Das Märchen ist eigentlich legendär. Jeder kennt es. Jeder weiß, was darin geschieht und welche „Tugenden“ eines selbstgefälligen Herrschers darin aufs Korn genommen werden. Und Kinder können mit Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von 1837 prima zurechtkommen, denn sie wissen noch, was Märchen sind. Und was Nacktheit. Aber selbst heute noch sorgt das Märchen dafür, dass sich völlig überforderte AfD-Stadträte in der Ratsversammlung so richtig blamieren.
Ob es tatsächlich reihenweise empörte Eltern waren, die in der AfD-Fraktion im Rathaus anriefen, nachdem ihre Kinder mit der Schulklasse in der Inszenierung von „Andersens Märchen“ im Schauspiel Leipzig waren, wie AfD-Stadtrat Tobias Keller behauptete, muss man so stehenlassen.
Vielleicht gibt es ja tatsächlich wieder Eltern mit einem Sittenverständnis wie im frühen 19. Jahrhundert, die sich dann empört bei der AfD melden. Die Partei gibt es ja auch deshalb, weil eine ganze Reihe Leute sich moralisch wieder ins 19. Jahrhundert entfernt haben und die alten Empörungsmechanismen wieder greifen, über die sich Andersen einst mit seinem Märchen lustig machte.
Aber schon die Fragen, die die AfD-Fraktion dann für die Ratsversammlung formulierte, erzählten davon, wie schlecht die älteren Herren aus der Fraktion mit dem Thema umgehen konnten. Und das besserte sich auch am 18. Dezember nicht, als AfD-Stadtrat Roland Ulbrich versuchte, das Thema irgendwie doch noch in eine Frage zu gießen, dabei aber irgendwie zu vermeiden versuchte, völlig peinlich zu wirken. Was ihm hörbar misslang.
„Ist dem Oberbürgermeister bekannt, dass in dem oben genannten Theaterstück ein lebensechter menschlicher Penis gezeigt wird?“, hatte die AfD-Fraktion tatsächlich in ihrer wohlbehüteten Keuschheit gefragt. Und die Antwort aus dem Dezernat Kultur war dann eigentlich so deutlich, dass sich jede Nachfrage erübrigt hätte.
„Im Stück ‚Andersens Märchen‘ werden mehrere bekannte Märchen und Erzählungen des dänischen Autors Hans Christian Andersen behandelt. Auch die längst sprichwörtlich gewordene Erzählung ‚Des Kaisers neue Kleider‘ ist Teil der Aufführung. Auf der Bühne ist aber die Nacktheit der Figur des Kaisers natürlich nicht echt zu sehen, sondern im Gegenteil durch ein (als solches klar erkennbares) Ganzkörperkostüm, das einen menschlichen Körper darstellt. Da die Figur in Andersens beliebtem und im abendländischen Kulturraum klassisch gewordenem Märchen als nackt beschrieben wird, stellt auch das Kostüm im Sinne der Werktreue Nacktheit dar, mit allen entsprechenden Körperteilen.
Als sicht- und erkennbares Kostüm aus Stoff stellt es nicht ‚lebensecht‘ oder in seiner Gänze ‚haargenau einen menschlichen Penis‘ aus, wie in der Anfrage missverständlich formuliert.“
Wer empörte sich da eigentlich?
Aber die AfD-Fraktion hatte sich ja auch noch versucht als Hüter der ach so unschuldigen Kinder zu zelebrieren: „Ist dem Oberbürgermeister bekannt, dass das genannte Theaterstück minderjährigen und kindlichen Zuschauern einer städtischen Schule vorgeführt wird?“
Die armen Kinder, möchte man ausrufen. Obwohl jeder, der Kinder oder Enkel hat, ganz genau weiß, dass die kleinen Menschlein viel härter im Nehmen sind, als es sich älteren Herren mit ernster Miene auch nur vorstellen können.
„Das Angebot des Schauspiel Leipzig richtet sich an eine breite Öffentlichkeit, darunter – besonders im Falle des alljährlichen Familienstücks (‚Weihnachtsmärchen‘) – auch an Schulgruppen. Dies erfolgt im Rahmen des öffentlichen Auftrags des Schauspiel Leipzig“, hatte das Kulturdezernat geantwortet. Und da es Bilder und Inhaltsangabe zum Stück auch auf der Website des Schauspiels gibt, können auch Lehrer und Eltern nicht behaupten, sie hätten nicht gewusst, was die Kleinen da zu sehen bekommen.
Aber sind denn nicht die ganz Kleinen aus dem Kindergarten noch besonders unschuldig?
