Alex Pohl ist eine Entdeckung. Eine späte Entdeckung, nicht nur für Leipziger Krimi-Leser. Denn Pohl lebt in Leipzig und ist schon lange einer der Erfolgreichen unter den deutschen Thriller-Autoren. Doch die Thriller hat er bisher immer unter seinem Pseudonym L. C. Frey veröffentlicht. Nun geht er erstmals unter seinem Klarnamen an die Öffentlichkeit und schockt die Leipziger Eltern mit einem Thema, das so unrealistisch nicht ist: „Eisige Tage“.

Und mit den beiden Hauptkommissaren Milovan Novic und Hanna Seiler erschafft er ein Ermittlerduo, das eigentlich mit sich selbst und den eigenen persönlichen und familiären Dramen genug zu tun hat. Damit hören die beiden Ermittler aber auch auf, über den Dingen zu schweben. Sie leben in derselben Welt wie die Täter und die Opfer, sie haben dieselben Ängste, spüren dieselbe Machtlosigkeit und können nur zu gut nachempfinden, wie es den Betroffenen von Verbrechen eigentlich geht.

Es wird trotzdem kein hilfloser Krimi, wie man ihn aus deutschen Landen nur zu gut kennt, gern auch verfilmt mit Akteuren, die das deprimierte Dreinschauen bis zur Perfektion beherrschen. Diese beiden hätten genug Grund, deprimiert zu sein. Aber in ihnen glüht der Wunsch, die Welt ein bisschen besser zu machen, wenigstens ein paar der Gräueltaten aufzuklären und ein paar finsteren Gestalten das Handwerk zu legen.

Aber wie macht man das in einer Welt, in der alles, wirklich alles zu Geld gemacht werden kann und das Geld bestimmt, wer das Sagen hat? Und in der Wehr- und Schutzlosigkeit gnadenlos ausgenutzt wird? Und wer wäre schutzloser als Kinder, die von zu Hause weglaufen, weil sie es mit überforderten Eltern nicht mehr aushalten?

Und dass Leipzig mit diesen familiären Problemen seit Jahren zu tun hat, belegt jeder Jugendreport. Die Geldleistungen für die Jugendhilfe steigen von Jahr zu Jahr. Die ganze Zerstörung gesellschaftlicher Verlässlichkeit wird gerade hier besonders sichtbar. Und wenn Jugendämtern immer öfter Fehler unterlaufen, hat das auch damit zu tun, dass sie immer öfter als Helfer in der Not tätig werden müssen.

Und auch die Polizei kann ein Lied davon singen: Immer wieder müssen gerade junge Mädchen zur Fahndung ausgeschrieben werden, weil sie zu Hause nicht mehr auftauchen. Oft sind es ganz ähnliche Geschichten, die sie dazu treiben. Gerade die Pubertät, in der sie nicht nur die Liebe entdecken, sondern auch ihren Wunsch zur Selbstbestimmung, wird für viele Familien zum Überlastungstest, lässt Eltern überreagieren oder bringt all die verdeckten Konflikte in der Familie erst so richtig zum Ausbruch.

Das schält sich als Hintergrund dieses Mordfalles erst so nach und nach heraus, nachdem in einem dilettantisch am Ufer eines Kanals festgefahrenen Auto die Leiche eines Mannes gefunden wird, der sich bald als ein gescheiterter Anwalt erweist, der aber zu einer Welt Beziehungen hat, die man für gewöhnlich Unterwelt nennt. Obwohl sich die Chefs dieser Welt aus Gewalt, Prostitution und Glücksgeschäft kaum noch Mühe geben, ihre Geschäfte im Dunkeln zu betreiben.

So wie Onkel Wadim in diesem Krimi, der von Leipzig längst als seiner Stadt spricht, der Stadt, in der er die Regeln bestimmt, weil er sich die Ordnungshüter entweder kaufen kann oder die Ermittler bedroht – so wie Seiler und Novic, die sehr wohl wissen, dass der Mann aus Russland sich ein eigenes Schattenreich aufgebaut hat, in dem seine Befehle widerspruchslos ausgeführt werden – und wer widerspricht oder stört, der muss damit rechnen, spurlos zu verschwinden.

Trotzdem kommen sie um die beschämenden Besuche bei diesem Man nicht herum, der selbst eine eisige Kindheitsgeschichte hat. In Rückblenden zeichnet Pohl nicht nur die Vorgeschichte seiner Helden. Die Szenen wirken beinah wie einfühlsame Kommentare zu einem eisigen Zeitalter, in dem graue Regime und hirnlose Kriege ganze Generationen mit Traumata belastet haben. Und davon kommen sie nicht los. Die einen verwandeln sich selbst in gefühllose Täter, andere finden kaum noch Vertrauen zu ihren Mitmenschen und suchen – wie Novic – ihre Zuflucht in der Musik.

