Er gehört zu den wichtigsten Leipziger Fotografen des frühen 20. Jahrhunderts. Manche nennen ihn gleichauf mit Hermann Walter. Der Leipzig-Kalender 2014 der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH (LTM) ist komplett mit Fotos des 1876 geborenen Fotografen Johannes Mühler bestückt. Vielleicht, um mal ein kleines Jubiläum zu würdigen, das sonst keiner feiert: Am 27. Januar 1914 erwarb Johannes Mühler das Leipziger Bürgerrecht.

Das war damals noch etwas Besonderes. Heute ist jeder sofort ein Leipziger, wenn er sich auf dem Ordnungsamt angemeldet hat. Mühler stammt – wie die meisten Leipziger, die es im Lauf ihres Lebens zu einem bekannten Namen schaffen, nicht aus Leipzig. Geboren wurde er in Frohburg als Sohn eines Bäckers, war anfangs auch Bäckergehilfe, ließ sich dann aber – ab 1901 – in Leipzig zum Chemigrafen ausbilden. Das war damals noch ein richtiger Beruf. Dabei musste Mühler Klischees als Vorlagen für den Buchdruck herstellen. Manchmal muss einer – das ist heute ja nicht anders – ein paar Umwege gehen, bis er einmal in seinem Wunschberuf landet. Man lernt was dabei. Und manchmal tun sich unterwegs die richtigen Abzweigungen auf.

Da nun einmal mit dem großen Jahreskalender Fotos von Johannes Mühler derzeit in hunderten Büros und Wohnstuben hängen, ist es eine gute Gelegenheit, den Mann auch einmal mit einem besonderen Buch zu würdigen. Das dachten sich zumindest Katrin und Klaus Sohl und vertieften sich in elf Fotoalben, die aus der Familie von Johannes Mühler überliefert sind. Schon das etwas Besonderes, denn wann bekommt man schon einmal Gelegenheit, in den Familienalben anderer Familien zu blättern und das auch noch, ohne die Leute zu kennen?

Solche Alben sind etwas ganz Besonderes und werden – wenn sie nicht vererbt werden – wohl in der Regel vernichtet, wenn ihre Besitzer tot sind. Aber bei einem wie Mühler lohnt sich natürlich der Blick in die Bilderfluten. Zeigt sich nicht auch hier der begnadete Fotograf? Nimmt er nicht etwas mehr wahr als der übliche Familienvater, der seine Angehörigen posieren und stramm stehen lässt: Hierher gucken! Lachen! Nicht so steif! – Man hat sie ja sofort vor dem Auge, all die Amateurfotografen, die mit dem Apparat in der Hand zum Dirigenten werden. Und dann doch nur Fluten belangloser Bilder produzieren.
Mühler war’s auch nicht geschenkt. Aber in dem Unternehmen, in dem er als Chemigraf anheuerte, bekam er die Chance, die richtige Abzweigung zu nehmen und Fotoaufträge zu übernehmen. Das war das 1834 gegründete Verlagshaus J. J. Weber in der Reudnitzer Straße 1 – 7 / Ecke Hans-Poeche-Straße. Vermutlich hat er an der Königlichen Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe, so schreiben die beiden Herausgeber, auch noch eine Weiterbildung zum Fotografen gemacht. Gewohnt hat Mühler mit seiner Frau Anna Maria, die er 1902 geheiratet hat, nicht allzuweit von seiner Arbeitsstelle im Grafischen Viertel – in der Eilenburger Straße 3, also direkt am Eilenburger Bahnhof. Erdgeschoss. Das waren auch damals die etwas billigeren Wohnungen. Später zog die Familie mehrmals um – immer in Reudnitz: Charlottenstraße, Nostitzstraße, Heinrichstraße. Die beiden Töchter Dora und Erni wurden in der Markuskirche getauft und dann an der VII. Bürgerschule am Stephaniplatz eingeschult.

Da laufen die Reudnitzer auch heute herum und finden nichts mehr, denn das alles ist verschwunden: Eilenburger Straße 3 (da steht heute das Seemann-Karree), Eilenburger Bahnhof, Markuskirche, Reudnitzer Rathaus, die Schule am Stephaniplatz. Nur die Reste von Verlag und Druckerei J. J. Weber (wo auch mal die “Illustrirte Zeitung” gedruckt wurde), gibt es noch: als “Grafischer Hof” an der Hans-Poeche-Straße.

