Knapp 40 Tänzer sind im Einsatz, Großes Ballett zu Rachmaninows Klavierkonzerten Nr. 2. und Nr. 3 vom ersten bis zum letzten Takt. Und Wassily Kandinsky lieferte für Uwe Scholz' Version des Konzerts Nr. 3, zu Beginn gezeigt, die Kostümbilder: aufgedruckt auf die Trikots, und groß als Bühnen-Prospekt sind drei seiner farbigen Punkt-Linie-Flächen-Grafiken: "Zwischenreihen", "Etagen" und "Zarter Aufstieg".

Gedrückt. Gebeugt, aufstehend in dunkle Mäntel gehüllt beginnen die Tänzer nach der Pause Teil 2, bevor die Mäntel ausgezogen und abgeworfen werden. Einfache Hemden und kurze Hosen für die Damen, für die Herren Jeans.

Lorenzo Viotti dirigiert mit dem Gewandhausorchester auch das Ballett und den an diesem Abend schwer arbeitenden Pianisten Wolfgang Manz, der an seinem Flügel im Orchestergraben sitzt. Leipzigs Opernhaus erweist sich wieder einmal als sehr “wohltemperiertes” Musikzimmer.

“Er ist ein sehr musikalischer Choreograf”, hat vor mehr als zehn Jahren der Tänzer Michael Goldhahn über Uwe Scholz gesagt, da hatte er selbst schon in Scholz’ Balletten viele große und kleine Partien in den Muskeln. Ja, man sprach und spricht von Balletten in einer Bühnenwelt vieler Tanzformen. Den Begriff Neoklassik mochte Uwe Scholz ganz und gar nicht hören wollen.

Von Scholz zu Schröder 1

Es ist eine Scholzsche Idee und Ausführung von Präzision, wie sie jetzt viele Male im Detail zu sehen sind. Da ist die Tänzer-Formation schon in der Luft, wenn die Marsch-Takte einsetzen und notengenau landen die Füße auf dem Tanzteppich. Aber dieses Element ist Mario-Schröder-Choreografie zu Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2!

Mario Schröders Leipziger Ballett zeigte mit seinem neuen Abend eine Uraufführung und eine Premiere. Denn wohl niemand des heutigen Leipziger Balletts war bei den ersten Aufführungen von Uwe Scholz Choreografien des 3. Klavierkonzerts in Leipzig im Jahr 1997 dabei. Bei der ausverkauften Repertoire-Aufführung Donnerstagabend gab es stehende Ovationen, und erfreulicherweise keine Kunstpausenkaputt-Applaudierer zwischendurch.

Tatjana Thierbach, als Choreologin jahrelang bei Uwe Scholz tätig, und der einstige Ballettsolist Christoph Böhm haben nun das Scholz-Werk mit dem heutigen international besetzten Leipziger Ballett einstudiert. Oliver Preiß ist der Solist in der Scholz-Fassung, die der Choreograf als Leipziger Neufassung Primaballerina Marina Otto gewidmet hatte.

SchülerInnen der Staatlichen Ballettschule Berlin ergänzen das Leipziger Ballett. Schön, dass solche Kooperation möglich ist. Schade dass sie nötig ist, denn die einstige Ballettschule der Oper Leipzig wurde zwar vor Jahren und trotz Protesten leichtsinnig abgeschafft, ist aber nicht vergessen.

Uwe Scholz kannte sich als gelernter Tänzer aus in der Anatomie und den tänzerischen Möglichkeiten. Akrobatische Elemente für einzelne Tänzer und Gruppen konnte er wunderbar komponieren, bis zum Auf-Händen-Tragen.

Musikalisch liefert Sergej Rachmaninow einen Ohrenschmaus. Ein russisches Sprichwort kommt in Erinnerung “Der Russe liebt die schnelle Fahrt.” Von Zeit zu Zeit tauchen simple Tonfolgen auf, wie Erkennungszeichen. Rachmaninow begann mit vier Jahren Klavier zu spielen, die Fingerübungen wurden hier zur großen Kür. Philip Glass jonglierte als Komponist mit solchen Tönen, weit nach Rachmaninow.
Scheinwerfer wie Waffen im blauen Dunst

Paul Zoller hat Bühne, Kostüme und Videos für den zweiten Teil des Abends entworfen, Michael Röger das Licht effektvoll designt, so dass sich Tänzer und Bewegungen sogar auf dem Tanzteppich spiegeln. Mario Schröders Umsetzung des 2. Rachmaninow-Konzerts beginnt in diffusem Halbdunkel mit blauem Nebeldunst, von hinten dringt ein scharfer weißer Lichtkegel wie das Auge einer Kamera über die Bühne in den Saal, bis sich optisch ein Tor schließt und ein Innenraum entsteht.

Später werden Verfolger-Scheinwerfer tatsächlich zu Verfolgern, wenn die Strahler um die Tänzer herum, auf- und niederfahren. Wie das geht bleibt ein Rätsel, wenn man weiß, was in einem konventionellen Theaterbühnen-Schnürboden fahrbar und flugfähig ist.

