Die Alarmglocken schrillen. 160 Lehrstellen im Leipziger Handwerk sind noch unbesetzt. Und das, obwohl noch immer einige hundert junge Leute ohne Ausbildungsstelle sind. Doch was nicht passt, fügt auch niemand mit Gewalt zusammen. "Es nützt keinem, wenn die jungen Leute ihre Lehre schmeißen, wenn sie merken, dass der gewählte Beruf überhaupt nicht zu ihnen passt", sagt Ralf Scheler, Präsident der Handwerkskammer zu Leipzig.

Dabei tut die Handwerkskammer schon wesentlich mehr für ihren Nachwuchs als die meisten anderen Branchen. Im Bildungs- und Technologiezentrum Borsdorf (BTZ) werden nun schon seit Jahren die wichtigsten Handwerke in Leipzig an Schülerinnen und Schüler aus Leipziger Mittelschulen vermittelt, die neuerdings zwar Oberschulen heißen, aber am Inhalt hat sich nichts geändert. Ein Etikettenwechsel verbessert keine Bildungschancen und macht die sächsische Schule auch nicht praxisorientierter. Und sie bringt vor allem nicht die Dinge in die Schule, die junge Leute brauchen, wenn sie später in ein Unternehmen einsteigen wollen – die so genannten sozialen Kompetenzen.

Das ist nicht nur Ordnung, Sauberkeit, Fleiß, wie es manche sächsischen Ordnungshüter in ihrer Engstirnigkeit denken. Es geht um Teamfähigkeit, Verantwortung, Zuverlässigkeit. Und – das wird wahrscheinlich auch die sächsischen Schul-Experten verblüffen – Selbstbewusstsein.

Eine Erfahrung, die nicht nur Uwe Teichert immer wieder macht, Geschäftsführer der NEL. Auch dieser Spezialist für Leuchtwerbung in Leipzig ist ein Handwerksbetrieb. Das Problem vieler Schüler, die die Schule abbrechen oder mit schlechten Schulzeugnissen versuchen, auf einem immer anspruchsvolleren Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist – auch wenn es zuerst anders wirkt – ihr schlechtes Selbstbild. Das trifft auch und gerade auf die richtigen Schulverweigerer zu, meist Kinder der 6. und 7. Klasse, die sich der Schule gänzlich verweigern und fern bleiben. Nicht wirklich, weil für sie das Abhängen in den Höfen am Brühl eine Alternative ist.

Sondern weil sie sich im Leistungsdruck der Schule nicht mehr wohl fühlen. Meist fehlen ihnen, so Anne Rauschenbach, Direktorin der Oberschule Portitz, jene familiären Instanzen, die sie stärken und die ihnen auch einmal Zuspruch geben. “Da fehlt der Vater, der ihnen einfach mal auf die Schulter klopft und sagt: Das hast du gut gemacht”, erzählt Rauschenbach. “Aber auch die Mutter ist oft nicht da oder völlig überfordert.” Das Stichwort Patchwork-Familie fällt. Doch oft sind es eher rudimentäre Familien mit völlig überforderten Eltern oder nur Elternteilen.

Die Schule, so Rauschenbach, kann diesen Kindern den Rückhalt nicht geben, den sie so dringend brauchen.

Das Handwerk könnte es, dachte sich Uwe Teichert, der auch stellvertretender Vorsitzender des Marketing-Clubs Leipzig ist. Dieser ist, so betont dessen Präsident Georg Donat gern, in den letzten zwei Jahren in eine neue Entwicklungsphase getreten, hat sich deutlich verjüngt, konzentriert sich wieder stärker auf das Thema Wirtschaftsmarketing – und sieht ein Handlungsfeld eben auch im Werben um den jungen Berufsnachwuchs.

Warum nicht die Kinder frühzeitig in die Handwerksbetriebe holen, fragte Uwe Teichert. Wo man doch nun einmal aus der Erfahrung weiß, dass gerade jene Schüler, die sich im anonymen Schulbetrieb nicht wohl fühlen, geradezu aufblühen, wenn sie tatsächlich einmal gefordert sind, mit ihnen Händen etwas zu schaffen. – Auch Anne Rauschenbach kennt den Effekt. Ihre Portitzer gehen regelmäßig für zwei Wochen ins BTZ.

“Nach einer Woche sind sie fix und fertig”, erzählt sie. “Nach zwei Wochen sind sie richtig begeistert.” In den zwei Praktikums-Wochen im BTZ durchlaufen die Schülerinnen und Schüler alle dort angebotenen Abteilungen und erleben auch einen richtigen Handwerkeralltag. Der zwar nicht länger ist als ein Schulalltag – nur müssen die Kinder eben nicht still sitzen und müssen den Lernstoff über sich ergehen lassen.

Viele Handwerksbetriebe bieten auf der Website der Handwerkskammer nicht nur ihre Lehrstellen an, sondern auch Praktikumsplätze. “Und die werden gern genommen”, sagt Ralf Scheler. Für viele junge Leute ist es die beste Gelegenheit herauszubekommen, welcher Beruf ihnen tatsächlich liegt. Das kennt auch Uwe Teichert noch aus seiner Jugendzeit – oft ist es erst der dritte, vierte Beruf, den man ausprobiert und mit dem man sich wohl fühlt.

