Auch Wikipedia führt tatsächlich nur dieses eine Buch an als Veröffentlichung des serbischen Schriftstellers Bora Stanković in deutscher Sprache – im Frühjahr 2023 im Leipziger Literaturverlag erschienen und mit einer über 100 Seiten umfassenden Einleitung versehen, in welcher der Übersetzer Robert Hodel den Lesern überhaupt erst einmal Werk und Leben des 1876 in Vranje geborenen Autors erläutert. Immerhin ein Autor, den der serbische Nobelpreisträger Ivo Andrić als ebenbürtig betrachtete.

Sie sind sich auch begegnet, sodass Ivo Andrić auch die ganz bestimmt nicht einfache Persönlichkeit seines Kollegen kannte, der seinen Lebensuntehalt genauso wie Andrić im Dienst eines Ministeriums verdienen musste, aber dort durch Nachlässigkeiten und Versäumnisse immer wieder auffiel. Es ist das alte Lied, könnte man meinen: Immer diese Künstler!

Aber die sind eben auch deshalb meist so wenig anpassungsfähig, weil man als braver, funktionierender Beamter nun einmal keine gute Literatur schreiben wird. Dazu braucht es Unabhängigkeit. Und etwas, was Bora Stanković im Übermaß hatte: den Blick für die Verwerfungen einer Gesellschaft, in der die Klassenunterschiede gravierend sind und der Aufstieg aus armen Verhältnissen immer mit massiver Befremdung einhergeht.

Und dem Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören. Ein sehr heutiges Thema. Es ändert sich ja nicht wirklich etwas. Privilegierte sehen ihre Privilegien nicht. Und sie sehen auch nicht, wie sie die Unterprivilegierten permanent düpieren, ausgrenzen, auch ausplündern, weil ihnen der Griff in den vollen Topf normal erscheint.

Die Enge des Patriarchats

Und Bora Stanković kam von ganz unten, aus dem südserbischen Vranje, das an Gebiete grenzte, die kurz zuvor noch zur Türkei gehörten. Die Befreiung von den Türken lag erst wenige Jahre zurück. Und damit eine über Jahrhunderte regelrecht erstarrte Ständegesellschaft mit einem tief verwurzelten Patriarchat. Einem Patriarchat, gegen das die heute in Westeuropa diskutierten patriarchalen Herrschaftsformen geradezu zivilisiert erscheinen.

Und Bora Stanković war sehr bewusst, welche tiefgreifenden Veränderungen er da als Kind und Jugendlicher miterlebt hatte. Im Grunde ist sein eigenes Leben dafür symptomatisch. Seine Eltern waren (auch beim Versuch, den gesellschaftlichen Schein zu wahren) früh verstorben.

Aufgewachsen ist er im Grunde bei seiner Großmutter (deren Tod in diesem Band die vorletzte Geschichte „In jene Welt“ gewidmet ist), die ihm auch ermöglichte, das Gymnasium zu besuchen und dann ein Jurastudium in Belgrad aufzunehmen, das ihm den Weg in den Staatsdienst bereiten sollte.

Sein Leben ist aber auch ein Prozess der Abnabelung von diesem Vranje und dem ihm aus der Ferne immer provinzieller vorkommenden Leben. Aber genau über dieses Leben schrieb er. Und brachte damit einen Ton in die serbische Literatur, den es vorher so nicht gab. Maupassant, Daudet und Zola fühlte er sich verwandt, Tschechow wird erwähnt. Man könnte auch Gogols „Die Abende auf dem Weiler von Dikanka“ nennen.

Einerseits ist es die Entdeckung der Provinz als literarisches Thema. Andererseits macht diese Literaturströmung auch erstmals aufmerksam auf die Probleme einer von Ungleichheit und den alten, quälenden Regeln einer paternalistisch bestimmten Welt aufmerksam. Genau das, was Bora Stanković ins Zentrum seiner Erzählwelt gestellt hat, in der es fast immer um nicht gelebte Liebe, die Zwänge einer rigiden Moral und vor allem die Unterordnung unter gesellschaftliche Regeln geht, die Frauen zum Verzicht auf Leben, eigene Wünsche und Hoffnungen zwingen.