Doch diese Landschaft hat Mühler augenscheinlich nicht fürs Familienalbum fotografiert. Jedenfalls sind solche Aufnahmen nicht mit in dieses Buch gerutscht. Auch die großen Aufnahmen des blühenden und wachsenden Leipzig, wie sie im Mühler-Kalender zu sehen sind, tauchen nicht auf. Dafür darf der Leser teilhaben an der ganz privaten Geschichte der kleinen Familie, denn Mühler scheint seine kleine Welt von Anfang an mit der Faszination wahrgenommen zu haben, wie sie wohl jeder Vater hat, der seine Lieben wachsen und zu kleinen Persönlichkeiten heranreifen sieht. Da er das aber in einer Zeit tat, als die übliche Familienfotografie mit den kleinformatigen Kameras noch nicht möglich war (die kamen erst 20 Jahre später auf), erzählen die Bilder so beiläufig auch eine Menge über den Alltag dieser Zeit. Da und dort berühren sich die Fotomotive mit den damaligen aufwändigen Atelierfamilienbildern, die ja vor allem den gesellschaftlichen Stand der Fotografierten zeigen sollten – im Festtagsstaat und so steif, als wäre man auf einem Staatsempfang.
Aber Mühler fotografierte die Seinen auch beim Spazierengehen (auch dazu brezelte man sich um 1910 noch auf mit Stock und Hut), bei Ausflügen in die nähere Umgebung oder bei Reisen durchs schöne Sachsen, bei Weihnachtsfesten und Besuchen auf Kleinmesse und Töpfermarkt. Im Zentrum fast immer Erni und Dora in den wechselnden Verkleidungen ihrer Zeit, mal mit ihrer Lieblingspuppe, mal mit Kinderwagen. Doch viele Fotos verraten auch, dass Papa Mühler keine Kamera dabei hatte, bei der er einfach mal kurz auf den Auslöser drückte. Deswegen musste er die Bilder ein bisschen arrangieren, manchmal auch regelrecht inszenieren. Aber das scheint für die Mädchen und die eher selten lächelnde Anna irgendwann schon Gewohnheit gewesen zu sein. Die beiden Mädchen genießen die Aufmerksamkeit des Vaters augenscheinlich und entwickeln sich so vor der Kamera zu echten Charakteren, bei denen man sich dann irgendwann sagt: Wenn du sie jetzt auf der Straße triffst, dann kennst du sie doch, kannste auch gleich grüßen.

Nur die Interieurs der Wohnungen verwirren. Denn das hat man zuletzt wirklich bei Uroma und Uropa gesehen. Wenn überhaupt. Diese mit dunklen Tapeten ausgekleideten “guten Stuben” mit den dunklen Möbeln, den schweren Ölbildern, dem mächtigen Kanapee und den festlich gedeckten Tafeln – das könnte vielleicht wieder auftauchen, wenn der Bürgerverein im Waldstraßenviertel einmal sein Gründerzeit-Museum fertig bekommt. Der Fotograf ist übrigens immer wieder mit im Bild, ist augenscheinlich immer noch schnell mit hineingehuscht in die Aufnahme, wenn ein richtiges Familienfoto entstehen sollte.

Ansonsten hat er wahrscheinlich seine wohl etwas sperrige Kamera immer mitgenommen, auch wenn es zum Ausflug nach Dölitz ging, auf den Bienitz bei Rückmarsdorf oder an der Parthe lang nach Taucha. Damals genossen die Leipziger noch den Weg ins nahe Grün, picknickten im Wald – so wie 1916 bei Beucha oder 1920 im Oberholz. Die Mädchen sammelten Blumen oder Himbeeren, die Decke zum Rasten war immer dabei. Heute, in unserer von Raserei und Fitness getriebenen Welt, fast schon nicht mehr denkbar. Aber für die Leipziger vor 100 Jahren normal. Und auch leichter zu bewerkstelligen. Etwa wenn die Mühlers und die mit ihnen befreundete Gruber-Familie 1910 vom Dölitzer Wehr durch den Wald bei Gautzsch nach Cospuden wanderten. Alles verschwunden heute. Heute erinnert eine Boje auf dem Cospudener See an die Stelle, wo bis zum Abbaggern mal der Flecken Cospuden lag.Die Bilder aus den alten Fotoalben zeigen also das, was in den üblichen repräsentativen Bildbänden zur Leipziger “Gründerzeit” nicht gezeigt wird: das sonntägliche Leben der ganz normalen Leipziger. Die Mühlers führten ganz augenscheinlich einen kleinbürgerlichen Haushalt, in dem die Dinge, die heute so schwer und so teuer anmuten, auch fürs Leben halten mussten – gerade das edle Mobiliar in der guten Stube. Aber was man hatte, das zeigte man auch. Und die Kleider der Mädchen fertigte Anna Mühler wohl größtenteils selbst an. Die Wohnungen, die die Mühlers bezogen, lagen dann auch nach und nach etwas höher im Haus. Und die Wochenendausflüge wurden weiter, gingen nach Colditz, zur Wechselburg, nach Meißen, später auch an den Bodensee, in die Alpen, an den Gardasee. Und Johannes Mühler hatte seine Kamera immer dabei, später dann wohl auch kleinere Modelle. Die Mädchen fingen irgendwann auch an zu fotografieren.

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Johannes Mühler. Bewahrte Augenblicke
Eudora-Verlag 2014, 22,90 Euro

Und dann ist das Buch auch schon zu Ende und man muss erst einmal wieder auftauchen aus dieser fast romantischen Bilderwelt und sich vergewissern: Das ist jetzt lange her. Johannes Mühler starb 1952. Dora und Erni haben beide geheiratet. Dora verschlug es nach Kitzingen, Erni fing beim Mitteldeutschen Rundfunk als Sekretärin an (und schaut auf einem der letzten Fotos (wenn sie das ist) aus einem Fenster in der Alten Waage hinaus auf den Markt. Und natürlich wären Erni und Dora heute auch schon hochbetagte Uromas. Das vorletzte Bild in diesem Buch stammt von 1946 und zeigt Erni mit ihren Eltern. Dann heißt es Abschied nehmen. Auch wenn das schwer fällt. Denn eines schaffen diese Bilder aus Mühlers Familienalbum: zu zeigen, wie Johannes Mühler die Seinen liebte. Das schafft wirklich nicht jeder Fotograf. Dazu braucht es ein Händchen.

www.eudora-verlag.de

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