Man findet sie in fast jeder Buchhandlung, diese bunten, schrillen Ecken, in denen die Bücher von Stephen Hawking neben den Quizbüchern bunter Fernsehsender, allerlei Büchern über den Urknall, Saurier und die 100 tollsten Erfindungen stehen. Und daneben bergeweise Bücher über Phänomene, Rätsel, Mysterien. Neben der Wissenschaft der Unfug. Neben der Astronomie das Wunderreich Atlantis.

Die Bücher von Peter W. F. Heller findet man hier eher nicht. Während die großen Verlage diese Wunderabteilung der Buchhandlung jede Woche mit immer neuem Mysterienaufguss beschicken, erscheinen Hellers grimmige Bücher beim Engelsdorfer Verlag in Leipzig. Die Aufklärung ist abgewandert. Und Heller ist ein Aufklärer und mit 64 Jahren noch immer ungestümer Archäologe und streitbarer Autor. Mit Hexen, Teufeln und Magiern hat er sich schon beschäftigt, mit christlichen, jüdischen und ägyptischen Mythen.

Er geht den berühmten Legenden nach und erklärt, wie die Geschichten und Mythen entstanden, wie moderne Religionen in uralten Erzählungen wurzeln, wie sich die Götterfiguren verwandelten und mit ihnen die Vorstellungen der Menschen vom Diesseits und vom Jenseits. Aber nicht nur Religionen stecken voller Mythen. Gerade die Neuzeit kennt auch Fluten von pseudowissenschaftlichen Schriften, in denen allerlei dubiose Autoren versuchen, wieder eine Art übernatürlicher Mächte in die Welt hineinzugeheimnissen. Ihnen ist dazu alles recht, was auf den ersten Blick unfassbar scheint – auch wenn die Archäologen längst bis ins Detail erkundet haben, wie die Dinge entstanden – ob der gewaltige Steinkreis von Stonehenge oder die Pyramiden in Ägypten oder in Mexiko.

Und auch Atlantis ist so ein Themenfeld, auf dem sich etliche Bestsellerautoren tummeln, die in der menschlichen Geschichte unbedingt noch ein technisch überlegenes Wunderreich etablieren wollen, ohne dass sie sich den zivilisatorischen Aufstieg der Menschheit nicht denken können. Viel gibt es an Nachrichten über das Wunderreich Atlantis eigentlich nicht. Einzig Platon lässt in seinen Dialogen darüber berichten, vorsichtshalber aus vierter Hand, denn natürlich steckt hinter der Atlantis-Legende bei Platon nicht die Faszination eines unvergleichlichen Superlandes, sondern gesellschaftliche Kritik an den politischen Zuständen seiner eigenen Zeit und seines eigenen Stadtstaates – Athen. Bei Platon ist Atlantis ein Idealstaat.Heller geht es in diesem Buch nicht nur um Atlantis, sondern um ein ganzes Themenfeld aus dem Bereich der Pseudo-Archäologie, die in der Bibel zum Beispiel gleich reihenweise Andeutungen von Superwaffen aus dem Arsenal der Science Fiction entdeckt haben will oder gar die Ursprünge der Schrift sagenhaften Gestalten der Urzeit andichtet. Es geht Heller um die “Lust am Sagenhaften”. Atlantis ist in gewisser Weise exemplarisch dafür. Selbst in Skandinavien und im Bermuda-Dreieck (das selbst eine moderne Legende ist) wollen es diverse Autoren gefunden haben.

Das Lähmende an dieser bunten Phantasie-Suppe ist: Sie verstopft nicht nur die Regale in den Buchhandlungen. Sie spiegelt den neugierig gemachten Lesern auch einen Stand der Wissenschaften vor, der mit der Realität nichts zu tun hat. Denn auch wenn die Gelehrten sich streiten – es gibt über fast alle der immer wieder neu aufgewärmten Mythen längst profunde Forschungen. Die freilich komplexer und wesentlich irdischer sind, als wenn man nun die Dinge großspurig mit fremden Astronauten und Wunderwaffen erklärt.

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Es ist erstaunlich, was alles in 8.000, 10.000 Jahre menschlicher Zivilisationsgeschichte passt, wenn man einfach mal davon ausgeht, dass es nicht die Westeuropäer waren, die die ersten Staaten gründeten, die ersten Städte bauten, die ersten Schriften erfanden und die Grundlage für Handel, Viehzucht und Landwirtschaft legten. Historisch betrachtet sind die Westeuropäer echte Spätstarter. Als der Tanach, der Ursprungskorpus dessen, was wir heute Altes Testament nennen, entstand, hatten die Völker im Nahen Osten schon mehrere Jahrtausende der Staatengeschichte hinter sich. Reiche und Städte waren entstanden und wieder untergegangen, gewaltige Völkerwanderungen hatten stattgefunden und Naturkatastrophen, von denen der Ausbruch des Santorin und der Einbruch des Mittelmeers ins Schwarze Meer nur die bekanntesten sind.

Von den Völkern und Reichen, die in solchen Katastrophen untergingen, blieben meist nur Legenden und da und dort Fundspuren im Erdreich. Verglichen mit den 6.000 Jahren zuvor ist selbst das Alte Testament der Bibel ein junges Buch. Und während Hobby-Forscher darin Wunderwaffen aller Art suchen, suchen Wissenschaftler die Spuren realer Geschichte. Die natürlich drin stecken. Es gibt die Parallelen zu ägyptischen Quellen und zu Quellen aus dem Zweistromland. Denn die “babylonische Gefangenschaft” ist natürlich ein historisches Faktum, das sich auch in babylonischen Quellen finden lässt. Nicht nur einer wie Heller ist immer wieder verblüfft, wenn sich neue Querverweise finden, die die Bücher des Alten Testaments mit der Völkergeschichte des Jahrtausends vor Beginn unserer Zeitrechnung verknüpfen.Natürlich nicht 1:1. Immerhin sind es religiös motivierte Erzählungen. Und sie sind die Eigensicht eines einzelnen Volkes. Was auch auf die ägyptischen Quellen zutrifft oder auch die griechischen – angefangen bei Homer, dessen “Ilias” einst Heinrich Schliemann auf die Spur des historisch nachweisbaren Trojas brachte. Oder der diversen Trojas. Denn das eine, homerische Troja ist – wenn denn der Nachweis irgendwann einmal gelingt – nur eine der jüngeren Geschichten in der Siedlungsgeschichte einer Stadt, die mit dem Verlust des direkten Zugangs zum Meer ihre Bedeutung verlor.

Natürlich kommt auch Troja in Hellers Buch vor, genauso wie der Garten Eden, den Heller genauso akribisch in der Geschichte und in der Geografie zu verorten weiß. Bei Atlantis freilich gehört er zu den großen Zweiflern und hält nicht wirklich viel von all den Thesen, die das versunkene Königreich irgendwo im Atlantik oder sonstwo ansiedeln wollen.

Wobei hier möglicherweise die detektivische Spurensuche von Sergio Frau in seinem Buch “Atlantika” eine sinnvolle Interpretation anbietet, der das verschwundene, durch eine Naturkatastrophe zerstörte Reich auf Sardinien vermutet. Und zwar auch nach intensivem Lesen des anderen Homer zugeschriebenen Werkes – der “Odyssee”, in der Odysseus zehn Jahre lang durchs Mittelmeer irrt. Das Erstaunliche an seiner langen Irrfahrt aber ist: Er bleibt dabei stets im östlichen Mittelmeer. Für die alten Griechen der Homerzeit begann das atlantische Meer jenseits von Sizilien. Und die mythischen Säulen des Herakles standen damals wohl wirklich noch weiter östlich.

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Atlantis –
Jenseits der Säulen des Herakles

Peter W.F. Heller, Engelsdorfer Verlag 2012, 14,00 Euro

Es steckt schon eine Menge Information in solch alten Überlieferungen. Aber es gehört auch ein gewisser wissenschaftlicher Ernst dazu, die realen Spuren von der phantasievollen Überhöhung zu trennen. Was man dann findet, ist oft genug eine ganz irdische Geschichte – eine noch tiefere Schicht der Zivilisationsgeschichte. Um den Reichtum menschlicher Artefakte zu erklären, braucht es wirklich keine überirdischen Wesen. Es braucht nur eine Menge Zeit.

Und Jahrtausende – auch die vor Beginn unserer Zeitrechnung – sind eine gewaltige Zeitspanne. Bevor Arminius die Legionen des Varus schlug, ist schon eine Menge Geschichte passiert. Und es waren Völker daran beteiligt, von denen sich oft nur ein paar Namen, diffuse Spuren und ein paar eindrucksvolle Mythen überlieferten. Der Mythos von Atlantis ist so eine Spur. Man muss ihr nur akribisch folgen.

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