Es ist ein Buch, das passt mal wieder. In der ARD läuft die Serie „Charité“, die das wohl berühmteste Klinikum Deutschlands als regelrecht historisches Ereignis in Szene setzt. Und natürlich gibt es auch beeindruckende Teile mit dem weltberühmten Ferdinand Sauerbruch, gespielt vom eindrucksvollen Ulrich Noethen. Aber eine wirklich belastbare große Biografie über Sauerbruch gab es bis heute nicht. Dafür einige sehr boshafte Kampagnen, die den berühmten Chirurgen regelrecht zum Nazi-Sympathisanten machten.

Gerade nach der Jahrtausendwende sorgten diese Kampagnen für Aufregung, immer wieder mit denselben Argumenten untersetzt: seinem Staatsratstitel, seinem Ritterkreuz, seinem Nationalpreis … für den Historiker Christian Hardinghaus sehr seltsame Kampagnen, in denen selbst ein renommierter Medizinhistoriker das Bild des berühmten Arztes bis zur Unkenntlichkeit verzerrte.

Aber wer war dieser Sauerbruch wirklich? Und wie hat er sich in den zwölfeinhalb Jahren des Hitler-Regimes tatsächlich verhalten? Und: Wer kann darüber überhaupt authentisch berichten?

Es gibt eine Autobiografie von Sauerbruch, kurz nach dem Krieg erschienen, aufgezeichnet direkt nach seinen eigenen Erzählungen. Freilich Erzählungen aus einer Zeit, als Sauerbruch schon hochbetagt war und unter zunehmender Demenz litt. Ist sie zuverlässig? Ist sie nicht nur sensationell aufgemacht, damit sie sich bestens verkaufte?

Wahrscheinlich ist sie sehr authentisch, auch wenn sie eine Seite des berühmten Mannes zeigt, die fasziniert, weil man sie nicht erwartet: den großen Chirurgen als begnadeten Geschichten- und Anekdotenerzähler. Die Erinnerungen sollten ja auch in einer Zeitschrift die Leser begeistern. Da dominiert – möglicherweise auch gezielt nachgefragt – das Anekdotische und Sensationelle.

Um aber dem Arzt, der in mehreren Medizinbereichen seiner Zeit für richtige Revolutionen sorgte, wirklich nahezukommen, braucht es echte Augenzeugen. Die natürlich so lange nach Sauberbruchs Tod im Jahr 1951 nicht mehr leben. Aber Hardinghaus kennt einige dieser Augenzeugen nur zu gut, unter ihnen zwei der beeindruckendsten Spione aus dieser Zeit. Fritz Kolbe war der eine, der den Alliierten handfestes Material direkt aus dem Auswärtigen Amt zuspielte, im Nachkriegsdeutschland aber keine Chance hatte, in den Staatsdienst zurückzukehren, der nach wie vor von Altnazis besetzt war.

Er wurde erst weit nach dem Jahr 2000 wirklich gewürdigt. Noch fast unbekannt ist der Chirurg Adolphe Jung, den Sauerbruch zu sich nach Berlin einlud, als er vom Schicksal des Elsässers erfuhr. Sein Tagebuch hat in der Familie überdauert und Jung durfte es ausgiebig transkribieren. Er zählt noch dutzende weitere Quellen auf, Erinnerungen von Pflegern, Kollegen, Widerstandskämpfern – denn Sauerbruch gehörte zu den Eingeweihten um die Verschwörung vom 20. Juli. Und das nicht ganz zufällig.

Die Kindheit und frühe Karriere Sauerbruchs handelt Hardinghaus relativ flott ab. Zu wichtig ist ihm, den berühmten Mann in jener Zeit zu zeigen, als die Nazis in Deutschland eben nicht nur regierten, sondern alle Lebensbereiche veränderten, gleichschalteten und ideologisierten. Niemand konnte sich dem entziehen. Und Sauerbruch war ganz bestimmt nicht der Einzige, der die Machtübernahme der Nazis erst einmal nicht so tragisch nahm und damit rechnete, dass sie bald wieder verschwinden würden. Doch schon seine bisherige Karriere hatte gezeigt, dass er sein Handeln als Arzt immer über ideologische Grabenkämpfe stellte.

