Es ist gar nicht so leicht für einen Theologen wie Ulrich H. J. Körtner, noch ein Plätzchen zu finden für die Theologie und die Religion in einer zunehmend säkularen Welt, in der die Diskussionen überschäumen und ethische Grenzen niedergetrampelt werden, weil ganze Fähnlein enervierter Diskussionsteilnehmer Vernunft und Fakten für überflüssig halten. Ein postfaktisches Zeitalter? Das ist auch nicht wirklich neu, stellt Körtner fest.

Tatsächlich hat sich der Wiener Theologe sehr viel vorgenommen mit diesem Buch, das so passend zum Reformationsjubiläum ist. Und so unpassend, weil die Jubilierenden augenscheinlich vergessen haben, dass Luther nie nur eine innerkirchliche oder rein theologische Angelegenheit war. Er hat sich früh eingemischt in fundamentale gesellschaftliche Diskussionen. Körtner zitiert zu Recht die Zwei-Regimenten-Lehre, die man (wenn man es ganz billig haben möchte) als Legitimation für Obrigkeiten lesen kann. Wenn man es aber genauer betrachtet, hat Luther damit auch gleich Grundgedanken geliefert für moderne demokratische Staaten und für die (vernunftbasierte) Trennung von Staat und Kirche.

Eine Trennung, die bis heute selbst völlig ungläubigen Geistern schwerfällt. Was Körtner kritisiert: Woher kommen alle diese mit Ausrufezeichen versehenen Forderungen, die Kirche möge sich doch endlich wieder als moralische Anstalt zu Wort melden, Position beziehen zu den Problemen der Zeit und vor allem eines tun: sittliche Maßstäbe definieren?

Scheinbar ist alles durcheinandergeraten. Die Diskussionen werden immer aggressiver. Und alle möglichen Leute schwingen die Moralkeule. Was aus Körtners Perspektive auch damit zu tun hat, dass Gefühl, Moral und Vernunft durcheinandergeworfen werden und große Teile der Politik nur noch auf die Entfesselung von Emotionen setzen. Man tauscht nicht mehr vernünftig Argumente aus.

Was an seinem Büchlein fehlt, ist natürlich die Frage, woher das kommt, wer da eigentlich den vernünftigen Diskurs unterläuft, um öffentlich wissenschaftliche Fakten infrage zu stellen und die pure Emotion zum rationalen Entscheidungsmoment zu erklären.

Was spätestens sichtbar wird, wenn Körtner auf die Reichtums-Armut-Debatte eingeht und ausgerechnet Thomas Piketty vorwirft, emotional in eine Debatte eingestiegen zu sein und populistisch zu argumentieren, die eindeutig interessengesteuert ist und von Besitzstandsdenken dominiert.

Im Grunde zeigt der vielbelesene Autor Körtner, dass er auch nicht frei ist von Emotionen und Parteilichkeit. Der Mensch ist so. Gerade deshalb hat ja die Aufklärung am stärksten daran gearbeitet, die blanken Emotionen zu zähmen und ein Staatsverständnis zu entwickeln, das von emotionalen Debatten nicht beschädigt werden kann, sondern menschliches Handeln rational reguliert.

Was eine schöne klare Argumentationslinie ergäbe. Wäre da nicht die Theologie, die doch irgendwie ein Plätzchen für die Religion zu finden versucht. Wohin gehört sie? Ist sie gar ein Korrektiv für die immer mehr mit Emotionen durchtränkten Debatten der Gegenwart? Eine Art moralischer Maßstab? Sollte sich Kirche unbedingt einmischen? In die öffentliche Debatte schon, stellt er fest. Denn wenn Religion eine Haltung zur Welt ist und auch ethische Standards beinhaltet, dann ist der Christenmensch verpflichtet, dazu öffentlich auch Position zu beziehen. Wobei Körtner sich auf Luther bezieht und dessen Rechtfertigungslehre.

Was ein hübscher intellektueller Sprung ist, denn einerseits ist es die kleine Erinnerung auch für alle Ungläubigen, dass wir nun einmal alle Sünder sind, Menschen, die irren, Fehler machen, nicht alles wissen und auch nicht allmächtig sind.

Ein Punkt, an dem er natürlich (er ist ja Theologe) Gott ins Spiel bringt, der als einziger allmächtig sein kann, über den Dingen steht. Und da er auch Kant immer wieder bemüht, kommt so ein kleines Aha-Erlebnis dabei heraus. Denn dann ist Gott zuallererst ein Versuch des Menschen, unseren Bezug zur Welt in ein Bild zu fassen. In ein großes, sicher beeindruckendes Bild. Dann steht „Gott“ für unsere Ohnmacht, für die schlichte Tatsache, dass wir diese Welt nicht gemacht haben und trotzdem in unserer menschlichen Hybris versuchen, sie vollkommen zu beherrschen. Das ist der moderne Machbarkeitswahn, der gerade bei einigen technokratischen Akteuren zu einer Allmachts-Attitüde wird.

