Leipzig hat in der kommenden Bundestagswahl wieder zwei Direktmandate zu vergeben: eines im Norden (Wahlkreis 152) und eines im Süden (Wahlkreis 153). Um diese bewerben sich zwölf Kandidaten der etablierten Parteien. Im Interview erzählen diese, warum sie gewählt werden möchten, wie sie die Stadt sehen und was sie im Falle eines Wahlsiegs in Angriff nehmen wollen. In der zehnten Folge äußert sich Florian Bokor, der für die Piratenpartei im Leipziger Norden kandidiert. Steckenpferde des Webdesigners sind das Internet und Kommunikationstechnologien.

Herr Bokor, wie viel haben Sie zuletzt für eine Straßenbahnfahrt bezahlt?

Ich habe 2,30 Euro bezahlt. Da bin ich letztens von zu Hause an den Hauptbahnhof gefahren.

Was hat Sie in der vergangenen Legislaturperiode am meisten geärgert?

Bei so viel Begriffsstutzigkeit, wie sie die derzeitige Bundesregierung in so vielen Themen an den Tag legt, kann ich gar nicht sagen, was mich am meisten geärgert hat. Wo jetzt da ein Punkt war, wo ich sage: Das war die große Katastrophe der letzten vier Jahre. Doch ich kann mich genau daran erinnern, wann mir jüngst wieder das Frühstück in die Tastatur gefallen ist. Das war, als ich die Sendung “Bericht aus Berlin” vom Vortag gesehen habe, in dem unsere Bundeskanzlerin gesagt hat “Ich bin nie abgehört worden”, denn das hätte sie dann ja der kommissarischen Kontrollkommission melden müssen.

Erstens weiß sie das nicht, ob sie abgehört wurde, und zweitens muss nicht sie das der kommissarischen Kontrollkommission melden, sondern andersherum. Und drittens ist für jene Behörden, die uns zurzeit auch hier in Deutschland abhören, die parlamentarische Kontrollkommission des Bundestages gar nicht zuständig, sondern unsere geliebten Verbündeten. Und da zu behaupten, die Bundesregierung wisse nicht, dass diese Maßnahmen bestehen… Entweder belügen unsere eigenen Geheimdienste unsere Regierung und das auf einer regelmäßigen Basis. Dann gehören diese Dienste sofort abgeschafft, weil sie eine Gefahr für unseren Staat darstellen.

Oder unsere Geheimdienste haben die Finger in den Ohren stecken und wollen gar nicht wissen, wo die Informationen, die sie von ihren Verbündeten bekommen, herstammen. Dann gehören sie abgeschafft, weil sie ihrer Aufgabe nicht nachkommen. Derzeit wird als Beispiel angeführt, dass durch die Prism-Maßnahmen diese Sauerlandgruppe verhindert wurde, welche aber auch über andere Maßnahmen hätte verhindert werden können, denn einer aus der Sauerlandgruppe stand in direktem Kontakt zu Geheimdiensten. Die hätte man gar nicht abhören müssen, um das herauszufinden, wenn man mit den Leuten ja ohnehin redet.

Andererseits, wenn gesagt wurde, die Amis haben uns Bescheid gesagt, da ist diese Gruppe, das haben sie aufgrund ihrer Kommunikationsüberwachung herausgefunden. Da muss ich mich dann doch fragen: Wie? Moment mal, die überwachen unsere Kommunikation auf eine Art und Weise, dass ich mich frage, was für ein Weltbild oder mentale Unbeweglichkeit da herrscht, wenn die Kanzlerin sagt, sie sei nicht abgehört worden. Oder, ich bin versucht zu sagen idiotisch, wie Bundespräsident Joachim Gauck sich hinstellt und sagt, die NSA, das ist doch gar nicht schlimm, weil die keine Akte über mich führen. Dass man in einem Zeitalter von durchsuchbaren Datenbanken keine Akten mehr anlegen muss, dass es keine Aktenschränke mehr gibt und dass die Daten, die die NSA speichert, würde man sie ausdrucken, ein mehrere Staaten großes Aktenarchiv benötigen würde – daran scheint er nicht zu denken. Natürlich gibt’s da keine Akten.

Und was hat Sie in der vergangenen Legislaturperiode am meisten gefreut?

Auch wieder relativ aktuell: die steuerliche Gleichsetzung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Dass da gesagt wurde, bloß weil zwei Menschen, die dauerhaft zusammenleben und sich lieben und das gleiche Geschlecht haben, es noch lange nicht heißt, man darf sie steuerlich diskriminieren. Da sage ich, ja, das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, nämlich die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen und andersgeschlechtlichen Beziehungen.
Welche Projekte werden Sie für Leipzig in Angriff nehmen, wenn Sie gewählt werden?

Für Leipzig direkt Bundespolitik. Ganz klar: Was für Leipzig wichtig ist an bundespolitischen Maßnahmen, ist für mich erst einmal die Sozialpolitik. Leipzig ist immer noch die Armutshauptstadt Deutschlands. Jeder Cent, den wir mehr in Sozialpolitik stecken können, also in eine Erhöhung der Grundsicherung, eine Erhöhung des Kindergeldes, in arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen et cetera, ist Geld, das hier in Leipzig direkt sofort ankommt und das Leben vieler Menschen deutlich verbessern wird. Und das, glaube ich, mehr als in anderen Städten.

Warum sollten die Leipziger Sie wählen?

