Die Überschrift ist mitnichten als Imperativ zu verstehen. Der israelische Schriftsteller Amos Oz, ehemals Unteroffizier der israelischen Armee und dann seit längerem schon Friedensaktivist, meint es ernst mit der Ansprache an das Gewissen. Essayistisch und immer auch ironisch versucht Oz in seinen Gedanken und Überlegungen einen Weg zum Frieden in der Welt zu finden. Seine Welt ist Israel, das frühere Palästina, wo er 1939 geboren wurde.

Oz, Teilnehmer an den Juni- bzw. Oktoberkriegen der Jahre 1967 und 1973, entdeckte bereits als Student an der berühmten Hebräischen Universität von Jerusalem seine Vorliebe für das Schreiben aus einer personalisierten Perspektive, introspektiv sein Blick, ganz dem Kantschen Grundsatz verpflichtet: „Erkenne dich selbst!“ Später Professor für Literaturwissenschaft nahe seines Wohnortes im Negev (Israel) ist Oz bis heute ein begnadeter Schreiber und Kenner der Psyche von Mensch und Masse Mensch.

Seine Spezialität: In religiösen Kontexten, Metaphern paradox zu denken. Klar, verblüffend logisch. Bis er auf die Un-Logik des menschlichen Verhaltens stößt. Ganz im Kern ein Historiker, ein Betrachter von Entwicklungsgeschichte, der Religion und Politik, Ideologie und Gewalt auf ihre ursprünglichen Intentionen im Seelenleben von Völkern, Kollektiven und Individuen untersucht und beschreibt.

Und so erkannte er früh die Crux, das „Unglück“, wie Oz es nennt, in welches die doppelte Staatsgründung 1948 in Palästina mündete. In einen Staat Israel, einen Schutzort für die Überlebenden des Holocaust – und für das schlechte Weltgewissen. Nichts getan gegen die unfassbar kaltblütige, industrielle Vernichtung eines Volkes, keine militärischen Operationen gegen die Vernichtungslager der Nazis durchgeführt zu haben. Alles blieb bekannten und unbekannten Einzelpersonen, Helden der Rettung waren sie, überlassen.

Dann, endlich nach dem Überleben ein „Land für ein Volk ohne Land“, wie es sich Theodor Herzl als geistiger Vater eines jüdischen Staates wünschte (nur eben nicht in einem „Land ohne Volk“, wie die proisraelische Geschichtsschreibung bis heute behauptet).

Nach dem Kämpfen um die Unabhängigkeit des jungen jüdischen Staates musste und muss spätestens nach dem Sechstagekrieg 1967, der Besetzung fremder Gebiete und deren Einverleibung in Richtung israelische Regierung immer wieder die Frage gestellt werden:

Rechtfertigt erlittenes Unrecht, neues Unrecht zu begehen?

Denn es sollte laut Weltgemeinschaft Ende des 2. Weltkrieges auch ein arabischer Staat gegründet werden in Palästina, der bis heute nicht oder nur auf dem Papier existiert. Die Menschen dort vertrieben, gedemütigt an den israelischen Checkpoints, zweitklassig. Noch debattiert das israelische Parlament über ein Gesetz zur „Nation“ mit dem Primat des Hebräischen vor dem „Sonderstatus“ von Sprache und Lebensweise, den die Araber im Land ihrer Vorväter leben „dürfen“, denn es wird der Bau israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten staatlich legalisiert und offiziell gefördert, „[…] mit den Arabern als fröhliche Holzhacker und dankbare Wasserschlepper.“ (Oz, Amos. Liebe Fanatiker: Drei Plädoyers)

Die von der UNO in ihrer historischen Sitzung vom 29. November 1947 beschlossene „Zwei-Staaten-Lösung“ rückt in immer realpolitischere Ferne. Eine gleiche Berechtigung auf von der Völkergemeinschaft verteiltes Land scheint für Israelis und Palästinenser nach dem 2. Weltkrieg heute im Nahen Osten gleichberechtigt nicht (mehr) zu existieren. Wieder einmal fühlen sich Menschen fremd, ausgegrenzt und gedemütigt im eigenen Land.

Alles eine Frage der Macht?

Oz ist das Verfahrene der Situation bewusst. Beide – Israelis und Palästinenser – kämpfen doppelte Kriege im Gerechtigkeitsverständnis einerseits und Terror auf der anderen Seite. „Israel kämpft zwei Kriege gleichzeitig: Einen mehr als berechtigten Krieg für das Recht des jüdischen Volkes, ein freies Volk im eigenen Land zu sein, und einen zweiten Krieg der Unterdrückung, des Unrechts und des Raubs, dessen Ziel es ist, unserer Wohnung noch zwei, drei Zimmer hinzuzufügen, auf Kosten unserer palästinensischen Nachbarn, denen ihre Ländereien geraubt und das Recht auf Freiheit vorenthalten werden.“ (Oz, Amos. Liebe Fanatiker: Drei Plädoyers)

Aber auch die Andersdenkenden („Linke“ werden sie in Israel genannt) bekommen Schwierigkeiten in der Verteidigung des Rechts und der Gerechtigkeit, wenn es wieder um ein „Volk ohne Land“ geht. Kann die palästinensisch-arabische Sache unterstützt werden, wenn nahe israelischer Kibbuzim Granaten einschlagen, grenznah am Gazastreifen brennende Autoreifen auf israelische Armeeposten rollen?

