Eigentlich weiß es Dirk Schmalzried ganz genau, wo die Grenze verläuft zwischen wissenschaftlichem Denken und Glauben. Die Grenze ist scharf. Er zitiert sie selbst auf Seite 96 seines Büchleins: "Was nicht standardisiert und objektiviert wiederholbar ist, existiert wissenschaftlich gesehen nicht." Und trotzdem will er es nicht akzeptieren. Aus Glaubenssicht verständlich. Und trotzdem falsch.

Aber leider auch: im Trend der Zeit. Als würde nun in einem zunehmend verunsicherten Zeitalter alles wieder zurückgedreht, was die Aufklärung in den letzten 300 Jahren mühsam erarbeitet hat. Als könnte man wissenschaftliche Arbeitsprozesse einfach aushebeln, indem man Wissenschaftlern vorwirft, dass sie immer noch nicht alles wissen, nicht alles bewiesen haben, die eigenen Theorien in Zweifel stellen, Messergebnisse immer wieder in Frage stellen, Erklärungen von allen Seiten diskutieren, Fehlstellen sichtbar machen und sie zu füllen versuchen. Nichts gehört so zum wissenschaftlichen Diskurs wie der Zweifel. Doch wer Forschungsergebnisse in Frage stellen will, der braucht in der Regel eine bessere Theorie, die die beobachteten Vorgänge schlüssiger erklärt als die alte. Und: Er muss sie beweisen können.

Irgendwie in diesem Zwischenraum operieren heute eine ganze Menge Autoren, manche den Kreationisten nahe, andere einfach aus dem Bauchgefühl heraus, man könne es einfach so machen und den Zweifel der Forscher einfach gegen sie selbst kehren nach dem Motto: “Na wenn ihr selber schon nicht sicher seid, dann haben ja wohl wir Recht.”

Und leider tut das auch Dirk Schmalzried. Und verdirbt damit eine schöne Buchidee. Und zwar gründlich. Obwohl er weiß – und er schreibt es ja auch gleich auf Seite 97: “Glauben ist vor allem etwas auf der Gefühlsebene in der Beziehung zu Gott.” Aber dabei mag er es nicht belassen und kreidet gleich im nächsten Satz der Wissenschaft das “Negieren des Glaubens” an. Er hätte ihn doch gern drin. Obwohl der dort nichts zu suchen hat. Wirklich nichts. Wissenschaftler, die nur glauben, was sie behaupten, haben die Grundlagen der wissenschaftlichen Arbeitsweise verlassen.Und auch dabei belässt es Schmalzried nicht. Im zweiten Teil des Buches versucht er gar, die Darwinsche Theorie auszuhebeln und gar die wissenschaftliche Suche nach dem genetischen und geografischen Ursprung der heutigen Menschheit umzudeuten in einen Beweis für Eva und Adam. Das ist purer Kreationismus. Auch eine andere Theorie kramt er hervor und nimmt die heftigen Diskurse der Wissenschaftler um den “Urknall” zum Anlass, diese hochwissenschaftliche Diskussion mit der alten Formel zu erledigen: Wenn man über diesen Ur-Moment so wenig weiß (zumindest deutet es Schmalzried so), dann läge doch nur die Idee des großen Schöpfers auf der Hand.

So verwandelt sich ein zutiefst religiöses Buch in ein Ärgernis.

Aber das ist nicht neu. Das geht der Diskussion um die Nahtod-Erfahrungen seit Jahren so. Seit 1977 machte das Buch “Leben nach dem Tod” von Raymond A. Moody auch in Deutschland Furore, erlebte 34 Auflagen. Andere Autoren folgten. Denn das Thema an sich übt seine Faszination aus auf Menschen: Was passiert mit unserem Bewusstsein, wenn wir sterben? – Die klassische – religiöse – Theorie dafür nennt sich Seele. Die Seele kommt in den Himmel oder die Hölle oder andere Zwischenreiche.

Denn eines ist für Menschen genauso schwer vorstellbar wie der “Urknall”: dass sich ihr Bewusstsein einfach auflösen könnte, wenn der Körper stirbt.

Nahtod-Berichte faszinieren auch Wissenschaftler, auch wenn sie die Erzählung der Betroffenen eher nicht als ein Loslösen der Seele oder gar den Übergang in ein andere Welt oder Dimension interpretieren, sondern als sehr komplexe Reaktionen unseres Gehirns. Denn wie es wirklich funktioniert, das wurde erst in den letzten Jahrzehnten tatsächlich zum zentralen Forschungsgegenstand. Und eigentlich weiß Schmalzried auch, wie komplex diese Diskussion verläuft. Er greift sich aber aus den vielen Tausend Veröffentlichungen wieder nur ein Zitat heraus, das scheinbar bestätigt, dass die Forscher im Grunde genauso ticken wie die Gläubigen und da beim Übergang vom Leben zum Tod etwas ganz Geheimnisvolles vermuten. Er zitiert zum Beispiel die Arbeit von Klemenc-Ketis, Kersnik und Grmec zur Rolle von Kohlendioxid im Blut bei Nahtod-Erfahrungen. Doch ihre Einschränkung, dass der Kohlendioxidgehalt im Blut die Nahtod-Erlebnisse allein nicht erklärt, kehrt er einfach um und erklärt bündig, das Forschungsergebnis lege genau das Gegenteil einer materialistischen Erklärung nahe. Was es nicht tut. Die Forscher hatten lediglich bilanziert: “Ganz offensichtlich bringt uns die Tatsache, dass es Nahtoderlebnisse gibt, an den Rand dessen, was wir über das menschliche Bewusstsein und sein Verhältnis zur Gehirnfunktion bisher wissen und verstehen.”