Rosalies Rose für Uwe Scholz

Im Foyer leuchtet eine Rose für Uwe Scholz. Rosalie, Kunstprofessorin in Karlsruhe, war als Designerin und Bühnenbildnerin immer eine große Spielerin mit Materialien, deren Überarbeitung und Umnutzung. Plastikeimer wurden Regenbogen, Schirme bildeten Baumkronen. Sie kannte und begleitete Uwe Scholz seit Jugendtagen in Hessen. In Leipzig hatte sie für ihn kinetische Elemente gebaut. Auf der Rückseite der Stellwand mit der Rose flimmern Uwe-Scholz-Szenen und Interviews. Man muss unter Kopfhörer, um ihm selbst zuzuhören und ist dann für einen Moment mit ihm und seiner Stimme allein.

Ein Flyer kann mitgenommen werden: Die Rede ist vom “immer wieder anderen und neuen Ballett-Theater.” Erwähnt wird, dass Uwe Scholz rund 80 Ballette schuf, 35 wurden in Leipzig gezeigt, darunter 16 Uraufführungen.

Musik fürs Auge

Wassiliy Kandinskys hat über “Punkt und Linie zur Fläche” theoretisiert – und hat mit seinen “Bildern einer Ausstellung” nach Modest Mussorgski das kinetische Theater gefoppt. Was barocke Bühnentechnik vorgemacht hatte, hat er modern bebildert. Heute ist es schon verwunderlich, Kandinskys definierte Motive als ungegenständlich und abstrakt zu titulieren. So vergehen mit Bildern Zeiten.

Sergej Rachmaninow spielte auf Alexander Skrjabins “Farbenklavier”, mit dem optische Eindrücke und Lichtprojektionen erzeugt werden konnten, und komponierte mit “Prometheus” 1910/11 die vermutlich erste “Lightshow der Welt”.
Von Scholz zu Schröder 2

Es ist eine schöne Programmheft-Idee, dass sich Tänzer der internationalen Compagnie zu Begriffen äußern, die bei der Arbeit besprochen worden: Balance, Zeit, Heimat. An diesem Abend, weiß man nicht genau, wo Scholz aufhörte und Schröder anfing. Da sind Schwingungen im Raum. Auch in Bildern. Bei Mario Schröder gibt es nicht den oder die Solisten, aber die Solo-Szenen im Ensemble für Tyler Galster, Kiyonobu Negishi, Laura Costa Chaud, Fang Yi Liu.

Es gibt Solo-Szenen mit vollem Orchester-Pathos und auch eine leere Bühne. Ein tänzerloses Sinnbild, simpel und stark wie einst bei Scholz, als die Tänzer ihre Schuhe an der Rampe vor dem Publikum ablegten. Tänzer formieren sich mythisch zum großen Kreis, eine Erinnerung an Dietmar Seyfferts “Frühlingsopfer”. Jenes Strawinsky-Stück machte später Uwe Scholz zum Solo voller Resignation. Klaus Geitel, Musik- und Ballett-Journalist sagte nach Scholz’ Tod: “Er war nicht mit seiner Kunst am Ende, er war mit seinem Lebenslatein am Ende.”

Mario Schröder war einst Solist bei Uwe Scholz. Er zeigte als Choreograf spätestens mit seiner Vision von Pink Floyds “The Wall” wie er sich zu seiner damaligen Zeit Tanz vorstellte. Zuerst in Gera/Altenburg, später übernommen von der Deutschen Oper Berlin.

Als er Ballettchef in Leipzig wurde, sah man seinen Arbeiten – mit Zuschau-Freude – auch seine Leipziger Schule an. Wenn vor Beginn das Saallicht gelöscht wird, kommt er schnell herein und läuft zu seinem Platz. Und wenn er im tosenden Schlussapplaus nach hinten geht, laufen die Füße akkurat und synchron zu den Kollegen nebenan.

Große Hände

Körperliche Musik ist Rachmaninows Werk in ganz anderer Art: Nichts Besonderes wohl für Profis, für freizeitmäßige Musiktheaterfreunde aber erstaunlich: dem Klavierkonzert Nr. 2 sagt man nach, es sei für große Hände geschrieben worden, die man brauchte – und wie Rachmaninow selbst sie gehabt haben soll – um die an Glockenschläge erinnernden acht Akkorde zu Beginn zu spielen. Rachmaninow soll aber in einer Aufnahme von 1929 quasi eine Version für kleinere Hände gespielt haben…

Mario Schröders Leipziger Ballett zieht wieder das Publikum an und füllt den Saal wie zu Uwe Scholz’ Zeiten. Bekommen wir denn auch noch in Leipzig eine Fassung von Schröders “The Wall” zu sehen?

Nächste Vorstellungen: 23.12., 29.12.2014

Nächste Premiere beim Leipziger Ballett: 13. Februar 2015, “Othello”

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar