Das Jahr 2013 ist ein gutes Jahr, um ein paar Märchenblasen platzen zu lassen. Die deutsche Einheit ist so eine Märchenblase. Ein Gute-Nacht-Märchen für Stubenhocker und Fernsehkieker. Als der 1968 in Leipzig geborene Journalist Holger Witzel 2009 anfing, seine Kolumne "Schnauze Wessi" auf stern.de zu veröffentlichen, tat er es aus Frust. Die Republik suhlte sich in Sonntagsreden auf die 20 gemeinsamen Jahre. Die üblichen Alibi-Ossis durften auch was sagen.

Doch nicht nur der knurrige Stern-Reporter merkte es: Die Republik ist in ihrer Teilung erstarrt. Das Lohngefälle ist wie festgemauert. Was ja Gründe hat. Die Märchen von irgendeiner Angleichung von Ost und West glauben wirklich nur noch jene, denen es gelingt, an die begehrten Pfründen zu kommen. Ein paar Ostdeutsche sind auch darunter. Als Tarnung. Aber nicht nur Matthias Platzeck, Ministerpräsident in Brandenburg, wundert sich bis heute, dass fast alle Leitungspositionen auch im brandenburgischen Staatsapparat mit Leuten besetzt sind, die in der Regel irgendwo weit im Westen geboren, getunt und gepäppelt wurden.

Da funktionieren Seilschaften, die sind stabiler als alle Mauern. Und Witzel machte sich Monat für Monat den Spaß, die Herkunft jener Leute zu erkunden, die im Osten für Skandale sorgten, die man so zuvor nur aus westlichen Gschaftlhuberschaften kannte. Die Leipziger kennen den Refrain und wundern sich nicht mehr. Ob das ein ehemaliger Wasserwerke-Manager ist, der den Hals nicht voll bekommen konnte, ein kecker Immobilienlöwe, der die halbe Innenstadt aufkaufte mit Geld, das er gar nicht hatte, ein Bremer Hochstapler, der im sächsischen Maßregelvollzug Karriere als Arzt machte, ein ehemaliger LVB-Manager, der sich selbst eine goldene Rente vertraglich vorformulierte, ein Finanzminister, der den Vorstand einer Landesbank gewähren ließ, deren Pleitekosten einem kompletten Landeshaushalt entsprechen … und da ist von gestrauchelten Sparkassenchefs, Fußballmanagern und cleveren MDR-Reportern mit Herkunft aus Nordrhein-Westfalen noch gar nicht die Rede.

Und das geht jetzt seit 23 Jahren so. In einer seiner letzten Kolumnen griff Witzel das Stichwort vom “Neger” auf, das er selbst zuvor nicht benutzt hatte. Aber irgendwie hat es einen Bezug zu all dem, was seit der großen Zusammenschusterung und den Versprechungen von 1990 ostwärts der Elbe passiert ist und weiter passiert. Die so verschämt als Fünf Neue Bundesländer bezeichneten Gebiete sind Billigwerkbank geworden und geblieben. In Sachsen und rund um den Billigflughafen Leipzig wird das ja sogar exzessiv als “Standortvorteil” verkauft. Selbst dann, wenn allen klar ist, dass die Kosten dieser Billighuberei wieder ungefedert in die kommunalen Etats durchschlagen.Hinter der Witzel attestierten “Pöbelei” steckt eine ernüchternde Realität. Die man so ernüchternd in ostdeutschen Medien eher selten bis nie dargestellt findet. Denn die Herausgeber sitzen in der Regel in Hannover, Hamburg und Köln. Und die Blattpolitik wird immer noch von den Herausgebern gemacht. Die Redaktoren vor Ort wissen das genau. Und knirschen oft genug hörbar mit den Zähnen.

Für alle Bewohner des etwas abgenutzteren Teils dieser Republik: Sie wissen wirklich nichts über den Osten, denn eine unabhängige Berichterstattung gibt es eigentlich nicht. Jedenfalls keine, die es über die Zonengrenze schafft, die irgendwie immer noch da ist. Bei jeder Umfrage bekommt man sie serviert. Mit allen Vorurteilen hinterher, derer die Umfrager fähig sind. Bis hin zu den Nazi-Exporten, die sich in ostdeutschen Landtagen tummelten und tummeln.

Insofern war es ein kleines Wunder, dass stern.de 2009 der Kolumne zustimmte und sie auch im Programm ließ, als der “shitstorm” (Sascha Lobo hat grad zugegeben, dass er bei diesem Wort Pate stand) aus den etwas zurückgebliebenen Gefilden hinter den Wäldern hervorprasselte über Witzel und seine treffsichere Kolumne. Denn treffsicher war er immer. Und wer genau mitlas, merkte auch, wie er die ganze Scheinrepublik “Made in West Germany” heruntermachte, so gründlich, wie es sich die großen Gazetten erst in jüngerer Zeit trauten, all die hochbezahlten Heuchler, Schwindler und Titelträger, die eines perfekt gelernt haben: Sich selbst darzustellen und in den Vordergrund zu spielen. Es sei eine Mentalitäts- und Sozialisierungsfrage, meint der Kommunikations-Psychologie Olaf Georg Klein, den Witzel 2011 interviewte. Die Missverständnisse im deutsch-deutschen Dialog seien im Kommunikationsverhalten begründet.

