Das Wichtigste fehlt immer. Es geht den Statistikern wie den Journalisten. Wenn es um Quellen und harte Fakten geht, bleiben viele Fragen unbeantwortet. Und das Faszinierende an dem von Dr. Frauke Gränitz zusammengestellten Buch "Daten und Fakten zur Leipziger Stadtgeschichte" ist, dass es die Löcher zeigt, die Fehlstellen, teilweise die gähnenden Abgründe im Datenmaterial zu 1.000 Jahren Leipziger Geschichte.

Die Banken und Bankenpleiten kommen wirklich nicht drin vor. Aber wer sich durch die elf Kapitel blättert, merkt schnell: Solche Wünsche tauchen an jeder Ecke auf. Man könnte allein dieses Buch auf zehn opulente Bände ausweiten und hätte noch immer nicht alles beziffert, was es zu einer nun wirklich noch nicht alten Stadt wie Leipzig zu beziffern gilt. Das beginnt mit den simpelsten Bevölkerungszahlen. Die früheste Schätzung gibt es für das Jahr 1471, da geht man von 6.000 Einwohnern aus. Aber wie viele waren es um 1165, als das Stadtrecht verliehen wurde? Und wie viele in jenem legendären Jahr 1015, für das Bischof Thietmar von Merseburg die “urbs libzi” erwähnte?

Es müssen weniger gewesen sein, denn das Siedlungsgebiet umfasste gerade einmal das Gebiet des späteren Matthäikirchhofs und ein bisschen drumherum. 1165 kam die Neustadt dazu, die rund um den Nikolaikirchhof wuchs. Aber da gehörte das Gebiet südlich davon noch nicht dazu. Man schaut in ein dunkles Loch. Die frühe Stadtgeschichte ist ein Kapitel voller Fragen – und tradierter, oft falscher Antworten.Das Georgennonnenkloster verortet dieser Band nun auch wieder im Bereich der Harkortstraße. Aber dann hätte der Kurfürst von seinem Schloss, das Hieronymus Lotter 1549 abbrach, ihnen nicht ins Fenster gucken können. Ein Ding der Unmöglichkeit. Aber wo stand es wirklich? Und wieviele Nonnen lebten drin? Wieviele Nonnen und Mönche gab es überhaupt im mittelalterlichen Leipzig mit seinen vier Klöstern?

Erst im 17. Jahrhundert tauchte Leipzig so langsam aus dem statistischen Dunkel auf. Mit dem Vorabend der Aufklärung begann auch das Bewusstsein für Zahlen zu wachsen. Die moderne Kameralistik wurde geboren, Mutter aller Volkswirtschaftslehren. Man kann regelrecht zuschauen, wie das kaufmännische Denken sich nun auch in der Kommunal- und Staatsverwaltung Bahn bricht und sich Thema um Thema erobert. Und in den Archiven der Stadt gab und gibt es garantiert noch mehr davon. Man sieht Frauke Gränitz regelrecht stöhnen bei der Entscheidung für oder gegen ein Thema. Steuereinnahmen wäre ein schönes Thema gewesen. Aber da muss sich wohl ein Forscher mal gesondert in die Archive setzen und die Quellen zu Leipzigs Steuereinnahmen und seinen Schulden im Lauf der Zeit sichten und ordnen. Denn das Problem sind tatsächlich die verstreuten Quellen. Wo sind die Torgroschen verzeichnet, wo die Zollgebühren? Wo die Ausgaben für Stadtbeleuchtung und Stadtmusikanten?

Faszinierende Themen, die am Horizont aufglimmen, wenn schon mal Zahlen zu Leipzigs erster Stadtbeleuchtung unter Bürgermeister Romanus drin stehen und die Zahlen zur späteren Gas- und Strombeleuchtung der Stadt, zur Motorisierung der Unternehmen (bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit Dampf – aber auch vereinzelt mit Wind- und Wasserkraft). Und wenn man schon bei den Anfängen ist: Man hat sehr wohl auch die frühen Kraftfahrzeuge gezählt – aus jenen Jahren, als die Dinger noch knatternde Neuankömmlinge waren. Eine Tabelle listet ihre wachsende Zahl ab 1906 auf: 117 Personenkraftwagen, 6 Lastkraftwagen, 73 Krafträder.

Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges stieg die Zahl der Pkw auf 18.672. Zum Vergleich: Im Jahr 2011 überschritt ihre Zahl die 200.000. Jeder sieht auf einen Blick, woher die heutige Parkplatznot rührt: Die Stadt mit ihren breiten Straßen wurde für nicht mal ein Zehntel der geparkten Blechkolonne gebaut. Stattdessen setzten die Stadtväter des frühen 20. Jahrhunderts massiv auf den ÖPNV. Die Zahlen, die die LVB heute erreichen, wurden auch schon in den 1920er Jahren erreicht. In DDR-Zeiten verzeichneten die LVB mit über 300 Millionen Fahrgästen erst den eigentlichen Rekordwert. Das war aber zu Zeiten, als es noch 30 Straßenbahn-, 11 Omnibus- und 3 O-Bus-Linien gab. Heute gibt es noch 14 Straßenbahnlinien, die nicht einmal ein Drittel der Passagiermenge befördern müssen, dafür 61 Buslinien.Zahlen zeigen Geschichte. Auch im 19. Jahrhundert zählte man schon fleißig Droschken, Pferdedroschken damals noch. 511 waren es im Spitzenjahr 1910. Aber da waren auch schon die ersten 34 Kraftdroschken in Betrieb, wie sie damals hießen. Aus Droschenkutschern wurden Taxi-Fahrer.

Man sieht aber auch die Stadt beim Wachsen und Wohnungenbauen ab dem späten 19. Jahrhundert. Bis hin zu so seltsamen Fragen wie der Zahl der beheizbaren Wohnräume. Aber auch nach der Zahl der Bewohner. Der Normalzustand in jenem wie besessen wachsenden Leipzig um 1900 waren 5 bis 7 Bewohner in Wohnungen mit mindestens zwei Räumen. Selbst in Ein-Zimmer-Wohnungen (“mit Zubehör”) lebten in der Regel drei bis vier Menschen. Und die Leerstandsquote lag zumeist um die 4 Prozent, in einigen Quartieren auch eher bei 0,4 Prozent. Das war eine andere Wohnungsnot als heute. Aber vielleicht lernen auch wir das wieder kennen. Oder bleibt der Trend so erhalten hin zu immer mehr Single-Haushalten, weil der Mensch des 21. Jahrhunderts Nähe und gemeinsame Verantwortung gar nicht mehr aushält? Damit überfordert ist, weil dieses Land zwar viel von Familie schwadroniert, aber eigentlich menschliche Arbeits- und Lebensmodelle geradezu verachtet?

Geschichte sind auch die gewaltigen Zahlen von Menschen, die in der Leipziger Industrie beschäftigt waren – über 100.000 noch im Jahr 1990. Dass über 8.000 Leipziger bei der Post arbeiteten, wirkt heute schon geradezu wie eine Legende.

Aber Legende sind – zum Glück – auch die beiden großen Kriege, von denen man so nebenbei erfährt, dass diese Kriege auch bei den zu Hause gebliebenen Zivilisten hohe Verluste erzeugten. Im ersten Weltkrieg augenscheinlich höhere als noch im zweiten mit seinen großen Bombardements. Und auch diese Zahl verblüfft: Hatte Leipzig im ersten Weltkrieg noch 16.142 verstorbene Kriegsteilnehmer, kommt die Zählung für den zweiten Weltkrieg nur auf 11.601.

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Daten und Fakten zur
Leipziger Stadtgeschichte

Frauke Gränitz, Leipziger Uni-Verlag 2013, 69,00 Euro

Deutlich zurückgegangen ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Säuglingssterblichkeit. Aber auch die Geburtenzahlen sind ja bis 1995 in den Keller gerauscht. Wer will, kann die 5.414 Geborenen im Jahr 2010 vergleichen mit den Geburtenzahlen bis 1595 zurück, ein Jahr, für das es zumindest zählbare Listen von Getauften gibt. Aber von den 15.485 Lebendgeborenen des Jahres 1900 (da hatte Leipzig 456.000 Einwohner), ist die Gegenwart natürlich weit, weit entfernt.

Das Spannende an diesem Buch bleiben nach dem Durchblättern tatsächlich die Fragen. In diesem 500-Seiten-Band stecken Dutzende möglicher Forschungsthemen, die die Entwicklung der Stadt Leipzig noch besser, tiefer und gründlicher beleuchten. Etliche dieser Themen werden auch offen bleiben, wenn die vierbändige Stadtgeschichte 2015 vorliegen sollte. Da werden dann auch die Herausgeber dieser Reihe “Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig” auf diesen Band 5 zurückgreifen können und ihre Bachelor-, Master- und Doktor-Aspiranten auf all die schönen Fragen hinweisen können, die sich auftun, wenn man sich durch die opulente Fleißarbeit von Frauke Gränitz wühlt.

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