Wobei dieser Novic, der seine schlimmsten Erfahrungen als Kind im Serbienkrieg gemacht hat, seine Unfähigkeit zur Nähe durch hochgradige Aufmerksamkeit kompensiert. Er nimmt auch die beiläufigen Ermittlungsergebnisse anders wahr, kombiniert sie augenscheinlich beim intensiven Grübeln und schreckt auch seine Partnerin beim Ermitteln immer wieder durch scheinbar völlig unmotivierte Reaktionen auf, die den Ermittlungen eine neue Wendung geben.

Und als aufmerksamer Leser merkt man, wie sauber das gearbeitet ist, denn man hat diese Details ja vorher auch gelesen. Sie wurden nicht einmal versteckt wie der berühmte Brief in Edgar Allan Poes Geschichte. Aber sie funktionieren erst einmal als eine dichte, sehr plastische Kulisse. Die Figuren und ihre oft tristen Lebensverhältnisse werden regelrecht greifbar. Samt der Kälte dieser schneeigen und eben auch gefühlskalten Weihnachtszeit, in der Pohl die Geschichte spielen lässt. Und erst im Verlauf der Handlung werden die so plastisch geschilderten Details greifbar als Spur, die Novic augenscheinlich auf die Sprünge hilft.

Dass die beiden Ermittler unter hohem Zeitdruck stehen, muss Pohl gar nicht erst erklären. Schlechtere Autoren walzen so etwas ja gern über Seiten aus. Aber die beiden Haupttäter in dieser Geschichte – selbst eigentlich noch unreife Jungen – handeln ja weiter. Sie haben eine Geldquelle für sich entdeckt, über die selbst Onkel Wadim nur in eisigen Zorn verfallen kann. Sie missbrauchen nicht nur das Vertrauen der Mädchen, die ein neues Obdach oder auch nur ein bisschen Abenteuer suchen, sie machen daraus auch noch Geld.

Und gerade über die Rolle des kleinen Großmauls Aljoscha, der die Mädchen wie „Kätzchen“ behandelt, wird auch Pohls spürbares Misstrauen in unsere heutige Jugendkultur greifbar. Denn die spielt genau mit diesen Verführbarkeiten und mit den falschen Männerbildern, die ausgerechnet Gangster und abgebrühte Mistkerle zum Ideal erhebt. Also eigentlich Typen wie Sergej und Aljoscha, die ihre Unfähigkeit, miteinander ehrlich und respektvoll umzugehen, hinter Zoten, Beleidigungen und auch Gewalt verstecken. Nur ja keine Schwäche zeigen.

Was für eine Welt …

Die Pohl gar nicht erfinden muss. Sie ist um uns. Sie beherrscht unsere Jugendkultur und jede Menge alter reicher Säcke machen damit Profite. In diesem Buch geht es freilich um eine andere Art alter Säcke, Leute wie den schäbigen Anwalt Malinowski, der gleich zu Beginn tot in seinem Auto gefunden wird. Und ziemlich bald wissen Seiler und Novic, dass es hier um das Leben von Mädchen geht, die seit Wochen und Monaten gesucht werden.

Mit Elise steht so ein Mädchen im Zentrum der Geschichte, und auch wenn ihr Elternhaus ein gutbürgerliches ist, wie man so schön sagt, mit Villa im Waldstraßenviertel, hält auch sie es bei ihren nur noch mit sich beschäftigen Eltern nicht mehr aus – und gerät genau da hin, wo sie sich nie erträumt hätte hinzukommen. Und die Zeit rast tatsächlich. Das wissen die beiden Ermittler und machen selbst in den Tagen vorm Weihnachtsfest lieber Überstunden, als auch nur die kleine Chance zu verspielen, der Mädchenhändlergeschichte auf den Grund zu kommen.

Dass sie dabei am Ende auch noch einen unheilvollen Deal mit Onkel Wadim eingehen, lässt schon ahnen, dass dieser Strang der Geschichte die Leser über das Buch hinaus beschäftigen wird. Denn welche Macht haben eigentlich Kriminelle, wenn sie über alles, was in „ihrer“ Stadt geschieht, besser Bescheid wissen als die Polizei? Wenn sie selbst die Ermittler einschüchtern können und auf einmal das, was in den Kriegen und Abgründen des letzten Jahrhunderts an Wahnsinn entstanden ist, mitten im nur scheinbar so friedlichen Leipzig Raum ergreift und eigene Parallelstrukturen aufbaut? Und wenn die sächsische Polizei jedenfalls überhaupt nicht vorbereitet ist auf diese konkurrierende Macht, die eines auf keinen Fall kennt: Skrupel.

Am Ende gibt es für Novic sogar noch ein Weihnachtsgeschenk, aber eines, von dem der depressionsgeplagte Kommissar sofort weiß, dass er dafür wohl teuer bezahlen muss.

Alex Pohl Eisige Tage, Penguin Verlag, München 2019, 10 Euro.

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