Es ist eine dieser Sprechblasen, die gern benutzt werden, um dem Weihnachtsfest einen gewissen Sinn und Glanz zu verleihen: "Fest der Familie". Wenn alles gut ist, ist es das auch. Man kommt zusammen und genießt die Geborgenheit der Seinigen. Aber das wird, wie auch Soziologen feststellen, immer seltener. Nicht nur der Singles werden es immer mehr. Das Konstrukt "Familie" wird immer bunter. Aber was sagen Dichter dazu?

Wer will, kann das jetzt nachlesen. Und zwar nicht in einer der üblichen O-Heilige-Nacht-selige-Familie-Sammlungen mit den hübschesten Zuckerstückchen deutscher Erbaulichkeitslyrik. Die stapeln sich alle im Buchladen und werden wohl auch wieder zu Tausenden verschenkt von Leuten, die damit glauben, ein Stück heile Welt zu verschenken. Manchmal auch als grimmige Mahnung: “Unsere Familie könnte so schön sein!” Oft wohl als innige Hoffnung, die alten Kinderträume einer innig strahlenden Bilderbuchfamilie könnten ja doch irgendwie noch in Erfüllung gehen – wenn sich alle ein bisschen anstrengen.

Aber die Erwartungen zerscheppern in der Regel spätestens am zweiten Weihnachtstag. Was nicht unbedingt daran liegt, dass die Statisten dieses alljährlichen Märchens (an dem deutsche Fernsehsender mit geradezu erschreckender Penetranz basteln) nicht wollen. Die Wahrheit ist schlicht: Das Bild ist falsch. So war Familie nie. Und so ist sie heute erst recht nicht mehr.

Und das weiß eigentlich auch jeder, der sich nur selbst erinnert an seine eigene Kindheit und seine (oder ihre) konkreten Erinnerungen an die konkreten Mütter und Väter. Das tun etliche der Dichterinnen und Dichter, die Ralph Grüneberger für diese neue Gedichtsammlung der Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik eingesammelt hat. Und es sind nicht nur Kinder, die sich da an ihre Eltern erinnern. Immerhin sind einige dieser “Kinder” nun auch schon selbst Großeltern. Ist da Wehmut und ein romantischer Schein über der Erinnerung? – Eher nicht. Es ist sogar verblüffend, mit welcher klaren Strenge die Autorinnen und Autoren auf ihre Kindheit schauen, auf fehlende, abwesende oder schweigende Väter, auf Väter, denen Arbeit und Auto wichtiger waren als eine Beschäftigung mit den Kindern. Mütter kommen etwas besser weg. Aber schon diese kurze Rückschau ins vergangene Jahrhundert zeigt, welche Umbrüche es auch im Rollenbild der Erwachsenen gab und wie verbissen und unausgesprochen Familie noch bis in die 1960er Jahre gelebt wurde.

Aber die Umbrüche gehen noch tiefer. Denn die Älteren unter den hier vertretenen Autoren wissen ja auch, wie sehr der Druck einer zunehmend “liberalisierten” Wirtschaft auch die Lebenswege der Kinder bestimmt hat – sie arbeiten heute irgendwo in Übersee oder haben neben ihrem “Fulltime-Job” keine Zeit mehr, die Eltern zu besuchen, die Kommunikation ist schon vor Jahren abgerissen und wenn man sich trifft, merkt man, dass man sich nichts mehr zu sagen hat. Nicht weil man das nicht wollte, sondern weil sich die Lebenswelten nicht mehr berühren.Also richtet sich die Hoffnung der Alten auf die Enkel, die noch nicht von Arbeitsfrust oder quälenden Partnerschaftssorgen belastet sind. Da sind Oma und Opa noch in ihrer Rolle. Aber auch das ist kein sicherer Zustand. Denn heutige Generationen werden ja deutlich älter als noch die Großeltern oder Urgroßeltern. Ein langes Leben heißt aber eben oft auch, dass sich Großelternschicksale auf einmal im Pflegeheim abspielen. Oder in jahrzehntelanger Einsamkeit, weil der Lebenspartner ungesund gelebt hat bis zum Schluss. Und so können nun die Kinder wieder erzählen von den oft genug verwirrenden Begegnungen mit den Menschen, die ihnen als Vater und Mutter einst als so unerschütterlich und stark erschienen – und nun? Nun sind sie oft genug verstummt, können sich kaum noch artikulieren. Oder das frustrierende Leitthema des Lebens wird endgültig exemplarisch, weil sie nun tatsächlich alle Fähigkeit verloren haben, auf die nie beantworteten Fragen der Kinder zu reagieren.

Denn die sind – anders als die Altvorderen – ja mit dem Wunsch aufgewachsen, dass über all die Dinge, über die die Alten stets nur schwiegen – tatsächlich endlich geredet wird: Liebe, Partnerschaft, Sexualität, … – Und wieder ist nichts. Die Alten antworten wieder nicht. Oder haben sich – wie der Großvater vor Jahren – ganz romantisch erschossen.

Das Gespräch beginnt tatsächlich erst, wenn auch die Eltern beginnen, sich als lernende und irrende Menschen zu begreifen. “Es ist so leicht ein Kind zu machen / In den Sekunden kopfloser Gier”, schrieb Tamara Danz einst für den “Silly”-Song “Blinder Passagier”, den Ralph Grüneberger mit aufgenommen hat in das Heft. Und dann? – Dann fängt das eigentlich Komplizierte erst an. “Es ist so leicht ein Kind zu verderben / Wenn du bestrafst was du ungestraft machst”, schrieb Tamara Danz wie in einer Antwort auf Bettina Wegners “Sind so kleine Hände …”

Denn Kinder lernen von ihren Eltern – auch all das, was diese eigentlich nicht als Erziehung begreifen. Und so schreiben einige Autoren auch – wie Ingo Cesaro – von der Flucht vor ihren Eltern oder vor der Angst, genauso zu werden wie sie. Natürlich gibt es auch die anderen, die neuen Eltern, die sich darüber freuen, wenn ihr Sohn ihnen gleich drei Schwiegertöchter verschafft. Wozu natürlich Toleranz, Offenheit und Lebenslust gehört. Wer sich in alten Vorstellungen vom “So war es immer” einkapselt, der wird nicht viel Freue haben an einer Welt, in der sich Vorstellungen vom Leben, Lieben und Partnersein immer weiter öffnen, in dem die uralten Rollenbilder immer abschreckender wirken. Natürlich schwebt über allem die durchaus reizende Frage: Was ist denn nun Familie?

Mehr zum Thema:

20 Jahre Lyrikgesellschaft: Das Buch zum Jubiläum ist jetzt auch fertig
Manches dauert ein wenig länger …

Aus Gedichten “Gegen den Krieg” wird ein Videoclip-Wettbewerb: Schwarze Ängste – Poetry Clips gegen den Krieg
Es ist Krieg. Die Hälfte der großen …

Worte sind Boote: Eine DVD mit den zwölf besten Film-Clips zu den Gedichten
Eine echte Leipziger Premiere findet …

Dass man “eine ganz normale Familie” nur noch mit einigen ironischen Gedankenstrichen sagen kann, scheint fest zu stehen. Aber auch das andere scheint festzustehen: Wie sehr sich Menschen diese ganz persönlichen Netzwerke wünschen und auch wünschen, dass sie funktionieren. Nicht nur auf Zeit. Aber auch die Zeit spielt eine Rolle. Auch Familien sind kleine Gesellschaften, die sich verändern – und sie gehen in die Brüche, gerade dann, wenn Manche versuchen, die heile Welt mit aller Macht zu bewahren. So ein wenig schwingt das auch im Bild “In der Gondel” von Norbert Wagenbrett mit, das das Cover ziert: Hat es zwischen den beiden Liebenden nicht gerade mächtig gerumpelt? Was schwelt zwischen ihnen und wie werden sie sich entscheiden, wenn die Gondel hält? Und wer bekommt das Kind? – Das Hinschauen lohnt sich schon. Denn Kinder sind keine Verfügungsmasse (mehr). Sie haben ein Wörtchen mitzureden.

Familien sind kein Idealzustand, den man für schmalzige Fernsehfilme inszenieren kann. Sie sind harte Arbeit am Leben. Voller Ankünfte und Abschiede, Trost und Streit. Knapp 70 Texte von sensiblen und auch hartnäckig fragenden Autoren sind hier versammelt, die zusammen eine ganze bunte Welt ergeben und zeigen, wie vielschichtig Familie ist und wie unsicher der Grund auch für die Älteren meist ist. Ein Lebensabenteuer. Das aus Dichtersicht nie zu Ende erzählt ist.

Poesiealbum neu “In Familie. Gedichte”, Edition Kunst & Dichtung, Leipzig 2013, 6 Euro

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar