Derzeit zerfetzen sich ja die selbsternannten Literaturkritiker der Nation darüber, ob das, was Günther Grass am 4. April in der "Süddeutschen" veröffentlichte, ein Gedicht ist oder nicht. Auch der Ober-Kritiker der Nation, Marcel Reich-Ranicki, der schon einmal einen Grass-Band zerfetzte, darf schäumen. Wirklich Ahnung, was tatsächlich ein Gedicht ist, haben sie alle nicht. Hätte die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik das geahnt, hätte sie ein Bändchen Mahn-Gedichte herausgegeben.

Die Literaturgeschichte ist voll davon. Immer wieder haben Dichter sich getrieben gefühlt, zu den politischen Ereignissen der Zeit Verse zu verfassen. Es gibt solche Gedichte sowohl bei Walther von der Vogelweide als auch in der eindrucksvollen Literatur des 17. Jahrhundert, sie tauchen im deutschen Sturm und Drang auf und in der Literatur des deutschen Vormärz. Man findet sie bei Brecht und bei deutschen Dichtern der letzten Jahrzehnte. Oft genug ging es um Warnungen vor dem Krieg. Manchmal platt und polterig, manchmal sehr lyrisch.

Und Tatsache ist: Immer wieder fühlten sich deutsche Politiker und Kommentatoren davon gestört, schrieben wutschnaubende Erwiderungen oder versuchten sich gar mit Arroganz darüber zu setzen und werteten es ab.

Einziges Fazit nach nun einer Woche: Die mediale Diskussionskultur in Deutschland ist noch schlechter als die kritisierte deutsche Lyrik.

Die Ursache ist in beiden Bereichen dieselbe: Es gehen Dilettanten zu Werke, die glauben, die Profession zu beherrschen. Sie merken ja nicht, wie die Leser das Palaver mit dem miesen Gefühl in die Papiertonne tragen, jetzt wieder viel zu viel Geld für gedruckte Dummheit ausgegeben zu haben. Sie merken auch nicht, wie die Fernsehzuschauer genervt von so viel Überheblichkeit wegschalten.

Recht haben sie. Da ist Zeit und Geld verplempert.
Geld, das für ein Bändchen aus der Reihe “Poesiealbum neu” besser angelegt wäre. In dem keine Mahn-Gedichte stehen. Zu schön wär’s gewesen. Reisegedichte sind’s diesmal. Und wenn ich jetzt nichts überlesen habe, kommen Iran und Israel als Reiseziele nicht drin vor. Sie sind nicht wirklich die beliebtesten Reiseziele deutscher Dichter. Was nicht unbedingt an den dort lebenden Völkern und ihren Kulturen liegen mag, sondern an der schlichten Tatsache, dass deutsche Dichter auch im Jahre 2012 nach Christus keine großen Sprünge machen können. Sie reisen wieder oder noch immer nach dem weisen Goetheschen Vers: “Sieh, das Gute liegt so nah.”

Italien zum Beispiel, das alte Land der Sehnsucht, in dem auch die heutigen reisenden Dichter das finden, was schon Goethe finden wollte: Landschaft, Kunst und den Atem der großen Geschichte. Dazu eine gehörige Portion mediterranes Flair, das man auch durch Ausflüge nach Griechenland, nach Kroatien oder in den Süden Frankreich anreichern kann.

Mancher sucht auch die Landschaftserlebnisse eines Caspar David Friedrich in heimischen Gefilden. Es kommt viel Wetter vor in den Versen der 33 zeitgenössischen Dichterinnen und Dichter. Auch zwei Gäste sind dabei, wie immer. Diesmal Hermann Hesse, der natürlich – wie kann’s anders sein – den “Blick nach Italien” richtet, das Land “hinter den rosigten Bergen”. Man merkt schon: Die Beziehung deutschsprachiger Dichter zu ihrer Umwelt ist bizarr, immer ein bisschen überhöht und philosophisch. Was man sieht und was einem unterwegs begegnet, trägt tieferen Sinn in sich und höhere Bedeutung.