Der Schatten der Provinz

Und daneben immer wieder seltsam distanzierte Erzählergestalten, in denen man durchaus den Autor sehen kann, die Frauen im Stich lassen, Liebe verweigern. Aus unterschiedlichsten Gründen, manchmal auch kaum nachvollziehbar. Vielleicht auch, weil es nicht aussprechbar ist in einer Gesellschaft, in der Frauen wie Dinge behandelt werden und erst die gesellschaftlich akzeptierte arrangierte Ehe dafür sorgt, dass ihre Stellung in der Gesellschaft als akzeptiert gilt.

Auch dann, wenn sie an Versager, Trunkenbolde oder selbst zu Gefühlen völlig unfähige Männer vermählt werden.

Es ist ein tiefer und intensiver Blick in eine Welt, die schon zu der Zeit, als Bora Stanković seine Erzählungen veröffentlichte, am Vergehen war. Die aber bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hinein wetterleuchtet. Denn auch das Serbien, das sich nach der Besetzung durch die Österreicher wieder konstituiert, ist ein Land, in dem das Provinzielle sich mit dem Anspruch einer modernen Gesellschaft verbindet.

In dem Besitz darüber entscheidet, wer welche Stellung im Dorf einnimmt, und Belgrad zu einem Ort wird, an dem Aufsteiger und Karrieristen ihren Platz in der neuen Hierarchie suchen, so wie „Der Herr Tasa“, der seine armen Eltern verleugnet, weil er in seiner neuen Position nicht mit ihnen gesehen werden will.

Aber Robert Hodel erzählt auch von den zunehmenden Problemen von Stanković, der zeitlebens Sorgen hat, seine Geschichten veröffentlicht zu bekommen und praktisch alles selbst verlegen muss. Was möglicherweise mit seinem schwierigen Temperament zusammenhing. Und vielleicht auch mit seinem Alkoholkonsum. In einer Geschichte erzählt er davon, wie er sein neuestes Buch geradezu als Tauschware anbietet, um bei seinem Wirt weiter feiern zu können.

Das Leben der Armseligen

Worunter dann wohl auch seine Familie litt. Und als er dann, um an Geld zu kommen, während der Besatzungszeit auch noch Texte in der Zeitung der österreichischen Besatzer veröffentlicht, macht er sich endgültig angreifbar und wird nach dem Krieg immer wieder mit dieser Kollaboration konfrontiert, obwohl die veröffentlichen Texte sich nicht wirklich von den Erzählungen unterscheiden, die er sonst veröffentlichte.

Einige Texte aus dieser Zeit sind im Band ebenfalls vertreten. Ihn interessierte gerade das Leben der Armen und der Ausgegrenzten, der „Armseligen“, wie eine solche Sammlung hieß. Auch hier wieder Geschichten darunter, die von der Unerfüllbarkeit der Liebe erzählen.

Von der Aufregung, die seine Erzählung „Unsauberes Blut“ verursachte, erzählt Hodler nur in der Einleitung. Auch wenn es hier ebenso um das Thema verbotene Liebe ging und um die Brüskierung einer erstarrten Gesellschaft, die keinen Platz hat für selbstbewusse Frauen und wirkliche Liebe, welche die strengen Konventionen überschreitet.

Anfangs sogar noch ein Skandal, wurde gerade diese Erzählung später zu einem der wirksamsten Werke aus der Feder von Bora Stanković, dem seine schreibenden Zeitgenossen auch eine gewisse Liederlichkeit und Sprunghaftigkeit beim Schreiben attestierten.

Wobei Hodel darauf hinweist, dass gerade in dieser sprunghaften Erzählweise auch das Moderne steckt, das Stankovićs Arbeiten deutlich abhob von der zeitgenössischen Literatur. Gerade durch diese Erzählweise werden die Texte lebendig, farbenfroh und dicht. Und immer wieder wird das irrende, verwirrte, durch lauter widersprechende Gefühle taumelnde Seelenleben seiner Protagonisten gerade dadurch nacherlebbar.

Spürt man das Mitgefühl des Autors auch für die Mühsamen, Leidenden, selbst die männlichen Figuren, die ihre Überforderung in den alten Regeln meist nicht einmal in Worte fassen können. Denn zu tief sitzt die Angst, gesellschaftlich geächtet zu werden, wenn die Männer in der Familie die geltenden Regeln und Sitten nicht durchzusetzen vermögen.

