Ich muss mich ja mit Frau Schnickenfittich nicht verstehen. Sie hat ihre Meinung, ich meine. Sie will nicht wählen gehen, weil sie glaubt, das ändere nichts. Ich geh am nächsten Sonntag trotzdem. Auch wenn ich weiß, dass es nichts ändert. Denn eins weiß ich: Die nächsten fünf Jahre werden sie mir alle wieder die Ohren volljammern: "Ach hätte ich nur." Nur heißt der König nicht Drosselbart.

Sie werden jammern, dass sie die falsche Truppe gewählt haben (“Hätte ich das gewusst!”). Sie werden jammern, dass sie gar nicht gegangen wären (“Ändert doch eh nix!”). Sie werden jammern, dass sie ihr Kreuz bei einer Murkspartei gemacht haben (“Ich wollte es denen schon immer mal zeigen.”)

Und ich werde mit den Schultern zucken und meinen Kaffee trinken: Wer keinen Arsch in der Hose hat, hat kein Recht zum Jammern.

“Leo!”

“Is nun mal so.”

Ich halte auch Leute, die behaupten, aus lauter Protest wählen zu gehen, für rückgratlos. Sie kneifen. Sie glauben, dass eine Klabautermanntruppe im Parlament irgendetwas bewegen kann oder ein “Mit uns nicht!” irgendetwas ändert. Sie sind wie Onkel Karle, der sich bei jedem, aber auch bei jedem Familienfest daneben benimmt, erst mal die kompletten Spirituosen niederknüppelt und dann wieder alle beleidigt und denen, die ihn versuchen zu beruhigen, Dresche androht. In weniger handfesten Familien als meiner muss dann meist die Polizei geholt werden. Bei uns regeln das Maik und Matze. Die schnappen sich den Raufbold, schleppen ihn unter die Hofpumpe und hören erst auf zu pumpen, wenn Karle aufgibt. Anders kann man das nicht lösen.

Denn konstruktive Beiträge hat unser Familiensäufer noch nie geliefert. Aber das Tischtuch hat er vom Tisch gerissen, wenn wir anderen beim Reden waren. Er war immer schon auf 180, wenn er noch stocknüchtern war: “Ihr redet, und redet! Ich sag euch aber mal was …” Und dann hat er’s gesagt. Meistens ging’s dann ums Löffellangziehen, übers Knie legen oder ein paar hinter die Ohren. Und weil das Rezept bei Oma Erna nie ankam, war er zutiefst beleidigt, ging in die Küche schmollen. Und kam wieder rein, wenn er knalledun war. Dann ging’s weiter wie oben.

Wer sowas wählt, ist selber schuld. Und wer die Entscheidung immer den anderen überlässt, ist zwar meist friedlicher, ober genauso närrisch. Man kann Oma Erna wählen, wenn man will, dass sie Familienoberhaupt ist (muss aber keiner wählen: Sie ist es einfach), oder Herrn Schneider, den Mann von Tante Sibylle, der in der Bank arbeitet und weiß, “was gehauen und gestochen ist”. Er sagt am liebsten: “Von Geld habt ihr alle keine Ahnung.” oder “Da habt ihr sowieso nichts mitzureden.”Meine liebste Bäckerin hatte schon vermutet, der Kerl wäre aus Osnabrück. Ist er aber nicht. Die Ausdrucksweise hat er bei seinem Studium in Dresden drauf gekriegt. Jetzt ist er Filialleiter einer Bank, die ich hier nicht nenne, das könnte sonst peinlich werden. Und er versucht nun schon seit ein paar Jahren, Oma Erna zu entthronen. Immer wenn sie am Reden ist, macht er Ähäm und mischt sich dazwischen: “Das müssen wir aber demokratisch abstimmen”, sagt er dann gern. Er hat so seine Meinung davon, was Demokratie zu sein hat: “Hände hoch, wer derselben Meinung ist.” Funkelnde Augen, gerecktes Kinn. Wenn Onkel Karle im Raum ist, kriegt er meistens eine Stimme von ihm. Oder einen guten Rat: “Sauf nich so viel, du Bleichgesicht.”

Das war’s dann meistens. Andere Schwiegersöhne haben schneller begriffen, dass Omas Reputation was mit Erfahrung zu tun hat. Und mit unserer Achtung.

Womit ich bei der Antwort bin auf die Frage: Wen wählen? Und wenn ja: Warum? Und: Was ändert das, wo ich doch nur einer von 3 Millionen bin?

Ich wähle aus Bescheidenheit. Ich nehme mich nicht so wichtig. Ich weiß, dass meine Stimme nicht mehr wert ist als die von Karle oder Herrn Schneider. Und ich weiß auch, dass weder Karle noch Herr Schneider groß nachdenken darüber, was ihr Kreuz bewirkt, wem es hilft oder was vielleicht verändert. Ihnen sind die anderen immer egal. Aber sie glauben, sie wären etwas Besonderes. Das Volk zum Beispiel.

Das fand ich schon 1989 komisch. Aber da hatte es noch einen Sinn. Denn das galt damals den Volks-Polizisten auf der anderen Seite.

Heute ist es nur noch Eitelkeit. Und Anmaßung. Ich bin nicht das Volk. Ich bin nur der Leo. Ich kenne ein paar Leute, die ich gern mag. Und eine Menge, mit denen ich nie ein Bier trinken würde.

“Und ich?”

“Dich würde ich immer wählen. Wenn du auf dem Wahlzettel stehen würdest, Schnuckiputz …”

“Niemals!”

Sie sehen: Viel Auswahl hab ich nicht. Deswegen versuche ich zumindest rauszukriegen, ob die Leute auf dem Zettel so ein bisschen vertrauenswürdig sind. So wie Oma Erna. Das ist mein Maßstab. Da weiß ich zumindest, dass ich dann, wenn es Ärger gibt, auch mal in sein (oder ihr) Wahlkreisbüro marschieren kann. Und dass der Bursche (oder das Frollein) vielleicht ein schlechtes Gewissen hat.

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Was ich nicht mehr hören kann. Oder: Warum Ihr diesmal alleine wählen dürft
Und wieder sind fünf Jahre rum …

Was natürlich in den letzten Jahren dafür gesorgt hat, dass eine ganze Menge Leute für ein Kreuz von mir nicht mehr in Frage kommen. Es gibt keine Entscheidungen, die man mittragen muss, wenn man vorher was anderes gesagt hat. Parteidisziplin ist eine faule Ausrede. Da erwarte ich wenigstens eine Erklärung. Und ein schlechtes Gewissen. Wer nicht mal das hat, ist für mich nicht wählbar.

Womit Sie eigentlich fast alles wissen, was ich so denke, wenn ich sonntags losgehe. Ich bin wie der Vogel in der Fabel, der bis ans Ende des Universums fliegt und dort an einem Berg seinen Schnabel wetzt. Und der das Äonen lang tut. Immer wieder. Bis der Berg kleingewetzt ist.

Werde ich zwar nicht schaffen. Aber ich bin ja nicht das Volk.

Ich bin der Leo.

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