Dieses 500. Jahr der Reformation wäre tatsächlich eine herrliche Gelegenheit, einmal  öffentlich darüber zu diskutieren, was Luther eigentlich alles angerichtet hat. Und warum das auch mit all dem zu tun hat, was wir heute der Welt, der Natur, den Mitmenschen antun. Und warum Religion nichts ist, was in die Tiefen theologischer Dispute gehört, sondern gerade in den Zusammenhängen diskutiert werden muss, die Körtner anreißt – Moral, Ethik, Vernunft.

Zu Recht haben schon die klügsten der Aufklärer den aufkommenden Vernunftglauben kritisiert, in dem sich der Machbarkeitswahn der aufkommenden hochtechnisierten Gesellschaften schon im 18. Jahrhundert zeigte. Das geht bis hin zu Adam Smith, dessen Vorstellung vom vernünftigen Markt diese Hybris genauso beinhaltet. Worauf Körtner nicht eingeht. Im Grunde hätte das Büchlein auch noch ein ordentliches Personenregister und eine Liste aller zitierten Bücher gebraucht. Gerade weil Körtner auf viele innertheologische Diskussionen eingeht, die er freilich mit einigen ethischen und philosophischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte verknüpft.

Natürlich kommt er auch auf die Grundwerte zu sprechen, die unsere heutigen Staaten bestimmen. Übrigens allesamt Ergebnis der Aufklärung, der Ausformulierung der Bürger- und Menschenrechte. Körtner meint, darin sei dann die lange christliche Tradition fortgesetzt, die ihrerseits wieder in den Moraldiskursen der Antike mündet.

Aber es hilft nichts. Hätten die Aufklärer und die Autoren der Menschenrechtscharta erst einmal die ethischen Gesetze der diversen (europäischen) Religionen seziert, um daraus etwas Neues zu machen, wären sie nicht weit gekommen. Was sichtbar wird, wenn Körtner das Dilemma der modernen Kirchen beschreibt, „die ihr Heil in säkularen Schwundstufen“ suchen, „nämlich Menschenwürde, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und allseits geübte Toleranz“.

Warum er von „Schwundstufen“ spricht, wird etwas später deutlich, wenn er wieder auf Luther kommt: „Wenn Luther im Großen Katechismus erklärt, unser Gott sei das, woran wir unser Herz hängen, dann hat Theologie die kritische Aufgabe, im öffentlichen Raum und in den verschiedenen Öffentlichkeiten zu fragen, woran Menschen de facto ihr Herz hängen und welche Folgen dies nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene hat.

Denn das, „woran wir unser Herz hängen“, das machen wir zu unserem Gott. Das bestimmt unser Handeln. Das beschwert uns aber auch, führt uns in die Irre, lässt uns Dinge vergötzen, die uns beherrschen (Vom Suchtcharakter unserer Gesellschaften haben wir ja nun wirklich schon genug geschrieben), die aber selbst wieder zu Macht werden, weil sie dann auch Gesellschaften beherrschen, Denken und Fühlen.

Manchmal hat man das Gefühl, Körtner hält sich mit der Zuspitzung dessen, was er schreibt, sogar noch zurück, will ganz im distanzierten essayistischen Diskurs bleiben.

Denn wenn wir uns von unseren Götzen beherrschen lassen, dann werden wir zu Getriebenen. Dann gehen wir mit der uns umgebenden Welt nicht mehr vernünftig, rational und rücksichtsvoll um, sondern werden beherrscht: von Sucht, von Gier, von Neid, von Zorn und Aggression. Von Emotionen, wie sie Körtner beschreibt, und von denen er früh im Buch schon feststellt, dass sie weder in der Religion noch in der Politik etwas zu suchen haben. Eben weil sie jede Debatte zerstören, auf Fakten und Wissenschaft herumtrampeln und der moralischen Prügelei in der Diskussionsarena den ganzen Platz einräumen.

Verständigung ist auf diese Weise nicht mehr möglich, weil es keine vernünftige Gesprächsgrundlage mehr gibt.

