Zwei Drittel haben wir geschafft, als wir in guter Verfassung das Zwenkauer Rathaus verlassen. Doch das letzte Drittel hat es in sich: Kieswege sind nach 25 Kilometern kein Spaß, die dunkle Neue Harth auch nicht. Eine letzte Rast gibt uns Kraft, doch trotzdem will niemand unsere fetten Oberschenkel für uns durch die Gegend tragen. Die Gespräche sind auf ein Minimum reduziert.

Kilometer 25: Das erste und einzige Mal, dass es Probleme mit der Orientierung gibt. Im Begleitheft sind alle Abzweige sehr genau beschrieben, Straßenmarkierungen leiten den Wanderern zusätzlich den Weg. Doch hier, zurück am Zwenkauer See, zweifeln wir gemeinsam mit ein paar anderen Wanderern, die uns auf die “Spur gekommen sind”, ob wir wirklich richtig sind. Schon seit 1.000 Metern haben wir keine Markierung mehr gesehen und eigentlich sollten wir hinunter zum neugebauten See-Rundweg. Unruhe bricht sich Bahn. Sich nachts zu verlaufen ist kein Spaß, nach 25 Kilometern hat es sogar eine gewisse Tragik. Doch alles halb so wild: Die Feuerwehr Wachau steht plötzlich vor uns. “Hier entlang bitte.” Über Serpentinen geht es hinunter an den See, von dem wir wieder nichts haben.

Dafür haben wir uns kurz zuvor ein wenig Zwenkau angeschaut. Vom Rathaus ging es Richtung Bahnhof über menschenverlassene Straßen. In den wenigsten Häusern brannte noch Licht, nur unsere Füße machten Lärm in den Straßen, denn zwar waren wir noch voller Zuversicht und guter Laune, aber nach sechs Stunden versiegte langsam auch die Quelle der Gesprächsthemen. Gerade als jeder so mit sich selbst beschäftigt war, werden wir geweckt. Der Wachhund eines Baustoffhandels hatte sich uns genau ausgeguckt und schlug an, als wir zu nah am Zaun entlang wanderten. Guten Morgen, im doppelten Sinne, Mitternacht war vorbei. Halb eins verließen wir den Gewerbepark und waren erneut am See.
Kilometer 30: Die letzte Rast vor dem Zieleinlauf. Mittlerweile ist es 1:45 Uhr. Im Jugendclub Gaschwitz ist mächtig was los, die Räume sind voll, die Töpfe auch. Endlich gibt es wieder reichlich zu essen. Spirelli mit Wurstgulasch, eine Superidee. Seitdem uns die Feuerwehr zum See-Rundweg entlassen hat, sind die Beine immer schwerer geworden, vor allem zog sich der Weg bis zum nächsten Abschnitt. Der neue Weg war mit Kies aufgeschüttet, die Füße hatten keinen echten Widerstand, es kostete doppelte Kraft.

Lippendorf war hinter uns, als wir die Südzunge des Zwenkauer Sees umkurvten. Dass wir die Taschenlampen der anderen Wanderer hinter und vor uns sehen konnten, machte die Sache nicht einfacher. Es machte den Abschnitt länger, die zwei Kilometer Rundweg kamen uns wie fünf vor. In der Dunkelheit lässt es sich sowieso schwerer einschätzen, wie weit man nun schon gelaufen war. Gespräche führten wir nun vornehmlich über Ober- und Unterschenkel, Füße und Blasen. Ein rot blinkender Verkehrsleitkegel war für uns das Signal, den Kiesweg zu verlassen und die Neue Harth zu durchqueren. Von der Feuerwehr Wachau gab es noch ein letztes Mal einen Becher Tee. Das Wetter hat bis hierhin durchgehalten, zwar zog Petrus die Vorhänge nach Einbruch der Dunkelheit schnell zu, aber es regnete nicht und spürbar kälter war es auch nicht geworden. Die Fleece-Jacken hielten uns warm.

In der Neuen Harth war es das erste Mal stockfinster. Nur die Taschenlampe beziehungsweise Kopflampe zauberte ein wenig Licht auf den Waldweg. Ein Schwarm Glühwürmchen verfolgte uns, der allerdings nur ein Schwarm Wanderer war, der ebenfalls die Taschenlampe angeknipst hat. Das ist sicher ein schöner Wald hier, aber davon sahen wir zu wenig, hatten auch mehr mit uns zu tun. Ob es hier Räuber gibt? Eigentlich wäre so ein gezeichneter Wanderer ein gutes Opfer, zumal im Dunklen. Von Überfällen hörten wir nichts, im Wald hätte man mit Sicherheit die Geräusche vernehmen können, denn nur im Fernen sorgten die vorbeibrausenden Autos auf der A38 für Radau. Via Fußgängerbrücke überquerten wir die Autobahn, auf der sich faule Autofahrer mit Tempomat Richtung Ziel vorarbeiteten. Wir kämpften uns dagegen durch das verlassene Gaschwitz bis zum Jugendclub. Hier treffen wir auf eine Gruppe Studenten, die wir in Zitzschen das letzte Mal gesehen hatten. Sie klagen über dieselben Probleme: Füße, Oberschenkel, Rücken. Unser gemeinsamer Trost: Nur noch 4,1 Kilometer.

Kilometer 35: Das große Fest auf dem Markkleeberger Rathausplatz macht Pause. Neben einem Bierwagen sitzen noch ein paar Menschen beisammen. Offenbar philosophieren sie über die geschaffte Wanderung. 3:10 Uhr entern auch wir die Grundschule vis-a-vis zum Rathaus, wo vor neuneinhalb Stunden alles begann. Hier holte ich unsere Startkarten ab, die an jeder Station gestempelt wurden. Nun tauschen wir sie gegen eine Urkunde.

Die letzten Kilometer waren noch einmal hart. Am Pleißendamm entlang hatten wir unsere Wanderbemühungen auf das Tempo eines Marienkäfers zurückgeschraubt. Gespräche waren nun eine regelrechte Sensation. Doch stellte ich fest, dass nur das monotone Laufen problematisch ist. Joggen ging sogar noch trotz Oberschenkel, die eine gefühlte Größe angenommen haben, dass sie sich Obelix zum Abendbrot wünschen würde. Die zwei Wanderer 200 Meter vor uns sind auch nicht mehr taufrisch, laufen, als hätten sie in Gaschwitz lieber ein neues Hüftgelenk bevorzugt.

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Die Kilometer auf dem Pleißendamm ziehen sich wie Kaugummi. Wann geht es denn nun endlich nach links auf die Agra? Noch einmal kommen wir am Weißen Haus vorbei, die meisten derer, mit denen wir hier vorhin lang gelaufen sind, dürfte schon im Bett liegen. Wollten wir ja auch. “Ach, sie kommen ja doch noch!”, ruft uns die Dame in der Grundschule verwundert entgegen als wir das Zimmer betreten. 0:30 Uhr war der erste Wanderer schon wieder zurück. Mit der Urkunde in der Hand setzen wir uns erstmal für ein paar Minuten und stellen die Frage, die uns auf den letzten zehn Kilometern beschäftigt hat: Wer läuft eigentlich 104 Kilometer? “Dieses Jahr machen das 200 Mann und letztes Jahr sind die meisten auch angekommen”, so die Dame, die den gesamten Abend auf Wanderer gewartet hat und uns mit ihren Erfahrungen verblüfft. “Letztes Jahr habe ich mich sogar vor einem Wanderer verbeugt. Ich hatte ihn nach seinem Personalausweis gefragt, als er nach 20 Stunden und 104 Kilometern wieder hier ankam: Er war 84!” Es treibt uns fast die Tränen in die Augen: Heißt das, wir müssen 84 werden, um die 104 Kilometer zu schaffen?

Für uns gibt es noch einen kleinen Nachschlag: Aus Parkplatznot haben wir das Auto weit entfernt parken müssen. Nach 35 Kilometern durchs Neuseenland ist jeder Schritt auf den 800 Metern bis zum Auto urkundenverdächtig. Im Auto endet für uns die Wanderung, die gut organisiert war und Lust auf 42 Kilometer im nächsten Jahr macht. Aua!

(Ende)

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