Ganz offensichtlich meinten sie damit nicht, dass sie sich jetzt wieder zur religiösen These einer Seele bekennen, sondern schlicht: Die Forschungen zur Funktionsweise des menschlichen Bewusstsein sind nach wie vor am Anfang. Es gibt noch jede Menge offener Fragen, die geklärt werden müssen.

Das Buch zerfällt also ganz offensichtlich in zwei Teile.

Der erste Teil könnte zumindest gläubigen Menschen Lesevergnügen machen. Denn Schmalzried konfrontiert hier die heutigen zumeist in Schriften wie der von Moody veröffentlichten Nahtod-Berichte mit all den Stellen in der Bibel, die sich mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen. Er stellt zuweilen mit lautem Erstaunen fest, wie sehr sich Bilder und Eindrücke gleichen und wie stark viele (nicht alle) Nahtod-Berichte christlich konnotiert sind. Für ihn ein Beweis, dass es das Jenseits gibt und dass alle Menschen diesen Weg gehen und dass die geschilderten Erlebnisse deshalb so christlich sind, weil es dieses Danach in dieser Form tatsächlich gibt.Was er nicht beweisen kann. Zumindest einen Mediziner zitiert er, der aus seiner Praxis durchaus weiß, wie sehr sich die Erzählungen der Patienten auch an den Erwartungen der Ärzte ausrichten. Ausgeklammert bleibt, wie stark die vielen Jenseits-Berichte in der Bibel selbst die heutigen Sichtweisen auf das Sterben und das Danach prägen. Die Erzähler leben ja nicht in einer abgeschotteten Welt. Sie sind oft mitten in stark religiös geprägten Gesellschaften aufgewachsen.

Was nicht bedeutet, dass sie sich im Moment des Erwachens nicht an das Letzte erinnern, was in ihrem Gehirn vor sich ging. Aber es beeinflusst, wie sie davon erzählen und welche Vorbilder sie zur Beschreibung benutzen.

Was die geschilderten Nahtod-Erfahrungen nicht beweisen, ist der zeitliche und örtliche Ablauf des Erinnerten. In welcher Zeitspanne lief das ab, an das sie sich erinnerten? War das wirklich in dem Zeitraum, in dem die Messegeräte keine Gehirnaktivität mehr wahrnahmen? Das sind Fragen, die Schmalzried nicht anspricht. Da würde er so langsam in eine wissenschaftliche Diskussion kommen.

Dabei ist der Versuch, die Nahtod-Berichte mit den biblischen Quellen abzugleichen, durchaus engagiert. Denn darin spiegelt sich erstaunlicherweise nämlich etwas anderes: wie stark menschliche und christliche Lebensvorstellungen auch beeinflussen, wie die Betroffenen am Ende ihr eigenes Leben bewerten. Deswegen hat Schmalzried genug Material, sich über christliche Wertvorstellungen auszulassen und die starke Wirkung von christlichen Lebensnormen auf das Gewissen jedes Einzelnen zu diskutieren. Bis hin zu diesem letzten Moment, in dem einer für sich Bilanz ziehen muss: Habe ich ein ehrliches/christliches Leben gelebt? Habe ich meinen eigenen Ansprüchen genügt? Oder war das alles nur schein-heilig?

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An der Pforte zum Himmel
Dirk Schmalzried, St. Benno Verlag 2014, 14,95 Euro

Es ist eine Denkwelt, die auch deutlich macht, wie sehr christliche Lebensvorstellungen unsere Gesellschaften auch heute prägen. Aber sie lässt sich aus den Nahtod-Berichten nicht herausretuschieren. Man hat es mit keinen wissenschaftlichen Feldforschungen zu tun, sondern mit einem Feld, das Umfrageinstituten viel vertrauter ist: Schon eine leicht veränderte Fragestellung kann ein Umfrageergebnis völlig verändern.

Man hat es nicht mit objektiven und beweisbaren Forschungsergebnissen zu tun, auch wenn Dirk Schmalzried gern und häufig schreibt “Fakt ist …” Das verwandelt subjektive Berichte noch längst nicht in Beweise. So schade das klingen mag aus gläubiger Sicht. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es einfach so. Da zählen tatsächlich nur Fakten, die unter gleichen Bedingungen jederzeit wieder gemessen und bestätigt werden können. Nichts anderes.

Die Suche nach dem genetischen Ursprung der Menschheit: https://de.wikipedia.org/wiki/Mitochondriale_Eva

Die komplexe Welt der Forschung zu Nahtoderfahrungen: https://de.wikipedia.org/wiki/Nahtoderfahrung#Beleg_f.C3.BCr_Weiterleben_der_Seele_nach_dem_Tod

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