Aus Sicht der AfD-Fraktion irgendwie schon: „Ist dem Oberbürgermeister bekannt, dass das genannte Theaterstück vom Schauspiel Leipzig, einem Eigenbetrieb der Stadt Leipzig, das Prädikat ausweist ‚Empfohlen ab Vorschulalter‘?“
„Die Altersempfehlungen des Schauspiel Leipzig werden durch geschultes Personal aufgrund von professionellen pädagogischen Einschätzungen ausgesprochen. Dabei handelt es sich jederzeit lediglich um Richtwerte. Ob eine Inszenierung individuell für ein bestimmtes Kind geeignet ist, obliegt der abschließenden Beurteilung durch Erziehungsberechtigte bzw. Betreuungs-/Lehrpersonal“, hatte das Kulturdezernat geantwortet.
Die AfD und die Frühsexualisierung
Aber dann kam es erst richtig dick in der AfD-Anfrage mit einer Frage, die tatsächlich an blühendes 19. Jahrhundert und die damals herrschende Moral erinnerte: „Sieht der Oberbürgermeister in einer derartigen Darstellung gegenüber Kindern im städtischen Schauspielhaus die Gefahr einer Frühsexualisierung oder einer Verstörung von Kindern?“
Wer im Videoausschnitt aus der Ratsversammlung den Saal die ganze Zeit kichern hört, wenn AfD-Stadtrat Roland Ulbrich versucht, sich irgendwie ohne größere Blessuren durch das Thema zu hangeln, der dürfte auch an den schriftlichen Antworten aus dem Kulturdezernat seine Freude haben.
„Durch die komisch-groteske Darstellung des Kaisers mittels des beschriebenen Ganzkörperkostüms wird im Gegenteil eine distanziert-entsexualisierende Haltung zur Nacktheit entwickelt. Die Komik entsteht unter anderem dadurch, dass eben keine echte Nacktheit gezeigt wird, sondern durch ein sichtbar künstliches und damit verfremdendes Kostüm Nacktheit bedeutet wird.
Eine schamhafte Darstellung (beispielsweise mit übergezogener Unterwäsche oder anderweitig ‘versteckten’ Genitalien) hätte umgekehrt die Mystifizierung von Nacktheit verstärkt und die Darstellung so umso mehr für sexualisierende Projektionen geöffnet. Die Reaktionen in mittlerweile 39 Aufführungen zeigen deutlich, dass genau diese groteske Komik als Kern der Darstellung wahrgenommen wird. Und zwar von Jung und Alt. Die genannte Gefahr wird daher nicht gesehen.“
Der gefährliche Herr Andersen
Umso verblüffender, dass die AfD trotzdem in den lavierenden Empörungsmodus geriet. Am liebsten wäre den schamhaften älteren Herren wohl gewesen, es hätte ein fetter Warnhinweis auf „Andersens Märchen“ geklebt: Vorsicht, nackter Kaiser!
Oder in der Formulierung der AfD-Anfrage: „Gedenkt der Oberbürgermeister gegenüber städtischen Schulen einen Hinweis dahingehend zu erteilen, dass der Besuch des Theaterstücks ‚Andersens Märchen‘ für minderjährige Schüler nicht geeignet ist?“
Wieder die armen Kinder, die für die verklemmte Moral einer Altherrenpartei herhalten müssen.
„Das Schauspiel Leipzig verweist auf seiner Website in Wort und Bild auf die Art und Weise der Darstellung des Kaisers in der Inszenierung. Im Rahmen der Unterrichtsfreiheit steht es somit jeder Schule und Lehrkraft offen, informiert zu entscheiden, ob der Besuch der Vorstellung pädagogisch richtig erscheint“, hatte das Kulturdezernat erklärt.
„Im Zweifelsfall und jederzeit können sich die Schulen und Kitas an das theaterpädagogische Personal des Schauspiel Leipzig für eine differenzierte, professionelle Einschätzung wenden. Diese Möglichkeit ist den Schulen bekannt und wird vom Schauspiel Leipzig breit kommuniziert. Weitergehende Hinweise werden daher als nicht notwendig eingeschätzt.“
Und während Roland Ulbrich nicht so wirklich zu fassen bekam, was ihn an der kostümierten Nacktheit nun besonders verstörte, brachte es Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke eigentlich auf den Punkt: Kinder wachsen mit Nacktheit auf. Für sie ist das nichts Unbekanntes. Und sie können mit Andersens hintersinnigem Märchen auch sehr gut umgehen. Sie verstehen den Witz in der Geschichte. Bei manchen Erwachsenen aber scheint gerade dies ein Problem zu sein.
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