Oz dazu: „Sogar anständige Menschen, die nach Frieden und Gerechtigkeit streben, in Israel und auf der ganzen Welt, tappen in diese Falle: Entweder verteidigen sie vehement die Fortsetzung der israelischen Gebietsbesetzung mit der Begründung, Israel sei ein Opfer des Dschihad und die Besetzung ein Akt der Selbstverteidigung, oder sie verfluchen Israel mit dem Argument, die Besetzung und nur die Besetzung sei die Quelle des Bösen, deshalb dürften die Palästinenser uneingeschränkt das Blut der Israelis vergießen.“ (Oz, Amos. Liebe Fanatiker: Drei Plädoyers)

Damit waren wir schon beim letzten der drei Essays des politischen Literaten Amos Oz. Aber bereits der Beginn seiner Überlegungen lohnt den aufmerksamen Blick. Mit den „Lieben Fanatikern“ beginnt seine Beschäftigung, stellt er Überlegungen zum Wesen und der Herkunft des Fanatismus an. Er spricht dabei jetzt schon von einem „Krieg“, überall auf der Welt.

Mag man zuerst zurückschrecken: Krieg?

Überlegt man weiter und denkt an zunehmende politische Polarisierung in Europa und in unserem Land, diskutiert zu „Rechtsverschiebung“, Populismus, „Trumpismus“ und kritisiert u. a. die Geschichtsklitterung durch AfD-Politiker – findet man folgende seiner weiteren Gedanken dann doch nicht so abwegig …

„Einige Jahrzehnte lang hielten sich, dank der schlimmsten Mörder des zwanzigsten Jahrhunderts, Rassisten und von Hass erfüllte Menschen ein wenig zurück, und die fanatischen Weltverbesserer waren mit ihren Revolutionen vorsichtig. Vielleicht nicht überall, aber wenigstens an einigen Orten. In den letzten Jahren sieht es so aus, als habe dieses ‚Geschenk‘ Stalins und Hitlers sein Verfallsdatum erreicht. Die Teilimmunisierung verliert zunehmend ihre Wirksamkeit. Hass, Rassismus, die Abscheu vor anderen, politische Morde, das Verlangen, ‚ein für alle Mal die Bösen in einem Blutbad zu vernichten‘ – das alles tritt wieder zu Tage.“ (Oz, Amos. Liebe Fanatiker: Drei Plädoyers)

Noch herrscht bei uns kein Krieg und wird es auch hoffentlich niemals bis vor die Haustür schaffen. Der renommierte, erfahrene Kämpfer und Denker für den Frieden, Amos Oz, liefert uns mit seinem Essayband eine Gedankenblaupause zum Entstehen und Verhärten von Konflikten und menschlichen Verwerfungen. Lässt den Zeigefinger unten, sinniert religionsphilosophisch auf seinen 143 Seiten, denkt laut paradoxe Auswege („Zusätzlich zu Neugier und Phantasie kann auch der Humor eine wirksame Medizin gegen Fanatismus sein.“) und versucht einen neuen zusätzlichen kategorisch-humanistischen Imperativ zu formulieren.

Drei Schlussgedanken von Oz

Dies scheint so etwas wie der intellektuelle Gipfel seiner theoretischen Konfliktbewältigung zu sein. Lassen wir ihm drei Schlussworte bzw. drei zusammenfassende Gedanken: „Vielleicht ist der Schmerz sogar der gemeinsame Nenner aller Lebewesen.“ Und: „Der Schmerz ist ein großer Demokrat. Vielleicht ist er sogar ein bisschen sozialistisch: Er unterscheidet nicht zwischen Reichen und Armen, zwischen Starken und Schwachen, Bekannten und Fremden, zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Regierenden und Regierten.“

„Bei manchen ist der Schmerz zwar begrenzt, sie haben mildernde Umstände, die andere nicht haben, dennoch scheint der Schmerz die am weitesten verbreitete Erfahrung zu sein, eine Erfahrung, die wir alle miteinander teilen. Daraus leite ich ein einfaches moralisches Gebot ab: ‚Du sollst niemandem Schmerz zufügen.‘“

PS. „Ich weiß, dass dieses Gebot nicht ausreicht: Wir werden noch über Gerechtigkeit und den Sinn für Gerechtigkeit sprechen, über Aufrichtigkeit und Mitgefühl, über Pluralismus und vieles mehr.“

Oz, Amos. Liebe Fanatiker: Drei Plädoyers (German Edition). Suhrkamp Verlag 2018. Übersetzt von Mirjam Pressler. 143 S.

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