In großen, pastosen Strichen zeichnet Hardinghaus das Handeln des Chirurgen im 1. Weltkrieg nach, als er sich als Militärarzt zur Verfügung stellte, um wenigstens einigen der Schwerverletzten in diesem blutigen Krieg zu helfen. Als in München die Räterepublik aufkam, Revolution und Gegenrevolution tobten, setzte sich der selbstbewusste Mann für die Verletzen beider Seiten ein, stellte sich mit ganzer Persönlichkeit vor sie, genauso, wie er es später im NS-Reich machen wird, wo er sowohl seine jüdischen Mitarbeiter wie auch jüdische Patienten versucht zu schützen, soweit das in seiner Macht steht.

Und diese Macht ist im Grunde nur sein Renommee, sein internationaler Ruf als der beste Chirurg seiner Zeit. Ein Ruf, von dem die Nazis natürlich versuchten zu zehren. Sie versuchten ihn anfangs auch zum Aushängeschild ihrer Politik zu machen. Sehr genau beschäftigt sich Hardinghaus mit den konkreten Vorwürfen, die immer wieder zitiert werden, um Sauerbruch in die Nähe der Nazis zu stellen. Aber sein konkretes Handeln widerspricht dem völlig. Nicht einmal die scheinbar sympathisierende Rede am 11. November 1933 in der Leipziger Alberthalle lässt sich wirklich als Unterstützung für die Nazis interpretieren, auch wenn er sich hier dem Ton der Nationalsozialisten andient.

Und eigentlich wird es hier spannend, weil es ein Blitzlicht in unsere Zeit ist, in der sich ganz andere Leute eines solchen und auch schon wieder viel schlimmeren Tones bedienen und sich schon mal andienen an etwas, was Sauerbruch im Gespräch mit seinem Kollegen Rudolf Nissen die Herrschaft „der Minderwertigen und Gescheiterten“ nannte. Nissen verlor durch die Rassengesetzgebung der Nazis seine Stellung als Arzt – Sauerbruch verhalf ihm zu einer Stelle in der Türkei. So überlebte Nissen den Holocaust. Er war nicht der einzige, dem Sauerbruch half.

Und augenscheinlich nahm Sauerbruch auch 1933 den Antisemitismus und die Vernichtungswut der Nazis noch nicht wirklich ernst. Mehrfach betont Hardinghaus zu Recht, dass man das Handeln historischer Personen nicht aus der Position der Nachgeborenen, die ja die Folgen kennen, beurteilen darf. Sauerbruch war 1933 und 1934 ganz bestimmt nicht der einzige Konservative im Deutschland, der überzeugt davon war, der Spuk würde bald wieder vorübergehen. So wie auch heute viele Gutgläubige meinen, der nationalistische Spuk in den Parlamenten würde wieder vorübergehen.

Nur dass Sauerbruch nicht einfach wartete, sondern half. Und das im Verlauf der Zeit immer mutiger, wissend darum, dass ihn auch die Verbindungen zum Widerstand den Hals kosten konnten. Und in diese Widerstandskreise war er nicht zufällig geraten. Er machte gar kein Hehl aus seiner Abneigung den Nazis gegenüber. Sein Sohn diente mit Stauffenberg in derselben Militäreinheit. In Sauerbruchs Villa trafen sich Gleichgesinnte. Und mehrere der Offiziere, die sich am Putschversuch des 20. Juli beteiligten, gehörten im Grunde zu Sauerbruchs Freundeskreis. Es ist eigentlich kein Wunder, dass der berühmte Arzt sich nach dem Krieg regelrecht in Wut redete, als er auch noch vor einen Entnazifizierungsausschuss geladen wurde.

