Pratajev ist zwar ganz offiziell tot, 1961 an den Folgen eines ausschweifenden Lebens gestorben. Aber Holger Makarios Oley hat den russischen Dichter und Alleskönner ja nicht erfunden, um nun lauter Trauergesänge anzustimmen. Im Gegenteil: Der Bursche führt in immer neuen "Textfunden" ein Leben wie Brechts Baal.

Und das Erstaunliche ist: Er bleibt genauso schwammig und ungreifbar wie Brechts Lebenskünstler, auch wenn er in unzähligen Anekdoten, Sprüchen, Erinnerungen von Freunden und Gespielinnen auftaucht, sogar Artikel schreibt in ursowjetischen Gazetten (für die es dann aber auch oft eine Rüge gibt). Dieser Bursche stammt eindeutig aus spätsozialistischen Zeiten, auch wenn seine Herkunft wohl nicht in russischen Birkenwäldern, sondern in märkischen zu suchen ist. Natürlich ist er ein alter ego von Makarios, der mit seiner Band Die Art auch die Behörden und amtlichen Spanner der späten DDR-Zeit in Verzweiflung stürzte.

Und den Rochus auf das piefige Leben in der spätsozialistischen Zeit lebt er in seinen Pratajev-Geschichten aus, kehrt das Unterste zu oberst, macht aus Funktionären die provinziellen Geschaftlhuber, die mit der ökonomischen Not ihre goldenen Wasserhähne verdienen und für schäbige Deals immer zu haben sind. Unverkennbar: tiefste, verlottertste Provinz. Wo einer wie Pratajev eine Berühmtheit ist, übel beleumundet und hoch verehrt vom Volke. Und keineswegs bescheiden. In diesem Band nun präsentiert er sich auch mal als Wunderdoktor, der aus tiefster Überzeugung und Scharlatanerie die Medizin revolutioniert. Zum Teil auf recht drastische Weise.Aber wundersame Erkrankungen wie Holz- und Salzaugen erfordern natürlich wundersame ärztliche Praktiken. In gewisser Weise stellt der medizinische Teil der hier versammelten Texte eine fröhliche Reminiszenz an die großen Lügengeschichtenerzähler der Literatur dar, ein wenig auch an die großen Clowns der frühen sowjetischen Literatur – wie Michail Sostschenko, der sein großes Leiden an einer irre gewordenen Zeit in wunderschönen Satiren und Grotesken verewigte, in denen manchmal auch sein psychisches Kranksein an dieser Welt durchschimmern durfte – wie etwa im “Himmelblaubuch”.

Pratajevs Welt ist auch eher nicht das stalinsche und chrustschowsche Russland, sondern eher das noch ein bisschen verrückte Russland der NÖP-Zeit (ab 1921), in der man sich mit allerlei wundersamen Berufen durchschlagen konnte, ohne gleich die Aufmerksamkeit der Tscheka zu erregen: Biberbeobachter, Holzkarussellführer, Pillenerfinder oder – wie in diesem Buch: Hilfszahnarzt und Hobbyorthopäde. Sehr zum Leidwesen der professionellen Ärzteschaft, denn der radikale Wunderdoktor scheint die Leute geradezu aus Arztpraxen und Kliniken zu vertreiben. Und böse Sprüche und Lieder gibt’s obendrein. Manches davon wohl auch sangbar und im Programm der Russian Doctors zu finden, die im richtigen Leben halt Holger Makarios Oley und Frank Bröker heißen. Bröker fungiert für diesen Band als Herausgeber.

In dieser Funktion versucht er dem Pratajev-Verehrer nun den Burschen auch noch als Erfinder der modernen Fetisch- und Lack-und-Leder-Industrie anzubieten. Was in diesem Fall nicht ganz aufgeht. Dass Pratajev und seine besten Freunde gewaltige Lustböcke waren und in der Datscha ihres Verlegers Wallgold wilde Wintermonate zubrachten, das passt noch ins Tableau auch der wilden Erinnerungen der einst jungen Krankenschwesterschülerinnen, die in ihren Memoiren von den Wochen in der Datscha schwärmen. Aber die heutige Fetisch-Industrie irgendwie im rauen russischen Liebesleben zu verorten, das gelingt nicht so recht. Da kann sich die Pratajev-Forschung noch so mühen. Es klappt nicht.Oder klappt es nur nicht, weil man Pratajev die ganze Zeit als besoffenen Baal-Typus vor Augen hat, der zu allem Möglichen fähig ist, aber nicht zur freiwilligen Unterwerfung vor Frauen? Hübsche Frage. Vielleicht sogar eine Systemfrage, auch wenn Helga Bauer, die viel Erwähnte, gern als peitschlustiges Frauenzimmer geschildert wird. Die Pratajev-Gestalt schillert und zittert, manchmal wie ein ratternder alter Stummfilm: Ist er nun so ein mutloser, abgerissener Dostojewski-Typ oder eher doch so ein wilder Kerl à la Majakowski, der auch mal seine eigene Tochter in einem Teehaus zurücklässt, weil ihn die Runde der Freunde zum nächsten Besäufnis ruft?

Eins zumindest haben auch die hier versammelten Versatzstücke zu Pratajevs Leben gemeinsam: Sie schwelgen munter drauflos in fröhlicher Übertreibung, närrischer Wildheit und der prallen Liebe zum unverantwortlichen Leben. Dabei geht es zuweilen auch recht finster zu – wie in der seltsamen Forschungswerkstatt Wallgolds. Die Geschichten sind auf ihre Art ein bisschen Punk, ein bisschen Dolldreistigkeit, ein bisschen Sehnsucht nach einem wilderen Leben, als es auch einem Leipziger Erz-Punker so möglich ist. Denn wo sind sie denn, diese schlüpfrigen Birkenwälder, diese wilden Ebenen mit den übermütigen Dörfern und ihren deftigen Bewohnern?

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Pratajev. Medizin und Fetisch
Holger Makarios Oley, Verlag Andreas Reiffer 2014, 12,90 Euro

Punk lebt ja auch vom täglich erlebten Widerspruch, dass das wilde Leben nur noch in gestrengen Gehegen möglich ist. Und man ahnt, warum sich eine sexuell verklemmte Bürgerschaft heuer in Fetisch-Wesen und Fesselspiele flüchtet. Wer nicht richtig lebt aus vollem Herzen und voller Lunge, der braucht Ersatz. Klingt das etwa an, wenn Pratajev über Fetische nachsinnt – ihre Rolle als Prothese, Krückstock, Vehikel für eine Welt von Gefühlen, die sich der brave Konsument nicht mehr zu leben traut, aber online bestellt, weil er glaubt, er könne sich das Lebendigsein irgendwie erkaufen?

Dann doch lieber Pratajev lesen und mit allem Misstrauen ein Heringsbrötchen dazu essen.

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