Nach 102 Zweitligaspielen für den VfB Leipzig hätte sich Markus Wulftange mit Sicherheit einen leichteren Anschlussjob beschaffen können. Doch der bodenständige Fußballer war schon früher anders und hatte nach der Karriere Besseres zu tun: Seit mittlerweile zwölf Jahren hilft der Ex-Profi krebskranken Kindern und Jugendlichen in ihrem Kampf gegen den Krebs. Ein Gespräch über Exotik im Profifußball, den täglichen Kampf gegen den Krebs und die soziale Ader von Fußballprofis.

Herr Wulftange, kennen Sie Marcus Brodkorb?
Sie meinen den Fußballer beim 1. FC Lok? Natürlich, ich bin mit meinen Kindern immer mal im Stadion, daher kenne ich seinen Namen. Warum?

Nun, Brodkorb wurde von den Fans in Probstheida jahrelang unterschätzt, obwohl er reichlich fußballerische Fähigkeiten hat.
Ach, Sie spielen auf meine Zeit beim VfB an? Ich fühlte mich nicht unterschätzt. Vor allem in den ersten drei Jahren habe ich fast immer gespielt. In vier Jahren habe ich 102 Zweitligaspiele gemacht, ich hatte schon die Akzeptanz in der Mannschaft und meiner Meinung nach auch bei den Fans. Mir war aber auch klar, dass ich aufgrund meines Talents und der im Gegensatz zu den VfB-Kickern nicht vorhandenen Schulung, im Spiel und im Training immer Gas geben musste. Ich habe das Maximum rausgeholt und hatte nie das Gefühl, nicht genügend Anerkennung bekommen zu haben. Ich habe nie ein Tor geschossen, ein paar vorbereitet, aber ich war eben ein durchschnittlicher Zweitligaspieler. So bin ich behandelt worden und das war auch ok.

Und Sie waren auch ein “Exot”, denn Sie sollen stets mit dem Fahrrad zum Training gekommen sein.
Wobei ich mich bis heute immer noch frage, was daran exotisch war. Ich wohnte fünf Minuten vom Stadion entfernt. Da war ich mit dem Fahrrad schneller als mit dem Auto. Für mich war das normal. Warum soll ich da Auto fahren?

Aber es gab zu der Zeit genug Spieler, die trotz der geringen Entfernung mit dem Auto gekommen sind, nur um ihr großes Gefährt vorzuführen.
Aber ich hatte kein großes Auto und darauf lege ich auch heute noch keinen Wert. Das ist ein Statussymbol, was ich nicht brauche.

Fahren Sie heute noch mit dem Fahrrad auf Arbeit?
Wenn es sich anbietet und es trocken ist. Ich wohne auch nah an der Kinderklinik, da passt das. Manchmal aber auch mit dem Dienstauto.

Sie sind 1994 vom SC Brück in Köln nach Leipzig gewechselt und nach dem Zweitliga-Abstieg 1998 nach einem Intermezzo in Osnabrück nach Leipzig zurückgekehrt. Wieso das?
Fakt ist, ich habe mich hier von Anfang an super, super wohl gefühlt. Ich habe hier meine Heimat gefunden und in meiner Geburtsstadt Osnabrück wollte ich nicht bleiben, in die alten Strukturen wollte ich nicht zurück. Osnabrück ist fußballerisch eine tolle Adresse, an der Bremer Brücke zu spielen macht Spaß, aber ich habe hier noch studiert, habe den Kontakt hierher gehalten und meine Familie war noch hier.
Stichwort Studium: Dass ein Zweitliga-Fußballer studiert, war damals wie heute ungewöhnlich. Waren Sie beim VfB der einzige?
Ich glaube schon. Mir war klar, dass ich mich neben dem Fußball noch mit etwas anderem beschäftigen möchte. Den Kopf brauchte ich nicht nur für den Kopfball, sondern auch für die geistige Entwicklung. In Köln hatte ich bereits Sport studiert und 1995 mit dem Diplom abgeschlossen, aber mir fehlte einfach geistige Beschäftigung. Ich habe dann geschaut, was mich interessiert, mich für Sozialwesen entschieden, jedoch gar nicht mit der Intention abzuschließen. Aber dann hatte ich das Vordiplom und dann wollte ich es auch zu Ende machen. Das war die Bedingung in Osnabrück. Im Nachgang muss ich aber auch sagen, dass mich das dort den Stammplatz gekostet hat. Ich habe Vollzeit gearbeitet und Vollzeit Fußball gespielt. Das war am Ende wohl doch zuviel des Guten. Als ich 1996 in Leipzig anfing, spielte Fußball die wichtigste Rolle, da habe ich mit gebremstem Schaum studiert. Das hat sich dann in Osnabrück umgekehrt.

