Da kommt die Theatersippe Bruscon in den Saal der Gastwirtschaft „Zum Schwarzen Hirschen“, wo heute Abend das Stück „Das Rad der Geschichte“ aufgeführt werden soll. Und man verteilt Anweisungen ans Personal, denn am Ende muss die Notausgangsbeleuchtung abgeschaltet sein, nur für fünf Minuten.

Es muss so sein. Bestimmt ist ja die Moritzbastei-Veranstaltungstonne einem österreichischen Dorf-Gasthof-Tanzsaal ähnlicher, als eine professionelle Theaterbühne mit laut rauschenden Scheinwerfern irgendwo anders.

Ärgerlich ist doch – in Utzbach –  schon, dass auf den handgeschriebenen Plakaten der Name des Staatsschauspielers mit einem Buchstaben zu wenig steht, und aus dem Titel des Stücks haben sie den „Rat der Geschichte“ gemacht, wo es doch „Rad“ heißen muss. Zu spät, nicht zu ändern.

Bruscon hat, das soll man wissen, den Faust gespielt und den Mephisto, einst und anderswo. 60 Jahre ist das her, dass er Theaterwissenschaft studierte, aber nicht an einer Universität, sondern im Selbststudium. Neun Jahre hat er an seinem Stück geschrieben, und der Höhepunkt ist die absolute Finsternis. Deshalb muss das Notlicht abgeschaltet werden, für fünf Minuten.

Noch Fragen? Was lassen wir heute hier weg? Den fünften Akt? Welche Musik spielen wir zwischen den Akten: „Mozart muss nicht sein. Verdi genügt, Verdi tut’s hier auch, in Utzbach.“

Wenn das mit der Notbeleuchtung geklärt ist, wäre Zeit für die Fritatensuppe, in Kochbüchern auch als Frittatensuppe bezeichnet, in Sachsen würde man sie Rinderbrühe nennen:  „Aber nicht so fettig!“, verlangt der Mime. „Meistens kommt sie lauwarm auf den Tisch.“ Und nach der Vorstellung vielleicht ein Nachtmahl. Sonst noch Sorgen: Hoffentlich halten die Bühnenbretter, und es bricht nicht wieder jemand ein…

Halbherzigkeit ist der Tod des Theaters

„Keiner spricht mehr ordentlich sonst auf der Bühne!“, da gibt es Szeneapplaus. Und mit Frauen ist es auf der Bühne besonders schwer, und mit der eigenen Familie umso schwerer. Die Presse schreibt und schreibt unqualifiziert, aber sie schreibt nicht mal einen Verriss! Frauen sind halbherzig und Halbherzigkeit ist der Tod des Theaters, das Theater ist Dilettantismus an sich, und auch noch Verlogenheit…äh…das muss man sich besser von Prinzipal Bruscon sagen lassen. Denn damit kämpft er gegen alle Theatermacher und gegen sich selbst, und für das Theater an sich.

Traumrolle

Es war seine Wunsch-Premiere, Thomas Bernhards „Theatermacher“. Eine absonderliche und vollblütige Hass-Liebes-Erklärung eines Mimen und Prinzipals an das Theater, an die Kollegen und an das Publikum.

Bevor Friedhelm Eberle neulich 80 Jahre alt wurde, hatte er schon zur Premiere in die „Moritzbastei“ eingeladen. In Wien und Berlin gehörte der „Theatermacher“ auf die ganz großen Traditions-Bühnen, es passt zu Friedhelm Eberle, damit nun in Leipzigs Moritzbastei hinab und auf deren Bühne hinauf zu steigen. Mögen die alten Freunde des Leipziger Theaters und  der Nachwuchs zuschauen kommen und staunen.

Zwar gibt es den Striese im „Raub der Sabinerinnen“ als leidenschaftlichen Theaterdirektor immer mal wieder, und nächsten Sommer will ihm das Theater fact die Arena von Webers Hof überlassen, aber Thomas Bernhard hat 1985 in Salzburg dem Regisseur Claus Peymann und Schauspielern wie Traugott Buhre ein besonderes Geschenk gemacht. So reiste den Abend mit Peymann und Buhre auch noch bis ans Berliner Ensemble.

Und es ist ein Stück, das immer noch eine Variation verträgt, wie uns Friedhelm Eberle lehrt. Zwar gab es Theaterspaß genug und man schaut trotzdem, aus Spaß, noch mal in den alten Schauspielführer Georg Hensels, in dem unter „Meinungen“ auch noch Theaterkritiker mit ihren Ansichten mitmischen. Hensel bescheinigt dem „Theatermacher“ gar „Größenwahn und philosophische Attitüde“. Wie äußert sich das auf der Bühne: „Mit meiner Frau kann ich nicht über Schopenhauer sprechen. … Manchmal denke ich, ich bin selbst Schopenhauer!“ Peter Demetz sah bereits 1983 „von einem Barockdramatiker lawinenhafte Monologe großer Geistesmenschen!, Armin Eichholz schrieb schon 1973 über Bernhard: „…agieren und argumentieren in einer grundsätzlichen Gereiztheit… die verrät: dass der Autor nicht bloß Meister, sondern auch Gefangener seiner Mittel ist.“ Georg Hensel sieht die Personen in einer „Perfektion, die zugleich unheimlich und lächerlich ist … wie in einem kalten Fieber.“ So altmodisch und praktisch kann Theater sein.

