Manche Leute fahren ganz weit weg - um wenigstens mal ein bisschen abzuschalten. Oder auszuticken, je nachdem. Denn richtig Abschalten können die Wenigsten. Sie finden weder im Alltag noch im Urlaub dazu. Aber was kann man machen, wenn man unbedingt was machen muss, um mal abzuschalten? Gute Frage, schöne Antwort.

Selbst in der “Süddeutschen Zeitung” hat der Schweizer Mathematiker Hans Walser mittlerweile ein Zeichen dafür gefunden, dass ein paar Zeitgenossen es begriffen haben und Konzentration und Hingabe wieder als Weg zur Verinnerlichung für sich begriffen haben. Das spielte eigentlich schon bei all den anderen Büchern eine Rolle, die er in der Edition am Gutenbergplatz veröffentlicht hat, reich mit Beispielen und Zeichnungen gespickte Einführungen in die Grundlagen von Mathematik und Geometrie. Doch es waren eben keine Schulbücher, sondern regelrechte Einladungen an Leute, die ihrem Kopf wieder einmal etwas zum Knobeln geben wollen, richtige Trainingsaufgaben, die wieder Logik und Klarheit ins Denken bringen.

Mit dieser Kehrseite der modernen Informationsgesellschaft und der Allgegenwärtigkeit von kleinen Rechenprogrammen, die uns das Leben “erleichtern”, haben sich auch Soziologen, Pädagogen und Psychologen noch nicht wirklich beschäftigt, obwohl sie alle wissen, dass es dem menschlichen Gehirn genauso geht wie dem menschlichen Körper: Wenn beide nicht regelmäßig in Bewegung sind und im Training, dann verfetten und verkümmern sie.

Was auch auf unsere Gesellschaft ausstrahlt, denn was passiert eigentlich in einem gesellschaftlichen Diskurs, in dem immer mehr Teilnehmer nicht mehr in der Lage sind zum logischen Denken und auch die simpelsten mathematischen Regeln nicht mehr beherrschen? Kann es sein, dass man sich da mit Zombies unterhält, die die Zusammenhänge nicht mal begreifen, aber “Lösungen” vorschlagen, die alles nur noch schlimmer machen? Die aber auch nicht mal ahnen, wie verkorkst ihr Denken ist und die ihren Beitrag zur Diskussion für sinnvoll und belastbar halten?

Taschenrechner sind Lernverhinderungsmittel

Das wird sich mit ziemlicher Gewissheit in ein paar Jahrzehnten als die große Tragik des frühen Informationszeitalters herausstellen – nicht weil dann Computer die Welt “regieren” (was sie ohne Zweifel irgendwann tun werden, wenn die modernen Gesellschaften die naturwissenschaftliche Grundausbildung in ihren Schulen immer weiter verlottern lassen (und da sind wir ganz auf der Position von Neil Postmann – daran haben auch alle Revolutiönchen seit 1990 nichts geändert – Computer und andere technische Spielzeuge haben in der Schule genauso wenig zu suchen wie seinerzeit Fernseher. Bevor junge Menschen nicht gelernt haben, komplizierte Aufgaben auch im Kopf zu rechnen, haben auch Taschenrechner dort nichts zu suchen. Oder mal ganz frech formuliert: Taschenrechner sind keine Lernmittel, sondern Lernverhinderungsmittel …)), sondern weil die simplen Algorithmen der Computer Dinge sicherer und erfolgversprechender erledigen werden als die unstrukturierten Menschen, die in den Schulen ihre Denkfertigkeiten nicht ausgebildet haben.

So weit weg von der Beschreibung der drohenden Abgründe menschlicher Dummheit war Herbert Georg Wells in “Die Zeitmaschine” nicht.

Aber ein paar Leute haben sehr wohl begriffen, wohin wir kommen, wenn wir das Denken anderen überlassen und uns von der Allgegenwart der Mediengesellschaft jagen lassen, Nächte, Tage und Urlaube im Lärm der Unterhaltungsmedien verbringen und nicht mal jenseits der Arbeit feste Ruhepunkte einbauen, an denen wir uns wieder erden, uns ausklinken aus dem Jederzeit-Geschäftigsein, dem Verplanen jeder Minute und dem, was man mal Zeittotschlagen, mal Abhängen, mal Berieselnlassen nennt.

Ein Gehirn lässt sich nicht berieseln.

Ein Gehirn wird zum weißen Rauschen, wenn es immerfort nur undurchdachten Müll konsumiert, selbst aber nie gefordert wird, sich zu “sammeln”, zu konzentrieren, zu strukturieren und ganz strukturiert Probleme zu lösen, Logiken und Strukturen zu erkennen und sie auch sinnvoll einzuordnen. Unser Gehirn ist ein “Maschinchen”, das sich erst richtig wohl fühlt, wenn es Probleme lösen darf. Das hat aus dem Affen den Menschen gemacht. Und es hält unser Köpfchen fit. Das kann man auf die schöne anspruchsvolle Weise trainieren, wie es die anderen Bücher Walsers vorschlagen.

Man kann es aber auch auf die spielerische Weise tun, wie es nun dieses Buch vorschlägt, das erste Ausmalbuch aus dem EAGLE-Verlag. Der Trend kommt aus den USA. Aber das heißt ja nicht, dass es dumm ist, das mal zu übernehmen. Mancher kennt das schon aus Kinderzeiten, als man mit Akribie Sternenmuster ausmalte. Je älter man dabei war, umso fantasievoller wurden die Muster und Farbgebungen, umso feiner wurden die Stifte, umso komplizierter wurden die Muster.

Daran knüpft Walser jetzt an, indem er die geometrischen Muster aus seinen letzten Büchern alle gesammelt und auf eine ganze Seite großgezogen hat. Die Erklärungen zu den konstruierten Figuren findet man hinten im Buch. Man beschäftigt sich also ganz zwangsläufig auch ein wenig damit, wie diese geometrischen Muster eigentlich konstruiert wurden, welche Logik dahinter steckt. Es gibt Muster, die sind recht einfach. Aber die wirklich faszinierende Geometrie fängt ja an, wenn man aus Würfeln, Dreiecken, Rhomben, Spiralen, Kreisen und so weiter immer komplexere Figuren konstruiert.

Und gerade das, was man mit Rhomben und Zwölfecken anstellen kann, führt in eigentlich wenigen Schritten zu Gebilden, die man in den großen Rosetten von Kathedralen und Kirchen schon gesehen hat. Diese Gebilde laden also geradezu dazu ein, sie auch wie große Glasfenster zu gestalten und zu satten Farbtönen wie Rubin, Smaragdgrün oder Pariser Blau zu greifen. Aber nicht ohne Grund hat Walser unter seinen Zeichnungen auch noch verkleinerte Abbildungen platziert, die (mit schwarz gefärbten Flächen) deutlich machen, welche Art besonderer Konstruktion jetzt genau zu diesem geometrischen Gebilde geführt hat. Und sie zeigen auch, dass viele der Figuren in Wirklichkeit dreidimensional sind. Was natürlich beim Ausmalen einen weiteren Reiz ergibt: Schafft man es mit der richtigen Farbgebung, auch das Plastische der Figur sichtbar werden zu lassen?

Die Freuden des Ausmalens

Was also wie ein schlichtes Ausmalbuch daherkommt, ist also eine kleine, feine Herausforderung für unser farbliches und räumliches Sehvermögen. Und an unsere Malstifte. Denn während einige Figuren ohne viel Aufwand mit gewöhnlichen Buntstiften ausgemalt werden können, verlangen andere geradezu nach einem Könner oder einer Könnerin, die fähig sind, Stifte wirklich spitz zu halten und mit stiller Geduld auch winzigste Feldchen auszumalen.

Einige der komplexesten Figuren freilich rufen sogar noch nach besserem Stiftmaterial – jenen filigranen Tintenstiften, die es im Papierwarenladen in der Regel gleich neben der Kasse gibt. Aber wenn man satte Farben haben möchte, ist Tinte nun einmal die beste Wahl. In der “Süddeutschen” sagte die Autorin für die Freuden des Ausmalens auch mal einen der üblichen Partybesuche ab, wohl wissend, dass ein Abend über einem faszinierenden Muster oft viel anregender und ausfüllender sein kann als das so gern gepriesene Saufen, Tanzen und Schwofen. Die Freude dieser Versenkung entdeckt man wirklich erst, wenn man es macht. Und gerade weil man sich bei den ganzen kleinen Fitzelchen konzentrieren muss, kommt man auf Gedanken – und entdeckt so nebenbei, was da alles im eigenen Kopf parallel passieren kann, ohne dass man das Gefühl hat, überfordert zu sein. Das hat man eher, wenn man im täglichen Sumpf der Ablenkungen versinkt.

Noch schärfer ist natürlich, wenn man die von Walser gelieferten Figuren noch selbst konstruiert. Aber manchmal ist es ja ganz schön, wenn man einfach das Buch nehmen kann, eine Seite aufschlägt und dann mit Vorfreude die Stifte zurechtlegt.

Und nebenbei bemerkt: Man muss es gar nicht allein machen. Man kann sich auch mit seinen Freunden und Freundinnen hinsetzen. Schöner als Party wird das allemal.

Hans Walser “EAGLE-Malbuch. Formen und Farben, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2015, 9,80 Euro.

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Und wenn es mehr als “ausmalen” sein darf, sei ein MANDALA als Muster aus Gegenständen, die man in der Natur findet, etwa farbige Steine und Pflanzen(-Teile), empfohlen.
Herbstmanadalas, die üblicherweise aus bunten Blättern oder Früchten gelegt werden sind im besonderen geeignet.
https://www.google.de/#q=mandala+bedeutung

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