Es ist einer der Beiträge, in denen Witzel den Hintergrund für seine regelmäßige Wutkolumne näher beleuchtet. Aber ob es dieses verbale Missverständnis ist, daran zweifelt wohl nicht nur Witzel. Denn wenn die Brüder und Schwestern, die sich immer verbal so wortmächtig zu Wort melden, wenn es mal Kritik aus dem finsteren Osten gibt, mal in ihre eigenen Ländle schauen, werden sie dort dieselbe Mischpoke am Werk sehen, Politiker, die sich die eigenen Taschen füllen und sich mit kleinkarierten Eigenheim-Schwiemeleien so lächerlich machen wie ein ehemaliger Bundespräsident, größenwahnsinnige Förderer von Untergrundbahnhöfen, Großflughäfen und Sinfonie-Bollwerken.

Vielleicht ist es dieses Gefühl, das so manche Kolumne von Holger Witzel in der letzten Zeit schon etwas schwermütig machte, dieses Wissen darum, dass sich ja doch nichts ändert, wenn unsere lieben Brüder und Schwestern bei sich daheim nichts ändern. Sie bepöbeln den Narren, der die Wahrheit sagt. Und sehen den Splitter im eigenen Auge nicht. Mittlerweile ein Klassiker eigentlich jene Kolumne, die Witzel 2012 zur x-ten Wiederkehr der deutschen Zweck-Heirat schrieb: “Szenen einer Ehe”. Und er pfefferte da dem dicken Ehemann West wieder einmal seinen ganzen bräsigen Umgang mit Frau, Heim, Herd und Kind um die Ohren, dieses aufgeblähte Gockeln, hinter dem sich die Angst verbirgt vor aufmüpfigen und selbstbewussten (Ost-)Frauen.

Ob die West-Frauen anders seien? – Wohl nicht. Nur scheinen ihre Angetrauten nun 22 Jahre lang immer mit diesem hinterhältigen Verweis auf die taffen Ostfrauen gekommen zu sein, die doch gelernt hätten, alles zu deichseln – Job, Familie, Kinder und die Vollversorgung des Mittelpunkts der Welt.Ja, das kann schon bedrücken, wenn man sieht, dass über dieses seltsame Satire-Konstrukt “Ossi” die ganze Zeit die eigentlich ungelösten Probleme der Republik wegdiskutiert wurden. Auf den “Ossi” war das immer ableitbar, der ganze Frust auf eine “deutsche Einheit”, in der weder die rheinischen Bürgermeister noch der Spaßministerpräsident von Bayern überhaupt noch wissen, wer was bezahlt und wer am Ende die Hände aufhält. Geldkreisläufe? War da was in der Schule? – Zu lange her, vergessen, nie kapiert.

Aber Politiker werden wollen. Und Karnevalsreden halten.

Wer von den regelmäßig auf stern.de veröffentlichten Kolumnen noch nicht genug hat und bei aller Betroffenheit doch noch das Gefühl hat, dass diese grimmigen Texte voller Widerhaken stecken, voller Anregungen, mal wieder den eigenen Kopf zum Denken zu benutzen, der bekommt hier die letzten beiden Jahre wieder im Taschenformat. Aus dem Mittelfinger des ersten Boxhandschuhs auf dem 2012 erschienenen Band “Schnauze Wessi” ist jetzt einer mit Victory-Zeichen geworden.

Der letzte Beitrag klingt freilich wie ein Abschied. Als hätte Holger Witzel nach drei Jahren deutlicher Worte die Lust verloren. “So ist das mit dem Selbstverständnis: Es hat alles keinen Zweck ohne vernünftigen Zweck”, beschreibt er sein Hadern. Und was er andeutet, erschrickt ihn noch mehr: Westdeutsche Leser und Rezensenten geben ihm Recht. Das Übel sitzt tief nach all den Basta! und Alternativlos! und Unabdingbar!, die ihnen serviert wurden.

Es wäre schade, wenn Holger Witzel jetzt einfach so einen Strich zieht. Vielleicht braucht er auch nur das, was einem so ungern gewährt wird: eine Auszeit, eine Verschnaufpause. Vielleicht soll er die auch gar nicht haben. Er käme ja auf Gedanken …

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Gib Wessis eine Chance
Holger Witzel, Gütersloher Verlagshaus 2013, 14,99 Euro

Und nach der Pause käme einer wie Witzel vielleicht auf die Idee, ein neues Feindbild in den Mittelpunkt seines Wütens zu rücken. Und in der Redaktion in Hamburg bekämen auch seine Westkollegen leuchtende Augen. Das isses. Hau rein. Gib’s ihm. Denn eines ist nach drei Jahren “Schnauze Wessi” klar. Hinter dem “Wessi” versteckt sich noch ein viel schöneres Ziel. Eines, wie es richtige Satiriker lieben. Hat es schon einen Namen? Braucht es noch einen?

Eines ist schon mal sicher: Holt die Sahnetorten raus! Die Schlacht beginnt …

Die jüngste “Schnauze Wessi”-Kolumne auf stern.de: www.stern.de/politik/deutschland/schnauze-wessi-barbaren-in-barbour-jacken-1972238.html

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar