Eigentlich ist St. Marien gar kein Dom im ursprünglichen Sinn, denn ein Dom ist in der Regel eng mit dem Amtssitz des Bischofs verbunden. Kurzzeitig war das Wurzen freilich im 15. und 16. Jahrhundert, als der meißnische Bischof lieber im ruhigen Wurzen amtierte, als sich auf dem Domberg in Meißen mit den wettinischen Landesherrn auf engstem Raum zu drängeln. Da baute er sich lieber in Wurzen ein eigenes Schloss, das in wesentlichen Teilen noch heute gleich neben St. Marien erhalten ist.

Wurzen ist also, wie so manches Kleinod im Leipziger Land, auch für Geschichtsinteressierte eine Reise oder einen Tagesausflug mit der S-Bahn wert. Und wer sich St. Marien zum Ziel setzt, der hat nun einen handlichen Führer durch das Gebäude, dessen Vorgängerbau 1114 begonnen wurde. Kirchen sind ja in der Regel Bauwerke, die über Jahrhunderte gewachsen sind und immer wieder erweitert und verändert wurden.

Andrea Sander hat ihrem Buch zwei ausklappbare Tafeln beigefügt. Gleich die erste macht farblich schon sichtbar, in welchen Etappen St. Marien gebaut und erweitert wurde – von der zwischen 1114 und 1160 gebauten kurzschiffigen Basilika über die gotische Erweiterung 1260, bei der auch die beiden Türme angefügt wurden,  bis zu den spätgotischen Anfügungen der beiden Chöre, die die Kirche zu einem präsentablen Bischofsdom machten. Und damit sich der Leser ein Bild machen kann von der Baugeschichte, erzählt das die Autorin recht ausführlich – schildert auch die Baubefunde, die bei den Umbauten und Sanierungen des 20. Jahrhunderts gemacht wurden.

Denn so richtig ordentliche Bauakten überdauern ja eher selten die Zeit. Da muss man dann die architektonischen Spuren lesen können und auch die Verbindungen erkennen, die die Handschrift diverser sächsische Baumeister erkennen lassen. Denn auch zum Bau eines Domes brauchte man Profis, die seinerzeit gefragt waren, denn präsentable Kirchen und Schlösser wurden überall in Sachsen gebaut. Mal waren es Fürsten, die zeigen wollten, was sie in der Schatulle hatten, mal die Stadtobrigkeiten, die Kirchenbauten auch als Prestigeobjekte betrachteten.

Der aufmerksame Architekt sieht das heute noch, auch wenn dann noch zwei, drei Mal der große Putz durchs Haus ging. Das muss so nach der Renaissance der Fall gewesen sein, aber richtig gründlich erfolgte es durch Christian Ludwig Stieglitz, der den Dom St. Marien um 1830 als ersten in ganz Sachsen im aufkommenden neogotischen Stil ausstatten ließ – ein Vorgang, wie ihn St. Thomas in Leipzig erst ein halbes Jahrhundert später erlebte. Die Neogotik ist eng mit der deutschen Spätromantik verbunden und ist ein Versuch, das in gotischen Formen interpretierte Mittelalter in der Kunst wieder aufleben zu lassen – im Grunde der Anfang all dessen, was man heute summarisch Historismus nennt. Wer aufmerksam durch einige alte Kirchen und Schlösser geht, begegnet dieser Welt, die das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert geradezu als heimelig und heimatverbunden empfand.

Die Wurzener hatten sich das schwere Holzmobiliar aber 1931 satt gesehen und entrümpelten die Kirche komplett. Für Andrea Sander ein bisschen bedauerlich, denn damit wanderte das früheste Beispiel sächsischer Neogotik in den Ofen. Aber die Bilder, die sie ihrem Buch beigegeben hat, zeigen, wie sehr die Kirche damals den mit schweren Holzmöbeln überladenen Wohnstuben der Wohlstandsbürger ähnelte – und wie das schwere Gestühl die Raumwirkung völlig zunichte machte.

Die aber wurde 1931/1932 wieder sichtbar, als Emil Högg begann, den Dom umzubauen und jene lichten sakralen Räume wiederherzustellen, die man heute sehen kann, auch wenn man den Umbau dann meist mit Georg Wrba in Verbindung bringt, der anfangs mit der Ausgestaltung des Doms mit Kunstwerken beauftragt wurde, später aber Högg aus seiner Position verdrängte.

Andererseits sind die Arbeiten von Wrba im Dom heute die Hauptattraktionen – die expressive Kreuzigungsgruppe im Chor genauso wie das Lesepult, das von einem nackten Jüngling getragen wird, oder die eindrucksvolle Bronzekanzel.

Andrea Sander nimmt den Leser mit in die Türme, die Sakristei, aber auch in die eindrucksvolle Bischofskapelle, in der sich noch Malereien aus der Umbauzeit erhalten haben.  Auch das Kaminzimmer und das alte Archiv lässt sie nicht aus. Sie reißt auch kurz die Geschichte des Domkapitels und der Domherren an, die die jüngere Entwicklung des Gebäudes zu verantworten haben. Und im zweiten Teil des Buches lädt sie den Leser ein zu einer Inventarbesichtigung – denn auch wenn 1931/1932 aller störende Besatz aus dem Kirchenschiff entfernt wurde, haben sich dennoch einige eindrucksvolle Kunstwerke und Epitaphe in der Kirche erhalten, manche aus anderen Häusern hierher gebracht. Etliche Kunstwerke sind auch im Fundus der Kustodie eingelagert und einige sollen künftig im Domarchiv gezeigt werden, das eine Dauerausstellung des Domkapitels aufnehmen soll.

Die zweite Ausklapptafel zeigt dann im Grundriss der Kirche, wo die einzelnen geschilderten und mit Bildern gezeigten Kunstwerke zu sehen sind – von 1, dem Epitaph der Maria Cundisius, bis 44, den Porträtköpfen der beiden Domherren Hermann Ilgen und Friedrich Krugs von Nidda und von Falkenstein, beide von Geor Wrba und im Kaminzimmer angebracht.

Man kann sich also vor dem Wurzenbesuch schon einmal richtig schlau machen über das, was man in St. Marien zu sehen bekommt. Und dann wissend nickend durch das 900 Jahre alte Gemäuer wandeln, wenn man mag. Und wer das Kleinod noch nicht kennt, der kommt durch das Büchlein vielleicht auf den Geschmack. Denn nach Wurzen wollte man doch wohl immer schon. Liegt ja quasi direkt vor der Haustür.

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