Das ist frustrierend: Er hat es nicht gesagt. Aber alle sagen, dass er es gesagt hat. Aber er hat es nicht. Was nun? Der Spruch ist doch einfach zu gut! "Hier stehe ich! Ich kann nicht anders!" - Wem legen wir das jetzt in den Mund? Luther natürlich. Auch wenn wir es nach diesem Büchlein besser wissen.

Der Wittenberger Publizist Volkmar Joestel hat Geschichtswissenschaft studiert und sich besonders mit der Reformationsgeschichte beschäftigt. So einer kennt seinen Luther und vor allem die authentischen Lutherschriften. Und er weiß auch, dass das Luther-Bild, das sich im Lauf der 500 Jahre entwickelt hat, natürlich auch eines ist, in dem die Anhänger und Freunde des Reformators ihn idealisiert haben. Ein gut Teil Propaganda ist auch dabei. Und Verehrung sowieso. Da wurde dem Professor aus Wittenberg auch Vieles in den Mund gelegt, was er so nie gesagt hat – aber hätte sagen können. Und Anderes wurde auch schon von Zeitgenossen abgewandelt.

Gleich beim ersten Beispiel fühlt man sich an das berühmte Gorbatschow-Zitat erinnert, das er am 6. und 7. Oktober in Ostberlin zur greisen DDR-Führungsriege gesagt haben soll: “Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.” Und damit soll er nicht einmal die alten SED-Genossen gemeint haben, sondern seine eigene Greisentruppe daheim in der Sowjetunion. Eine Variante des übersetzten Zitats lautet: “Schwierigkeiten lauern auf den, der nicht auf das Leben reagiert.”

So ähnlich wird auch Dr. Martin Luther gedacht haben am 18. April 1521, als er zu Worms Rede und Antwort stehen sollte, ob er aus seinen Schriften etwas widerrufen wolle. Da dachte Luther schon ein bisschen nach. Immerhin hatte er manches Pamphlet im Feuereifer verfasst, war da und dort ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen. Und so wurde dann seine Begründung etwas länger, warum er nichts von dem, was in seinen Schriften gedruckt war, zurücknehmen wolle. Und der Schluss klang dann laut den Reichstagsakten, die Volkmar Joestel zitiert, so: “Deshalb ich nichts mag, noch will widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und gefährlich ist. Gott helf mir, Amen.”

Soetwas zitiere man mal, wenn’s auf den Punkt kommen soll. Und vielleicht hatten sich Luthers Anhänger auch etwas so knackiges wie das “Hier stehe ich …” erwartet. Aber Luther war ja kein Betonschädel wie manch anderer Eiferer in seiner Zeit. Das Protokoll zeigt auch, dass er die Gegenseite nicht verprellen wollte, sondern deutlich machen wollte, warum er so – und nur so – denken und handeln konnte. Aber auch das ist wie heute: Gegen Leute, die nicht verstehen wollen, hilft auch ein vernünftiger Disput nichts.

Seine Kampfgenossen daheim sahen das ein bisschen anders und machten aus dem protokollierten Bekenntnis die Parole, die so schön eingängig ist und die etwas auf den Punkt bringt, was eben doch zu Luther gehört: Mut und Zivilcourage. Beides, wie man weiß, Dinge, die auch in heutigen Zeiten selten sind und kostbar.Aber auch andere Sprüche haben solche Wandlungen erfahren. Manche stammen auch wirklich nicht von Luther, sondern von Leuten, die ihn sich zum Vorbild nahmen und in seinem Geist auch dann leben wollten, wenn morgen der Weltuntergang verheißen wäre. In diesem Fall waren es württembergische Pietisten, die um 1836 die Sache mit dem Apfelbäumchen in die Welt setzten: “Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge …” – Und alsbald wurde dieser lebensbejahende Spruch dann Luther in die Schuhe geschoben. Genauso wie schon im 18. Jahrhundert die Sache mit “Wein, Weib und Gesang”.

Aber Joestel untersucht nicht nur, wer wo für welchen abgewandelten Luther-Spruch tatsächlich zuständig ist. Er sucht auch bei Luther, ob der Mann in seinen vielen Tausend Schriften nicht doch die Vorlage geliefert hat. Wenn die Öffentlichkeit glaubt, der Spruch müsse von Luther sein, dann muss der Mann ja auch dazu passen. Passt er auch. Ein Lebensverächter war Dr. Martin Luther nicht. Die kleinen Untersuchungen Joestels werden auch immer zu kleinen Besuchen im Leben und im Haushalt Luthers, der zwar so derb nicht immer sprach, wie man es ihm in den Mund legte. Aber er meinte es in der Regel genau so. Auch dann, wenn er einen Mann wie den Stadtprediger von Wittenberg, Johannes Buggenhagen, lieber nicht öffentlich rügte für seine zuweilen fünf Stunden langen Predigten. Die Wittenberger müssen begeistert gewesen sein, wenn Dr. Luther mal in Stellvertretung von Buggenhagen predigte – deutlich kürzer und auf den Punkt gebracht. Was dann später in einem ebenfalls abgewandelten Dreiklang zur richtigen Predigt in Umlauf kam: “Tritt frisch auf, tu’s Maul auf, hör bald auf!”

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Tu ‘s Maul auf!
Volkmar Joestel, Evangelische Verlagsanstalt 2013, 12,80 Euro

Was ja nicht nur für Prediger gilt, sondern für alle Leute, die Reden halten. Die meisten halten sich bis heute nicht daran. Reden ist eine Kunst – und eine Gefahr. Auch darauf geht Joestel ein. Die Kanzel ist ein gefährlicher Ort. Joestel nimmt die Leser mit in die Welt Luthers – und eben auch ein wenig in die Gedankenwelt dieses Mannes, der sich nicht einfach hinstellte und forderte. Er dachte ein bisschen nach über die Dinge, kam manchmal auch zu etwas skurrilen Einsichten. Auch dafür liebte ihn das Volk. Und so kamen dann auch die etwas derberen Sprüche zu ihm.

Über acht bekannte Luther-Sprüche schreibt Volkmar Joestel. Und am Ende kennt man diesen Professor aus Wittenberg etwas besser, weiß auch, warum er wohl niemals “Hier stehe ich. Ich kann nicht anders” gesagt hätte. Und warum das trotzdem so gut zu ihm passt.

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