Morgens halb sieben ist nicht die richtige Zeit, philosophische Fragen zu stellen. Schon gar nicht während einer (7-Seen-)Wanderung. Marko Hofmann hat es auf dem Weg nach Thierbach trotzdem gemacht. Auch um sich vom drögen Weg abzulenken. Wieso wandern eigentlich Menschen 55 Kilometer durch die Nacht und liegen nicht in ihren Betten?

Es ist halb 7, als ich das Mobiltelefon wieder einschalte. Kurz vor 24 Uhr habe ich es ausgestellt, um es zu schonen. Weiß ja niemand, was noch kommt. Ein benutzbarer Handyakku kann bei Kilometer 40 wertvoll sein. Doch jetzt, halb 7, sieben Kilometer vor dem Ziel, kann ich es wagen. Wieder leuchten unzählige Zeichen auf dem Display, WhatsApp, Quizduell, Facebook, Eil-News und E-Mails. Ein schneller Blick über den aktuellen Nachrichtenstand: Wichtiges ist nicht dabei, aber eine interessante Frage eines Freundes, der über Glympse verfolgt hat, wie meine Wandergruppe durch die Nacht gelaufen ist: “Warum tut ihr euch das eigentlich an?”

Ich versuche, meine zwei Begleiter zu interviewen. Nach 48 Kilometer gibt es leichtere Aufgaben, als gequälte Gesichter in Sinnfragen zu verwickeln. Den Aufstieg zur Halde Trages kenne ich, letztes Jahr haben wir uns hier hochgequält, weil wir glaubten, 228 Meter Höhe schafften wir dann auch noch. Ein Freund musste abreißen lassen, quälte sich den letzten Abschnitt auf der 55-Kilometer-Strecke mit Blasen und Hüftschmerzen über den Berg. Diesmal hält er Schritt, starrt wie ich auf den Boden – seit Kilometern. Anders erträgt man die Müdigkeit und den Weg nicht.
Dümmer als drei Meter Feldweg kann wirklich niemand sein. Unseren dritten Wandersmann haben wir vorher gewarnt: Das wird ein harter Schlussspurt. Metallica lenkt ihn ab, von Hüftschmerzen, Blasen an der Hacke und Nackenproblemen, auch von Müdigkeit. Ja, warum machen wir das eigentlich? “Weil es ein geiles Gefühl ist, im Ziel anzukommen”, antwortet einer. Aber ein Ziel gibt es auch nach zehn Kilometer, nach 23 oder 35. Warum muss es wieder die Nacht-Extrem-Tour sein? Warum laufen wir abends 18 Uhr los, diesmal bei 10 Grad Celsius und bewölktem Himmel, walzen bei 5 Grad nachts um 3 Uhr mit Handschuhen und Mütze durch dunkle Wälder und verlassene Orte anstatt im Bett zu liegen? Wieso?

“Für mich geht es darum, die eigenen Grenzen zu erfahren”, stammelt unser Freund, nachdem er die Stöpsel aus dem Ohr genommen hat. Letztes Jahr war für ihn nach knapp der Hälfte Schluss. Diesmal hält er mit, hat sich mit zwei 25-Kilometer-Wanderungen vorbereitet. Die Wanderung war und ist lang. Zwölfeinhalb Stunden sind wir schon wieder unterwegs. Die Zeit verging erst gar nicht, zum Schluss wie im Flug. Zu oft ist bin ich schon den Rundweg um den Cospudener See entlanggelaufen, wieder hat sich bei Einbruch der Dunkelheit der Weg um den Zwenkauer See ins förmlich Unendliche gezogen. Schon hier zwickten Kniekehle und Knöchel. Das Waldgebiet Neue Harth war wie immer nachts um 1:00 Uhr zappenduster. Erst nach Gaschwitz, ab Kilometer 31 wurde es aufregender.
Hier begannen letztes Jahr die Leiden. Eine Wanderung durch die finstere Nacht, niemand auf der Straße zwischen Großdeuben und Böhlen außer ein paar versprengte Wanderer. Keine Autos, keine Fahrradfahrer, keine normalen Menschen. Unser jüngstes Mitglied hat es dieses Jahr gerade bis Gaschwitz geschafft. Als 14-Jähriger ist das respektabel. Als ich ihm im Sommer von der 7-Seen-Wanderung erzählt habe, hatte er noch getönt, dass “55 Kilometer zu laufen doch kein Problem sei.” Als wir vor der Wanderung unsere Autos an der Strecke verteilen und uns immer weiter von Markkleeberg entfernen, in Thierbach parken, wollte er das nie gesagt haben. 1:45 Uhr fällt er seinen Eltern erschöpft in die Arme. Für die Beine war es genug. Auf dem Nachhauseweg wird er sich im Auto oft genug gefragt haben: Warum machen die das eigentlich?

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Teil 1 Teil 2 Teil 3

Ich frage mich: Sind 14-Jährige früher laufstärker gewesen? Ist die Extrem-Wanderung, nur empfohlen für Durchtrainierte, nicht eigentlich eine Flucht? Eine Flucht aus dem Alltag, ins Abenteuer, weil man mal wieder etwas ohne mediale Überreizung erleben will, Primärerfahrungen viel zu selten geworden sind. Wenn ich Freunden von der 55-Kilometer-Tour erzähle, gibt es zwei mögliche Reaktionen: Die Ich-Könnte-Das-Nicht-Reaktion und die Ich-Wünschte-Ich-Könnte-Das-Reaktion. Menschen laufen Marathon, um an ihre Grenzen zu gelangen. Mein Marathon wird irgendwann die 104-Kilometer-Strecke sein. Heute reicht mir noch mal die kürzere Strecke. Morgens Viertel neun erreichen wir wieder das Ziel. Aufgeben war nie ein Thema. Der Wille zu groß. Ging es am Ende darum, sich selbst zu beweisen, wie fit man eigentlich noch ist? Ging es um Selbstbestätigung? “He, ich kann’s noch”?

Die Puddingsuppe ist schon alle, obwohl zuvor groß angekündigt worden. Ein Wermutstropfen. Immerhin gibt es reichlich selbst gebackenen Kuchen. Wohlschmeckendes Beiwerk bei der Diskussion, warum wir das nun eigentlich machen. Eine Diskussion, die neu entfacht als wir nach 20 Minuten versuchen, aufzustehen und zu laufen. Kein Bein lässt sich mehr durchstrecken, beim Kuppeln im Auto ist die linke Wade jedes Mal kurz vor dem Verkrampfen. Den verlorenen Schlaf holen wir nicht mehr auf. Warum machen wir das eigentlich?

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