondern das Wohlergehen einiger Wirtschaftsbranchen das Primat hat – unübersehbar leidet Leipzig unter einem wachsenden Feld prekärer Beschäftigung, die der Stadt am Ende gar nichts nützt – sie zahlt nur die soziale Zeche. Aber genauso ungelöst sind die Probleme des sich ankündigenden Fachkräftemangels und der Integration bislang vom Arbeitsmarkt ausgeschlossener Personengruppen. Alles hängt mit allem zusammen. Wer Politik nicht in Zusammenhängen zu denken vermag, wird das, was sich da zusammengebraut hat, nicht lösen. Und alle Lösungen von der Stadt zu fordern, kann auch nicht die Lösung sein.

So weit waren sich die Teilnehmer des Workshops klar. “Was auf Bundesebene gelöst werden muss, werde ich mit nach Berlin nehmen und in die Enquete-Kommission einbringen”, sagt Daniela Kolbe.

Drittes Brandthema in Leipzig: die Bürgerbeteiligung. Und die Aktiven aus Verbänden und Vereinen spüren am deutlichsten, dass es hier klemmt. “Es gibt das starke Gefühl einer Diskrepanz zwischen dem eigenen, aufopferungsvollen Engagement und der erlebten Politik in der Stadt”, so Kolbe.In einer “Traumphase” durfte dann durchaus über Lösungen der benannten Probleme nachgedacht werden. Ein Schlagwort wie das “Gläserne Rathaus” ist ja seit 1998 in aller Munde. Aber wie wär’s denn wirklich mit einer echten Internetabstimmung der Bürger zu ausgewählten Entscheidungen? Oder welche Rolle könnte freier W-LAN-Zugang für alle Bürger bei der Herstellung von Beteiligung an Stadtpolitik spielen?

In der “Konkretisierungsphase” wurde dann noch viel deutlicher, wie sehr Leipziger Lebenswelten mit “höherer Politik” zusammen hängen. Denn soziale und wirtschaftliche Teilhabe hängen unverkennbar mit dem großen Feld der Bildungspolitik zusammen – das eben nicht in Leipzig beackert wird, sondern in Dresden. Aber das Thema “einheitliches Schulsystem”, das allen Kindern gleiche Zugangsmöglichkeiten bietet und keine Barrieren aufbaut, das will und muss Daniela Kolbe wieder mit nach Berlin mitnehmen.

Bildung wird auch eines der großen Themen sein, die im Abschlussbericht der Enquete-Kommission 2013 ausführlich bedacht werden. Denn dass in den letzten Jahren neue Barrieren in Sachen Bildung aufgebaut wurden, hängt auch damit zusammen, dass der Bund dieses Themenfeld den Ländern überlassen hat – und damit wurde es endgültig zum Spielball partikularer Interessen. “Das Kooperationsverbot ist das erste, das fallen muss”, sagt Daniela Kolbe.

Für die Gesellschaft ist Bildung natürlich auch Grundlage für politische Teilhabe. Denn die Politik in einer komplexen Gesellschaft wie der bundesdeutschen ist mit Schmalspur-Weltsichten nicht zu begreifen und auch nicht zu bewältigen. Mündige Politik braucht den mündigen Bürger. Kolbe: “Was für mich dahinter steckt, ist die Frage: Wie kriegt man eine Demokratie so organisiert, dass die Bürger tatsächlich an ihr teilhaben können? Die Abwendung von der Politik ist doch ein Zeichen dafür, dass viele Menschen zu all dem keinen Zugang mehr haben.”

Gerade der Workshop zeigte, wie wichtig politische Teilhabe schon auf lokaler Ebene ist. Und als es ans Aufgabenverteilen ging, haben die Workshop-Teilnehmer selbst einen gut Teil Aufgaben mit nach Hause genommen. Einen Teil hat Daniela Kolbe im Gepäck. Und die Erfahrungen mit dem ersten Workshop dieser Art bestärken sie eigentlich in dem Wunsch, weitere lokale Workshops in anderen Städten zu organisieren.

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Möglich, dass sich lokal durchaus unterschiedliche Problemfelder herauskristallisieren. Der Bericht, den die Enquete-Kommission 2013 vorlegen will, wird mehrere umfangreiche Einzelkomplexe umfassen – jede der fünf bestehenden Projektgruppen hat eigentlich solche Mega-Themen auf dem Tisch. Die vielleicht wichtigste Frage beschäftigt gleich Projektgruppe 1: Wie definiert man denn eigentlich Wachstum und Wohlstand in einer modernen Gesellschaft? Und zwar nachhaltig, über das heute so hart erkämpfte Wachstum des Bruttoinlandsprodukts hinaus, das im Grunde ja nur beschreibt, wieviel Wohlstand man anderen Nationen abgehandelt hat? Und wie misst man das?

Es geht um den generationengerechten Umgang mit Ressourcen (Projektgruppe 3) und die nachhaltige Sicherung einer demokratischen Ordnung. Griechenland zeigt ja gerade wieder exemplarisch, wie wenig dummdreiste Verordnungspolitik es braucht, um ein Land an den Rand des Bürgerkriegs zu bringen. Das wird in Projektgruppe 4 besprochen, die sich gerade genauso konstituiert hat wie Projektgruppe 5: Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile.

“Was mich erstaunt”, so Daniela Kolbe, “ist, dass sich mittlerweile auch Abgeordnete aus jenen Fraktionen aktiv in die Arbeit der Enquete-Kommission einbringen, die sich mit diesen Themen bisher am liebsten überhaupt nicht beschäftigt hätten.” Vielleicht ist es ja tatsächlich die europäische Staatsschuldenkrise, die manchem Parlamentarier bewusst gemacht hat, dass die gegenwärtige Art, Politik und Wirtschaft zu betreiben, nicht zukunftsfähig ist. Dass es höchste Zeit ist, sich über nachhaltige Gesellschaftsvisionen einen Kopf zu machen.

Die Enquete-Kommission “Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft”: www.bundestag.de

Die kleine Meldung von “Spiegel Online” zum deutschen Privatvermögen: www.spiegel.de

Die Leipziger Agenda 21: www.leipzigeragenda21.de

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