Zunächst mal, ich persönlich muss gar nicht unbedingt in den Bundestag. Das Wichtigste ist, dass die Piraten in den Bundestag kommen. Dass eine neue Art und Weise, Politik zu denken, in den Bundestag einzieht, dass wir raus kommen aus diesen verkrusteten Strukturen, dass immer nur in Fraktionen abgestimmt wird, dass wortgleiche Anträge von der Linken weniger Stimmen bekommen, als wenn sie von den Grünen kommen. Da gab es beim EEG-Gesetz einen Antrag von der Linken und von den Grünen und ich glaube, da war ein Halbsatz anders gestellt, also eigentlich waren es wortgleiche Anträge. Der von den Grünen hat die Stimmen von der SPD mitbekommen, der von der Linken nicht. Warum? Das ist doch ein guter Antrag gewesen. Wenn man aus diesem Fraktionsdenken herauskommen würde, hätten diese politischen Ideen auch mal eine Chance, umgesetzt zu werden, fraktionsübergreifend.

Und die Piraten sind wichtig für den Bundestag, weil wir die sind, die die Fragen stellen: “Sind Sie sicher, dass Sie nichts gewusst haben?” Und wenn wir mit im Bundestag sitzen, ist es für uns wesentlich leichter, solche Anfragen zu stellen, die wir an die Bundesregierung haben, die wir an den Bundestag selber haben, als aus der außerparlamentarischen Opposition heraus.

Was planen Sie, falls Sie den Einzug nicht schaffen?

Wenn wir den Einzug in den Bundestag nicht schaffen, ja dann werden wir politisch weiterarbeiten. In vier Jahren ist die nächste Bundestagswahl, vielleicht schaffen wir es ja dann. Wo ich in vier Jahren stehen werde und ob ich wieder antreten werde, weiß ich heute noch nicht.

Beamen Sie sich gedanklich ins Jahr 2030. Wie hat sich die Stadt verändert?

Sie wird fertiger sein. Wir erleben zurzeit einen deutlichen kulturellen Wandel, weg von dieser großteils kaputten Stadt mit wahnsinnig viel Leerstand hin zu einer Stadt, die das als Chance begriffen hat und kulturell sehr hochwertig sein wird, mit einer wahnsinnig großen Kunstszene, mit einer wahnsinnig großen Kreativszene. Ich sehe Leipzig 2030 als einen sehr großen Medienstandort und weiterhin als eines der großen Zentren der deutschen Kulturszene. Also direkt zusammen mit Köln und Berlin. Ganz besonders, was bildende Kunst angeht, ist ja hier schon sehr viel am Entstehen und da wird hoffentlich noch mehr passieren.

Wie stehen Sie zum Vorschlag, ein Großbundesland Mitteldeutschland zu schaffen?

Es kann Sinn machen, wenn man es dadurch wirklich schafft, die Verwaltung zu verschlanken. Wie ich solche Verwaltungsreformen in letzter Zeit aus Kreisreformen et cetera sehe, macht es die Verwaltung nur wirr. Von der Größe her wäre es noch nicht mal das größte Bundesland, wenn wir diese drei Länder zusammenlegen. Das ist eine Frage, mit der ich mich bisher, ehrlich gesagt, noch nicht so beschäftigt habe, aber ich kann es mir vorstellen. Ich kann mir aber vorstellen, dass es Widerstände in der Bevölkerung geben wird, die Thüringer und die Sachsen zusammenzubekommen. Wir brauchen nach Grundgesetz eine Volksabstimmung zu der Frage, die einfach keine Chance hat, dass das durchgeht. Ich habe ja stellenweise in Sachsen schon das Gefühl, dass es unterschiedliche Bundesländer sind und dass die Leute gerne weniger miteinander zu tun hätten als sie es jetzt schon haben. Verwaltungstechnisch kann es Sinn machen, aber das ist einfach nicht mehrheitsfähig.

Würden Sie Ihren Kindern den Job als Bundestagsabgeordneter empfehlen?

Aus meiner persönlichen Erfahrung ist der Job eines Bundestagsabgeordneten einer, den ich den wenigsten Leuten empfehlen würde. Das ist so ein Job, für den man getrieben sein muss. Es ist durchaus eine gewisse Art des Masochismus, Vollzeitpolitik zu machen. Die Verwaltung des Bundestags schreibt in der Arbeitsbeschreibung eines Bundestagsabgeordneten, dass es ein 60-Stunden-Job ist, der an mindestens zwei Standorten, also dem Wahlkreisbüro und in Berlin, stattfindet. Die 60 Stunden sind oft, was ich aus Unterhaltungen von Bundestagsabgeordneten weiß, deutlich untertrieben.

Da kommen dann noch die ganzen Reisezeiten, die Abwesenheit von der Familie et cetera dazu. Man muss schon sehr überzeugt sein, dass man politisch was verändern will, um überhaupt bereit zu sein, diesen Job auch anzunehmen. Und man muss auch sozial und wirtschaftlich sagen können: Hier, ich kann es mir leisten, vier Jahre aus meinem Arbeitsumfeld rauszugehen. Meine Familie ist stabil genug und in einer Phase, in der sie das verkraften kann, wenn ich nur die halbe Woche zuhause bin. Ich würde mal sagen, das ist ein Job, den nicht jeder machen kann und das hängt dann von meinen zukünftigen Kindern ab, ob ich sage ja, ist gut oder lass es lieber.

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