Chef im Theater auf dem Theater

Friedhelm Eberle hat vor über zehn Jahren schon den Theater-Regisseur in den „Goldberg-Variationen“ von George Tabori gespielt, der seine Probleme hat mit den Schauspielern, die ihre Probleme haben mit dem Stück, nämlich die Schöpfungsgeschichte nachzuspielen, und mit den Gebetstafeln gibt’s Probleme, und der problematische Regie-Assistent jagt den Meister vor der ersten Vorstellung von der Bühne: denn der Sohn übernimmt das Geschehen! Matthias Hummitzsch war der plötzlich nicht mehr schweigsame Diener seines Herren, gar  ein ungehobelter Partner in diesem hinterlistig-scharfsinnigen Duell. „Immer wieder scheitern, anders scheitern, besser scheitern…“

Ja, und in „Warten auf Godot“ hat Friedhelm Eberle die Kunst des Warten-Müssens mit Berndt Stübner zum Drama ohne Handlung werden lassen. Beim „Letzten Band“, gezeigt vor wenigen Dutzend Zuschauern im Schauspielhaus-Heizungskeller, hat Eberle schon vor Jahren seine eigenen Szenenfotos besichtigt. Vermutlich hätte sich Samuel Beckett vor Freude geschüttelt! (Und Brecht auch, der „Warten auf Godot“ mit Videos aus Sibirien oder China kombinieren wollte.) Einer muss es nun noch sein, Thomas Bernhards „Theatermacher“: „Ja, den wollte ich noch machen!“, sagte Friedhelm Eberle, als er Flyer aus der Sakkotasche zog und zur Premiere einlud.

Und wenn er, wie angekündigt, nur eine szenische Lesung gemacht hätte, wäre es auch ein echter Eberle geworden. Doch es kam eine Partnerin ins Spiel, Gesine Creutzburg, mit dem Textbuch in der Hand, kaum merklich als Souffleuse und dafür stark mit Spiel und Stimme auftrumpfend als Tochter Sarah, immer wieder Kritik von Prinzipal Bruscon abkriegend.

Vier Gartenstühle, ein Tisch, Hut, Mantel, Gehstock. Hinten ein teilbarer schwarzer Vorhang. Fertig ist die Arena für dieses „Rad der Geschichte“. Es wird einem angst und bange, erfährt man nur, wer in diesem Stück alles miteinander verhandelt, eine Art politischer Welt-Gipfel auf dem Parnass oder im Himmel oder sonst wo.

An diesem Abend in Utzbach wird hinter dem Bühnenvorhang geprobt und geschimpft, bis bereits das Publikum in den Saal geströmt ist, durch das Loch im Vorhang wird es gezählt. Doch dann kommen Gewitter, Blitz und Donner, der Pfarrhof nebenan geht in Flammen auf, und der Saal ist plötzlich leer. Die Vorstellung findet nicht statt. Das Stück Thomas Bernhards ist zu Ende. Jetzt lachen sie alle mit dem einen Auge, die Träne im anderen verbergend. Auf der Bühne, und auch davor. Bravo!

Theatralische Sendung?

Mindestens drei Leipziger Schauspielintendanten, und in Oper und Gewandhaus gastierte Friedhelm Eberle ja auch, haben sich die Chance entgehen lassen, Eberle als „Theatermacher“ ihre Bühne zu geben. Nun, denn freut sich der Vierte, Lutz Hesse von der Moritzbastei.

Es sind nicht die Bretter, die die Welt bedeuten. Es sind die Menschen, die ihre Erwartungen als Vorschuss an der Kasse einzahlen und vor der Bühne Platz nehmen. Für den Theatermacher Eberle und seine Sekundantin gab es an diesem Abend lange Applaus, die hier obligatorische Blüte vom Literatur-Theater-Chef der Moritzbastei und eine ganze Reihe Blumensträuße aus dem Publikum. Dessen Alter freilich einen für die Moritzbastei bemerkenswerten Durchschnitt hatte. Wo waren am Premierenabend die jüngeren Theater-, Germanistik- und Philosophiefans, die Neugierigen, die Besessenen, die wegen eines Thomas Bernhard, eines Friedhelm Eberle oder der Schauspielkunst an sich angezogen würden?

Bestimmt hat Friedhelm Eberle noch einen anderen unerfüllten Rollenwunsch, oder es gibt Goethes „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“, die ist längst schon abgehakt und unvergesslich.

Der “Theatermacher” war am 11. und 13. Oktober als Szenische Lesung in der Moritzbastei Leipzig zu sehen.

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