Ein Glücksmoment für Peter Schwarz: Der erste Band seiner auf drei Bände konzipierten Leipziger Stadtgeschichte ist da. Pro Leipzig macht's möglich und hat "Das tausendjährige Leipzig. Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts" jetzt im Programm. Für alle, die sich noch einmal des Standes des Wissens versichern wollen, bevor die große dreibändige Ausgabe der Stadt erscheint.

Denn der Unterschied ist natürlich deutlich: Für das dreibändige Projekt der Stadt ist ein ganzes Team von Forschern unterwegs, die jedes einzelne Kapitel der Stadtgeschichte noch einmal durchforsten, neue und alte Quellen prüfen, neue Forschungsergebnisse mit einbeziehen und möglicherweise in vielen Bereichen auch Neues offerieren. Das dauert, das kostet Geld und wird dann wohl für die nächsten Jahrzehnte der Standard sein.

Die Möglichkeiten hat ein Hobbyhistoriker wie Peter Schwarz natürlich nicht, auch wenn er mal Geschichte studiert hat und auch als Lehrer in der Schule vermittelte. Heute ist der 1959 geborene Markkleeberger Immobilienkaufmann und betreibt die Lokalgeschichte als Hobby, was in der Regel heißt, dass er sich alle verfügbaren öffentlichen Quellen besorgt. Da sind vor allem die offiziellen Bücher zur Stadt- und Lokalgeschichte, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erschienen – aber auch die noch älteren wie Johann Jakob Vogel (1714), Eduard Sparfeld (1851) oder Gustav Wustmann (1879 ff.) lässt er nicht aus. Wer die Geschichte seiner Heimat liebt, der besorgt sich alles, was verfügbar ist. Auch die viel zu seltenen Veröffentlichungen des Landesamtes für Archäologie oder einige der neueren Werke etwa mit den Beiträgen zum Tag der Stadtgeschichte. Wer will, kann schon lange schwelgen in dem Material. Und Peter Schwarz hat es getan.

Im Grunde hat er es ganz ähnlich gemacht wie Horst Riedel, als der sein eigenes Stadtlexikon für Leipzig zusammenstellte aus einem über Jahre gewachsenen Archiv mit lauter Quellbelegen aus öffentlichen Schriften (vor allem Zeitungen und Magazinen). Auch dieses Stadtlexikon ist bei Pro Leipzig erschienen.
Wer sich die ganzen Bücher der vergangenen – sagen wir mal – 25 Jahre nicht zugelegt hat, bekommt mit Peter Schwarz jetzt so eine Art Zwischenstand der Überlieferung, im Band 1 die Zeit von den frühen Siedlungsfunden bis ungefähr ins Jahr 1770. Gegliedert in elf Kapitel – von “Die Stadt der Sümpfe” bis zu “Das augusteische Zeitalter”. Manche Kapitel drängen sich einfach auf. So eine tausendjährige Stadtgeschichte ist ja geradezu eingepackt in die großen historischen Entwicklungskapitel des Kontinents, der Nation und des Landes. Erst recht, wenn sie sich so ab 1165 herum einbettet in die große Handelsgeschichte des Kontinents, was dann auch ein Extra-Kapitel “Vom Jahrmarkt zur Reichsmesse” ergibt.

Schwarz hat versucht, die Kapitel auch noch in Unterkapitel zu gliedern – was nur logisch ist und auch zwingend, denn wenn er mit seinem Buch etwas beweist, dann ist es die schlichte Tatsache, dass man von der schieren Faktenfülle erschlagen werden kann. Und was weiß man inzwischen nicht alles – über Kramerfamilien, berühmte Professoren, Stadtpfeifer und Thomaskantoren, rebellische Studenten, Stadtwachen und Zolleinnahmen, Stadtgericht und Halsgericht, Huren, Bettler und Vertreibung wie Wiederansiedlung von Juden, über die ganzen Schlachten vor der Stadt (Lützen, Breitenfeld I, Breitenfed II, Mockau), über Pest und Siechenwesen, Friedhöfe, Kirchen, Münzstätten und Ratshäuser …

Und das ist nur ein kleiner Teil der Dinge, die über den Leser des Buches hereinstürzen, von Peter Schwarz über Jahre mit Lust in sein Computerprogramm hineingeschrieben. “Unzählige Abendstunden und Wochenenden” hat er dem Projekt gewidmet, verschwand in seinem Arbeitszimmer und hatte am Ende ein über tausendseitiges Werk beisammen, in dem das Meiste versammelt war, was bislang zur Geschichte Leipzigs öffentlich zugänglich ist. Da und dort lässt er freilich auch durchblicken, dass einige Quellen mittlerweile sehr historischen Charakter haben. Und das trifft nicht nur auf Johann Jakob Vogels “Leipzigisches Geschichts-Buch” zu, das heuer 300 Jahre auf dem Buckel hat, sondern auch auf das emsige Großwerk Gustav Wustmanns und – mittlerweile auch recht deutlich – sogar die Arbeiten von Herbert Küas, der die Nachkriegszeit nutzte, um in der kriegszerstörten Stadt einige wichtige Brennpunkte der mittelalterlichen Stadtentwicklung zu ergraben – mit zum Teil sehr fragmentarischen Ergebnissen, die aber bis heute wieder einige Interpretationen der Stadtgeschichte bestimmen. Aber auch davon wird Etliches durch die intensive Grabungsarbeit des archäologischen Landesamtes seit 1990 stark infrage gestellt.

Die Archäologie hat ihr Entwicklungstempo in den vergangenen Jahrzehnten – vor allem durch den Einsatz modernster Technik – deutlich verschärft und die Blicktiefe verstärkt. Schwarz deutet es an – kann aber seinen Kanon nicht verlassen. Das wird – so kann man nur hoffen – mit der offiziellen Stadtgeschichte 2015 dann zumindest in wesentlichen Teilen der Fall sein.

Natürlich wird auch 2015 die Stadtgeschichte nicht umgeschrieben werden müssen. Tatsächlich sind ja die diversen Leipzig-Chroniken, die seit dem 16. Jahrhundert erschienen, jeweils der Versuch, mit dem jeweiligen Stand der Forschung Stadtgeschichte zu schreiben – sehr sagen- und legendenhaft selbst noch bei Zacharias Schneider (1655) oder David Peifer (1689), ab Johann Jakob Vogel (1714) dann schon im Geist der Aufklärung und eines erstarkenden (Bildungs-)Bürgertums. In den Chroniken spiegelt sich also auch immer der Anspruch der selbstbewusster werdenden Stadtgesellschaft, der sich dann ab Gustav Wustmann auch mit verstärkter Quellenarbeit verbindet. Eigentlich muss man sagen: Arbeit mit den Primärquellen – in Wustmanns Fall waren das die unzähligen, damals einfach ungeordnet auf dem Boden des (Alten) Rathauses gelagerten Ratsakten, deren Wert für die Leipziger Geschichtsschreibung Wustmann als Erster erkannte. In gewisser Weise hat er als Erster so eine Art belastbares Gerüst gezimmert, in dem Leipzigs Geschichte hinfort mit Fakten gestützt ausformuliert werden konnte.

Der so wichtige Teilbereich der archäologischen Erkundung entwickelte sich zu seiner Zeit gerade erst und nahm tatsächlich erst im 20. Jahrhundert die heute anerkannten Forschungsstandards an. Dass also einzelne Kapitel immer noch korrigiert, neu eingeordnet, neu justiert werden müssen, liegt in der Natur des Forschungsfeldes. Und wer die jüngeren Diskussionen um Leipzigs Geschichte mitverfolgt hat – dargelegt in wesentlichen Teilen auch in den Berichtbänden zum “Tag der Stadtgeschichte”, die im Leipziger Universitätsverlag erscheinen, oder dem vom Leipziger Geschichtsverein herausgegebenen “Jahrbuch Leipziger Stadtgeschichte”, das im Sax Verlag erscheint, der wird sich auf vielen Seiten so seine Kringel an den Rand malen und darauf warten, was dann 2015 die emsigen Forscher der Universität dazu sagen werden.

Der Geschichtsinteressierte wird natürlich erst einmal ob der schieren Faktenfülle staunen, aber auch ein gutes Lesezeichen brauchen, denn tatsächlich hätte auch dieser erste Band deutlich mehr Kapitelüberschriften gebraucht, ein Sach- und Personenregister sowieso. Denn natürlich wird so eine Stadtgeschichte erst durch die handelnden Akteure lebendig, die diversen Markgrafen und Kurfürsten, die sich mit den Leipziger Bürgern und Ratsherren stritten, die Gelehrten, Kaufleute und Baumeister, die Dichter, Musiker und Prediger. All die Frauen nicht zu vergessen, die Leipzig genauso zu etwas Besonderem gemacht haben wie die Zeitungsmacher, die Bankiers und Bürgermeister.

Erst sie machen greifbar, wie die Stadt sich seit ihrer Gründung in immer neuen Phasen häutete und eine neue – auch im Stadtbild sichtbare – Entwicklungsstufe erklomm, was ja bekanntlich immer mit Geld verbunden war. Ohne ging es noch nie. Und da passiert es Schwarz fast so nebenbei, dass er zwei wichtige Entwicklungsstadien besonders beschreibt – die Geburt der Renaissancestadt Leipzig und – 150 Jahre später – die der Barockstadt Leipzig (die dann Bach und Goethe kennenlernten). Gern und oft zitiert er das Staunen der Besucher über diese Stadtqualität, die augenscheinlich damals schon deutlich abstach von dem, was andere Städte in deutschen Landen zu bieten hatten. Was ja nun freilich damit zu tun hatte, dass Leipzig eben keine Residenzstadt war – auch wenn die Wettiner immer wieder versuchten, auf das Baugeschehen in Leipzig Einfluss zu nehmen – von Markgraf Dietrich bis zum starken August, nach dem dann das Augusteische Zeitalter benannt ist.

Mitten im 18. Jahrhundert bremst Peter Schwarz dann lieber, denn tatsächlich folgte dem barocken Stadtumbau fast auf den Fuß schon die nächste Phase der Stadtentpuppung. Die dann der Auftakt sein wird im zweiten Band.

www.proleipzig.eu

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