Und gerade die ist heute so bitter notwendig wie nie zuvor, denn hinter diesem fatalen Anspruch, dass Gefühle Fakten sein sollen und deshalb rechtmäßig alle wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Tisch fegen dürfen, bloß weil sie als Gefühle „real“ sind, steckt natürlich menschliche Überheblichkeit. Wer seine Gefühle so zum Maßstab aller Dinge macht, der setzt sich nicht nur über alle anderen Menschen, über Vernunft und Wissenschaft, der versucht in Wirklichkeit auch Gott zu spielen, sich selbst zum Maßstab aller Dinge zu machen.

Für den ist jede Einschränkung und Begrenzung seines Tuns ein Angriff auf seine einzigartige Auserwähltheit. Wobei zu ergänzen ist: Das betrifft nicht nur einzelne Menschen und Politiker, sondern auch Konzerne, die die Machbarkeit all dessen, wozu sie technisch in der Lage sind, auch mit Gewalt durchzusetzen versuchen.

Welche Dimension das annimmt, wenn man es aus christlicher Perspektive betrachtet, macht Körtner im Kapitel „Die Welt verschonen“ deutlich, wenn er schildert, was passiert, wenn der Mensch auf sein Machbarkeitsdenken verzichtet und aus Vernunftgründen akzeptiert, dass er – um die einmalige Welt, in der wir leben, zu erhalten – auf den Zugriff verzichtet, die Natur, die Meere, die Gesellschaft verschont. Einfach verzichtet, alles haben zu wollen.

Was natürlich die Frage aufwirft: Braucht unsere heutige Gesellschaft nicht gerade deshalb eine ordentliche ethische Diskussion?

Braucht sie, stellt Körtner fest. Und die Religionen sollten sich daran unbedingt beteiligen. Denn es geht ja noch weiter. Es geht ja nicht nur um den fatalen Allmachtswahn, der Mensch könnte die Welt verbessern, indem er alles an sich rafft. Dieser Gedanke (der übrigens in der Bergpredigt vorkommt) hat auch eine erstaunlich soziale Komponente: „Die Anerkennung des Anderen, die ihm das Seine zukommen lassen will und auf sein Wohlergehen bedacht ist, drückt sich in einer theologisch reflektierten Zurückhaltung aus.“

Man merkt schon, dass das nicht nur eine theologische Frage ist, sondern eine, die direkt in unsere gesellschaftlichen Debatten gehört. Denn dieser Aspekt – „den Anderen und die Schöpfung sein zu lassen“ – kommt in den ganzen Diskursen nicht mehr vor.

Wir sind keine gelassene Gesellschaft mehr, sondern werden von Leuten dominiert, die es nicht mehr fertigkriegen, Menschen sein zu lassen. Die ihnen Respekt und Würde absprechen und dann auch noch alternativlose Szenarien fordern, regelrechte Ultimaten, als wenn sie ein gottgegebenes Recht dazu hätten.

Was übrigens dazu führt, dass Politik immer öfter alternativlos wirkt. Oder so getan wird, als sei sie das. Die Leute, die das verkünden, erklären sich quasi selbst zum Dämon der Geschichte, in göttlicher Position: Sie kennen den einen und einzigen richtigen Weg.

Ergebnis ist eine zunehmende Visionslosigkeit, denn bekanntlich sind die Verkünder von Alternativlosigkeiten meist verdammt stur und phantasielos. Und vor allem: Sie verbieten den Menschen, ihr Leben und ihre Welt in Alternativen zu denken.

Dabei erzeugt schon die Fähigkeit zum Loslassen, zum Nicht-machen-Müssen eine Vielzahl von Alternativen. Und auch den Weg, Mitmenschen wieder mit Respekt zu betrachten und sie nicht fortwährend ändern und zurechtstutzen zu wollen. Stichwort: Leitkultur.

Leitkultur ist was für Leithammel. Und Leithammel führen die dumme Herde in den Schlachthof.

Körtners Buch ist – gerade in dem Versuch, auch deutlich zu machen, was eigentlich christliche Ethik zur aufgeklärten Gesellschaft beitragen kann – ein ambitioniertes Plädoyer für Vernunft, Misstrauen in instrumentalisierte Emotionen und für ein neues Bewusstwerden, dass Vernunft eben nicht bedeutet, dass wir das Machbare immerfort tun. Sondern dass wir – auch aus Respekt und Liebe zum Seienden – anfangen, das Lassen als Bereicherung für unser Leben zu begreifen.

Wir müssen nicht alles haben. Und wir müssen uns auch nicht alles gefallen lassen. Manchmal ist ein beherztes „Nein“ viel menschlicher als Jubel für den Schreihals in der Manege.

Ulrich H. J Körtner Für die Vernunft, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 15 Euro.

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