Sie studierten zuerst Sport in Köln, dann Sozialwesen in Leipzig. Der gemeine Fußballprofi ist jetzt nicht gerade für seine soziale Ader bekannt…
Ich bin dahingehend familiär vorbelastet. Mein Vater war Sozialarbeiter, meine beiden Schwestern haben das studiert und ich hatte auch Interesse. Es war aber natürlich auch der Studiengang bei dem man sich die Zeit besser einteilen konnte, nicht so verschult wie die Naturwissenschaften. Die Verbindung Sport und Sozialwesen hat sich für mich als Perspektive interessant angehört. Nach meiner Rückkehr aus Osnabrück habe ich dann bei Borna in der 4. Liga angeheuert, mein Studium abgeschlossen, die Station hier in der Kinderklinik kennen gelernt und darüber eine Diplomarbeit mit dem Titel “Bewegungsorientierte Rehabilitation für krebskranke Kinder und Jugendliche” geschrieben. Ich habe quasi das Konzept für meine spätere Stelle geschrieben. Heute heißt es offiziell Sporttherapie im onkologischen Bereich.

Wie sieht Ihr Arbeitstag aus?
Ich habe eine Vollzeitstelle, gehe jeden Tag auf die Station und schaue, welche Kinder in der Lage sind, das Bett zu verlassen, das Zimmer zu verlassen, aktiv zu sein. Mit denen beschäftige ich mich dann sportpädagogisch, sporttherapeutisch. Da schaue ich, wo die Interessen liegen, was ihnen Spaß macht, welche Bewegungen ihnen Freude bereiten und wie ich das mit Übungen ergänzen kann, so dass es auch einen Effekt hat und sie gefördert werden, sie die Krankheit so besser handeln können. Da geht es um Ablenkung, Stärkung der Muskulatur und des Selbstbewusstseins. Einfach raus aus dem Bett, aus dieser passiven Haltung “Alles ist schlecht!” hin zu einem “Ich packe es an! Ich bin aktiv.”

Gibt es Untersuchungen zu den medizinischen Effekten?
Man muss natürlich klar sagen, dass es keine harten empirischen Fakten gibt, dass Sport einen Einfluss auf den Behandlungserfolg hat. Aber wir erleben den subjektiven Erfolg, nämlich dass das Kind über den Sport und die Bewegung deutlich aktiver in der Behandlung wird, lieber ins Krankenhaus geht, weil es weiß, dass es auch ein paar Dinge tun kann, die ihm Spaß machen. Wir können zusammen mit den Psychologen auch dafür sorgen, dass die Kinder weniger Angst haben und selbstbewusster sind. Es gibt so gesehen also einen deutlichen Hinweis, dass es förderlich ist.

Wie kann man sich diese Übungen vorstellen? Sind das Spiele, Gymnastik oder Koordinationsübungen?
Von jedem etwas, aber immer mit einem spielerischen Hintergrund. Ich verpacke die Übungen oftmals in Spiele, die die Kinder gar nicht mehr als Therapie erleben, sondern als “Sport mit Markus”. Es ist immer sehr kindgemäß: Wo sind die Interessen? Wo ist die Freude? Danach wird die Übung konzipiert.

Bei aller Freude mit den Kindern und Behandlungserfolg, Abschied nehmen ist leider auch ein Teil der Arbeit.
Ja, wir haben hier alles. Wir haben viele gute Ergebnisse, viele Kinder werden wieder gesund. Es gibt aber auch Kinder, die nicht wieder gesund werden und leider gehen müssen. Diesen Prozess begleiten wir so intensiv wie gewünscht, nicht alle Eltern lassen uns nah ran. Aber wir sind da zur Unterstützung und nutzen unsere oftmals intensive Beziehung zum Kind und zu den Eltern, um sie auch in dieser schwierigen Phase zu begleiten.

Kann man da insgesamt vom Spaß bei der Arbeit reden?
Absolut. Mir macht die Arbeit Spaß, es ist oftmals sehr, sehr lustig. Ich habe heute schon wieder viel gelacht. Es gibt viel Freudvolles, aber es bleibt trotzdem sehr intensiv und mit traurigen Momenten.