Und die Welt ist fast immer du. Wie bei Eckhard Erxleben: “trocken und verstaubt / sahst du aus / schöne toscana …”
Der andere Gast aus den Lyrik-Archiven ist Georg Heym: “Träumerei in Hellblau”. Auch das gehört dazu. Die Welt ein Traum. Der Dichter ein Träumender. Unübersehbar: Reisegedichte sind auch Gedichte über Weltflucht und Sinnsuche. Hier dürfen’s die Dichter. Hier nimmt’s ihnen keiner krumm. Sie dürfen entdecken, was sie entdecken wollen. Oder sich verweigern. Monika Hähnel: “Die Wirklichkeit bleibt hinterm Regen / weitgehend unbekannt den Künstlern.” (“Holsteinische Schweiz”).

Ist das Selbstkritik? Oder ein kleiner Dorn für die ewigen Allwissenden, die immer genau zu sagen wissen, was hinterm Regen wirklich ist? Kleine Anmerkung: Genau von diesen Unschärfen lebt Lyrik. Sie wagt den Spagat und das Ungewisse. Sie lässt die Unschärfe zu, die andere nicht mehr kennen. Und sie lässt die Fragen offen, die andere immer schon beantwortet haben, bevor ein Grass überhaupt zum Griffel gegriffen hat.

Ekkehard Schulreich: “Gott nah / am Rand der Welt, weiß ich nicht, / was überm Kopf das Flugmetall trägt.” Ist ja ein Leipziger Dichter. Sein Ausflug geht ins Leipziger Land. In die exotischen Fernen reist in diesem Fall das “Flugmetall” über seinem Kopf. Und weil es wahrscheinlich auf dem Flughafen Leipzig/Halle gestartet ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Soldaten drin sitzen oder Panzer drin verfrachtet werden.

So reist man heute in Deutschland.

Und es sind diese kleinen, scheinbar so belanglosen Seitenblicke, die aus einem simplen Text ein Gedicht machen können. Und den Leser zum Nachdenklichen, der zum Himmel hochschaut und ein Stück der Angst mitempfindet, die einen Grass geritten hat.

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Aber in Deutschland haben wahrscheinlich nur noch die Dichter Angst. Die anderen, all diese Selbstgerechten, die fahren in exotische Länder, gewiss, – nur ja nicht allein und auf eigene Faust. Wie bei Peter Frömmig: “Sie fuhren zum Kap der Guten Hoffnung. / Es lag im Nebel. / Sie kauften sich Ansichtskarten.” Wer nicht mehr auf eigene Verantwortung reist, der wird nichts mehr sehen von der Welt. Deswegen verkauft sich Lyrik nie gut. Sie verlangt den alleinreisenden Leser, der sich was traut und zutraut. Bis hin zu der alten Tugend, zwischen den Zeilen lesen zu können. Dazu sind die Zwischenzeilen im Gedicht sogar da.

Und in diesem Fall laden sie dazu ein, jede Reise aus dem Gewohnten heraus ernst zu nehmen und als vollgültig. Die Welt fängt nicht erst in Indien oder Mexiko an (auch wenn ein farbenfrohes Mexiko-Gedicht mit dabei ist), sondern da hinten hinter der eigenen Stadt. Eigentlich sogar schnurzegal, ob man da dann seine lyrischen Versatzstücke mitnimmt (und sie tummeln sich auch in den Reisegedichten heutiger Dichter). Hauptsache, man traut sich überhaupt, die gewohnten Geleise zu verlassen und mit eigenen Augen zu schauen und – (versuchen kann man’s ja mal!) – mit dem eigenen Kopf zu denken.

Kann natürlich passieren – und passiert so auch – dass man am Ort seiner Reiseträume entsetzt aus allen Illusionen gerissen wird. Wie in Ingrid Gorrs “Ferien auf dem Lande”.

Und ganz am Ende löst sich auch noch das Rätsel, warum auf dem Titelbild kein Koffer abgebildet ist, kein Strandkorb und auch kein anderes der üblichen Attribute, die deutsche Verlage auf Reise-Auswahl-Bücher kleben. Es ist das Bild “N.Y.” des in Erlln lebenden Malers Andreas Wachter, das 2011 aus der Leipziger Galerie Irrgang gestohlen wurde, also auf eine durchaus andere Reise ging. Die Lyrikgesellschaft bittet trotzdem um Hinweise über den Verbleib des Bildes. Denn verreisen dürfen Bilder – aber in der Regel erst, wenn sie bezahlt sind.

Ralph Grüneberger (Hrsg.): Poesiealbum neu “Ohne Gepäck. Reisegedichte”, Edition Kunst & Dichtung, Leipzig 2012, 4,80 Euro.

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