Er engagiert sich auch im Projekt Joblinge, mit dem Jugendliche mit Vermittlungshandicaps fit gemacht werden für eine Ausbildung. Auch das hat ihn angeregt nachzudenken: Was kann man tun, um den Leipziger Jugendlichen frühzeitig den Weg in einen Handwerksbetrieb zu bahnen? Auch unter dem sozialen Aspekt.

Denn wenn Elternhäuser mit der Unterstützung der Kinder überfordert sind – warum können da nicht die Handwerker einspringen?
Die Idee wurde am Freitag, 13. September, erstmals vorgestellt. Marketingclub und Handwerkskammer haben sich zusammengetan und den “Club der Meister von morgen” aus der Taufe gehoben. Erst einmal ist es ein Pilotprojekt. Aber der Inhalt ist klar: Kleine Schülergruppen sollen dazu animiert werden, langfristig und weit vor dem Schulende den Weg in die beteiligten Handwerksbetriebe zu suchen. Dort sollen für sie nicht nur entsprechende Arbeitsplätze eingerichtet sein und die entsprechenden Werkzeuge bereit stehen – es soll auch einen verantwortlichen Betreuer geben, der sie begleitet.

Noch ist nicht ganz klar, wie das Ganze zeitlich terminiert wird. Uwe Teichert schwebte sozusagen ein fliegender Wechsel gleich nach Schulschluss zu. “Die Jugendlichen hängen eben mal nicht irgendwie ab, sondern erleben in ihrem Handwerksbetrieb, welche Erfüllung eine richtige Arbeit macht”, so Teichert.

Aber das funktioniere wohl nicht ganz mit dem üblichen Schulpensum, sagt Rauschenbach. “Unsere Oberschüler haben an manchen Tagen acht Stunden”, sagt sie. “Viel sinnvoller fände ich ganze Tage im Praktikum. Dazu würde ich auch den obligatorischen Wirtschaftstag zur Verfügung stellen, den die Schüler ja sowieso haben.”

Solche Praxistage kennt Sabine Otto schon, Inhaberin von Stempel und Druck Otto in Plagwitz. Sie kooperiert schon seit Jahren mit der Grundschule und mit der Oberschule am Adler. Sie kennt auch beide Effekte, die solche Praxisbesuche haben: Die Einen sind begeistert von der Möglichkeit, Handwerk wirklich selbst zu erleben. Und die Anderen merken, dass ihre Wunschvorstellungen doch nichts mit der Realität zu tun haben. Der Mediengestalter hat eben doch recht wenig mit Fernsehen, Radio und kichernden Auftritten vor der Kamera zu tun.

Uwe Teichert und Sabine Otto sind denn auch die beiden Projektpioniere für den “Club der Meister von morgen”. Aus symbolischem Anlass bekamen beide auch eine blaue Handwerkertasche mit Checkliste und Instrumentenkoffer überreicht. Auch Anne Rauschenbach bekam einen. Denn natürlich müssen beide Seiten das Projekt auch fachlich und materiell untermauern und die Bedingungen dafür schaffen, dass es funktioniert.

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Handwerksbetriebe, die weder einen eigenen Arbeitsplatz noch eine fachliche Betreuung zur Verfügung stellen können, sind natürlich ungeeignet. Andererseits bilden 80 Prozent der Handwerksbetriebe im Kammerbezirk auch aus, wissen also ungefähr, worum es geht. Auch wenn die Jugendlichen noch keine Lehre aufnehmen. Aber solche Praktika sind für beide Seiten ein Weg, einander frühzeitig kennenzulernen. Die jungen Leute erfahren, wie ein Handwerksbetrieb funktioniert. “Und weil die meisten Betriebe von Natur aus Familienbetriebe sind, geht es natürlich auch familiär zu”, sagt Teichert. “Das geht schon beim Brötchenholen für das gemeinsame Frühstück los. Die jungen Leute bekommen hier ein stabiles soziales Umfeld, das vielleicht die Familie nicht ersetzen kann, aber doch Manches ersetzt, was Kinder aus solchen Patchworkfamilien nie kennengelernt haben.”

Die Handwerkskammer will jetzt all jene Unternehmen, die sowieso schon fleißig die Praktikumsbörse der Kammer nutzen, gewinnen, sich auch an diesem Projekt zu beteiligen. Auch, so Ralf Scheler, weil es frühzeitig Beziehungen knüpft zwischen den Betrieben, die händeringend guten Nachwuchs suchen, und den jungen Leuten, die meist erst in diesem Praktikum merken, dass Handwerksberufe spannend und ausfüllender sein können als die für Viele frustrierende Schule.

Und genauso will die Handwerkskammer auch die 30 sowieso schon mit ihr kooperierenden Oberschulen dazu animieren, das Angebot an ihre Schülerinnen und Schüler zu vermitteln.

“Wir jedenfalls”, so Anne Rauschenbach, “machen mit.”

Die Praktikums- und Lehrstellenbörse der Handwerkskammer: www.hwk-leipzig.de/3,466,596.html

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