Wie gehen Sie damit persönlich um?
Das hat sich gewandelt. Ich habe das lange verdrängt und gar nicht an mich rangelassen. Das ist mir irgendwann auf die Füße gefallen. Das habe ich aber durch psychotherapeutische Begleitung in den Griff bekommen. Ich setze mich nun stärker mit den Dingen, die hier passieren, auseinander. Das hilft mir, das alles anzugehen und zu verarbeiten und auch fit wieder hier sein zu können. Dies war auch für mich das schwierigste Lernfeld. Das kann man nicht theoretisch lernen. Man kann sich im Vorfeld vorbereiten, aber in der Praxis sieht das oft anders aus. Dann sind die oftmals normalen Muster schnell aktiv. Wir behandeln hier alle Formen von Krebs im Alter von 0 bis 18 Jahren. Es gibt über 100 Krebsarten, wir haben hier Knochentumore, Hirntumore etc. und es betrifft tatsächlich zum Teil auch schon Säuglinge. Das Feld der Patienten ist somit auch weit gestreut, auch was die Prognosen angeht.
Sie engagieren sich im Verein “Elternhilfe für krebskranke Kinder Leipzig”. Welche Rolle spielt der Verein bei Ihrer Arbeit?
Wenn es den Verein und die Menschen, die den Verein mit Spenden und verschiedensten Aktivitäten unterstützen, nicht gäbe, dann würde es meine Stelle auf der Station nicht geben. Es würde auch keine Psychologen geben. Es würde keine Musiktherapie, keine Kunsttherapie geben. Das sind die Dinge, die die Elternhilfe seit inzwischen 12 Jahren finanziert. Psychosoziale Betreuung, wie wir diesen Bereich nennen, wird von den Krankenkassen nicht finanziert, ist also drittmittelbedürftig. Eltern sind Mitglied, andere spenden und/oder helfen mit eigener Tatkraft mit, indem sie beispielsweise bei einem Benefizturnier Kuchen backen oder sich an die Tombola stellen. Das Spendenaufkommen ist zum Glück in den letzten Jahren stabil. Die Förderer und Unterstützer schätzen unsere Transparenz und unsere Arbeit.

Wie viel Geld braucht der Verein, um die Arbeit in diesem Maße zu unterstützen?
Wir hatten jetzt gerade Mitgliederversammlung, wir sind aktuell bei einem Etat von 300.000 Euro, der jedes Jahr gestemmt werden muss. Das ist schon eine ganze Menge.

Ihre guten Fußballkontakte helfen regelmäßig bei der Einwerbung…
Genau. Das jährliche Benefizturnier ist eine Möglichkeit, bei der ich über meine ehemaligen Kollegen noch einmal den Fuß in den Fußballbereich rein bekomme. Viele Kollegen sagen sofort zu. Die, die nicht kommen, schicken oft ein Trikot. Marco Rose hat dieses Jahr eins geschickt, Clemens Fritz, der DFB hat jetzt eins geschickt. Es gibt viele, die helfen.

Gibt es Fußballer, die sich ganz besonders engagieren und interessieren?
Ich glaube, der interessierteste und wichtigste ist Thorsten Kracht. Als ich ihn vor elf Jahren gefragt habe, hat er sofort zugesagt. Er hat sich die Station schon mehrmals angesehen, war schon mal bei der Mitgliederversammlung. Mit der GRK hat er uns mittlerweile auch schon sehr unterstützt.

Kommt es oft vor, dass Sie bei der Arbeit auf Ihre Karriere angesprochen werden?
Eigentlich gar nicht so oft. Aber was passiert: Wenn die Eltern die Mitarbeiter der Namen mal googeln, dann kriegen sie die Information und sprechen mich mal an. Aber die Karriere ist schon lange her.

Neben dem Benefizturnier stellen Sie auch jedes Jahr ein Konzert auf die Beine.
Das macht auch immer irre viel Spaß. Mittlerweile findet das Konzert im Gewandhaus statt. Es ist ein wichtiger Baustein für uns geworden. Die Kulturschiene ist wieder ein ganz anderer Bereich. Es war für mich am Anfang sehr, sehr beeindruckend. Inzwischen höre ich ganz gerne klassische Musik. Das ist ein Musikbereich, den ich mir nach und nach erobert habe.

Wo bleibt mittlerweile der Fußball?
Inzwischen kicke ich wieder regelmäßig mit meinen alten Jungs, mit Torsten Jülich, Frank Räbsch, Ronny Kujat, Jens Bruhnke. Zudem habe ich eine Elterntruppe, mit der ich kicke. So versuche ich, dem Fußball wieder treu zu werden. Ich hatte eine Pause, in der ich drei bis vier Jahre gar nichts mehr gemacht habe. Jetzt habe ich wieder Lust und halte mir das frei, auch wenn mir danach die Knochen immer wehtun.

Welche Mannschaft ist Ihr Favorit bei der Euro 2012?
Ich drücke der deutschen Mannschaft die Daumen, die haben mich in der Qualifikation sehr begeistert. Vom Potenzial her traue ich ihnen den Titel zu. Doch wenn ich das Spiel Italien gegen Spanien sehe, dann müssen wir unbedingt eine Schippe drauflegen. Es ist ein offenes Turnier, bei dem es auch eine Überraschung geben kann.

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