Tatsächlich kreist Hardinghaus’ Buch die ganze Zeit um die Frage: Wie kann man in einem derartigen Unrechtsregime ein anständiger Mensch bleiben? Wie kann man als Mensch handeln, wenn die Regierenden die Menschenrechte mit Füßen treten? Und wie weit kann man das überhaupt noch sagen, ohne dabei selbst zum Opfer einer barbarischen Justiz zu werden? Wie klein sind eigentlich die Spielräume für menschlichen Anstand, wenn Staat und Justiz von Opportunisten und zynischen Verbrechern besetzt sind? Und wer hat überhaupt noch solche Spielräume? Und wer hat noch den Mut, sie zu nutzen?

Sauerbruch hat sie genutzt. Das belegen augenscheinlich viele persönliche Zeugnisse aus seiner Umgebung. Was ihn nicht zum Widerstandskämpfer macht. Aber das ist eh die Schieflage unserer zum Teil primitiven Sicht auf Geschichte. Es gibt nicht nur die tapferen Widerstandskämpfer und die bösen Bestien. Auch letztere hätten keine Macht, wenn sie mit ihrem Reden und Handeln nicht das Opportunistische in vielen Menschen ansprechen, sie einschüchtern und zu Mitläufern machen würden. Und zu Mittätern, die nur allzu bald die Grenzüberschreitungen des neuen Regimes als neue Normalität zu akzeptieren bereit sind.

Wobei man die allgegenwärtige Angst im Nazi-Reich nie vergessen darf. Allein die Verfolgungen nach dem 20. Juli kosteten 5.000 Menschen das Leben, Menschen, die auch Sauerbruch als die mutigsten und besten in Deutschland bezeichnete, mit denen er vertraut war. Nicht ohne Grund holte auch ihn die Gestapo zu mehrstündigen Verhören ab.

Es ist ein vielschichtiges Bild, das Christian Hardinghaus von diesem Mann malt, den seine Mitarbeiter im Operationssaal durchaus als autoritär und ruppig erlebten – aber eben auch als genialen Chirurgen, der tausenden Menschen das Leben rettete. Auch in jener Zeit, als Berlin bombardiert wurde und die Charité mitten in der Front lag, die auf die Reichskanzlei vorrückte. Damit beginnt Hardinghaus sein Buch: mit dem Blick in den Bunker der Charité, in dem Sauerbruch mit seinem Ärzteteam die Verwundeten zu Tausenden operiert, während die Klinik schon völlig zerstört ist.

Man versteht diesen Sauerbruch und seine Wut besser, gerade weil es der Mut eines konservativen Patrioten ist, der sein Land, geführt von einem Verrückten, wie Sauerbruch selbst sagt, in Schuld und Zerstörung versinken sieht. Sauerbruch gar in eine Ecke mit den NS-Tätern zu stellen, wird dem eigensinnigen Chirurgen nicht gerecht. Viel eher gehört er in den Kosmos all jener, die ihre Persönlichkeit in die Waagschale warfen, um wenigstens einen Teil des Übels zu verhindern und menschlichen Anstand zu zeigen, wo das durchaus auch für den berühmten Professor hätte tödlich enden können.

Das Buch wird also so etwas wie eine Verteidigungsschrift, eine sehr lebendige, weil Hardinghaus die Persönlichkeit des Arztes in vielen Facetten und aus vielen Blickrichtungen herausarbeitet. Dabei wird auch deutlich, wie wichtig das Selbstverständnis der verbliebenen Ärzte, Schwestern und Pfleger an der Charité war, sich nicht zum Erfüllungsgehilfen der Nazis machen zu lassen. Und es werden einige der Persönlichkeiten in Sauerbruchs Umfeld sichtbar, die in der Nachkriegsgeschichtsschreibung oft vergessen oder bewusst ignoriert wurden, weil sie nicht zum Selbstverständnis einer Gesellschaft gehörten, die lieber verdrängte.

Christian Hardinghaus Ferdinand Sauerbruch und die Charité, Europa Verlag, München 2019, 20 Euro.

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