Schuldgefühle

Auf einmal wird sichtbar, was die üblichen Landerzählungen der Zeit so gern als heile Welt kaschierten: wie zermürbt und voller Angst diese patriarchale Scheinwelt war, in der sich nicht einmal die Männer wirklich wohlfühlten. Von den entrechteten Frauen ganz zu schweigen, die früh lernten, sich unterwürfig und gefügig zu zeigen, wenn sie denn überleben wollten. Die Konflikte entstehen genau an den Stellen, an denen sich die Protagonisten fragen, wie sehr sie sich diesen Ansprüchen beugen und wie sehr sie damit ihren Stolz und ihre Sehnsucht nach echter Partnerschaft versagen sollen.

Da kommen einem etliche der Liebhaber, die Bora Stanković quasi in Stellvertretung für sich handeln lässt, dann anfangs viel zu egoistisch und selbstverliebt vor, denken sie doch nur an sich und versagen sich den Frauen, denen sie doch gerade erst signalisiert haben, dass sie etwas für sie empfinden. Aber da steckt wohl auch ein spätes, unausgesprochenes Schuldbewusstsein drin, die spätere Reflexion des Autors über das eigene Verhalten.

Auch eine Menge Wehmut. Denn damit versagten sich ja all diese scheuen, wortlosen und flüchtigen Liebenden ja tatsächlich, ihre Gefühle zu leben. Und sie machen sich schuldig gegenüber den Frauen, die sie meist kalt und kurz angebunden abweisen.

So wie man sich im Leben immer schuldig macht. Das empfinden vielleicht wirklich nur die Autoren, die sich der Unfertigkeit, des Unabgegoltenen im eigenen Herkommen nur zu bewusst sind. Und damit auch des Selbstbetrugs einer Gesellschaft, die nur zu gern tut, als wäre alles in Ordnung, wenn denn nur die Frauen in den Häusern brav funktionieren und der „gute Ruf“ des Hausherrn keinen Schaden nimmt.

Ein neuer Ton in der serbischen Literatur

Für die Leser zu Lebzeiten von Bora Stanković war das noch jüngste Vergangenheit. Und sie waren sich dessen nur zu bewusst, welche nur wenige Jahre zurückliegenden Entwicklungen der Autor da lebendig werden ließ. Entwicklungen, in denen auch die ethnischen Konflikte zumindest am Rand aufscheinen, die das Land auch noch im späten 20. Jahrhundert in tiefe Konflikte stürzten würden.

Aber zumindest seine wohlwollenden Autorenkollegen merkten, dass das keine „alten Geschichten“ waren, schon gar keine provinziellen, sondern sehr moderne. Und dass Stanković neben Andrić derjenige Autor war, der die serbische Literatur in die Moderne führte. Seine Dramen werden bis heute aufgeführt. Seine Erzählungen immer wieder nachgedruckt.

Nur in Deutschland kennt man ihn kaum, obwohl er auch einen Aspekt des Ersten Weltkrieges erzählt, der in der deutschen Selbstbetrachtung praktisch nicht vorkommt, weil man sich für die Schlachtfelder Österreichs nie wirklich interessierte. Aber mit dieser österreichisch-serbischen Geschichte begann ja erst der Erste Weltkrieg. Und in ihm steckten schon genau dieselben Konflikte, die sich in den 1990er Jahren wieder in Krieg entladen sollten.

Geschichte verschwindet ja nicht einfach. Schon gar nicht, wenn man sich mit den unter der Decke köchelnden Problemen einer Region, in der sich Völker und Religionen auf engstem Raum verquicken, nicht wirklich beschäftigt. Probleme, die oft genug auch mit all den nirgendwo schriftlich festgehaltenen Regeln von Sitte, Moral und Status zu tun haben.

Unaushaltbare Zustände

Regeln, unter denen die davon am strengsten bevormundeten Frauen natürlich am meisten litten. Aber gerade weil Stanković seine Helden geradezu mit Selbstvorwürfen und lauter uneingestandenen Schuldgefühlen auf all diese versagten Lieben schauen lässt, wird auch etwas sichtbar, was die Männerwelt bis heute verunsichert: Wie findet da eigentlich der junge Mann zu Unabhängigkeit und einem Leben, in dem er sich all diesen wabernden Regeln nicht (mehr) unterwerfen muss?

Ist das Schuldigwerden nicht die direkte Konsequenz? Ohne dass das für den Aufsteiger aus ärmsten Verhältnissen tatsächlich zur Befreiung wird. Denn wie man dann eine Ehe aus Respekt und gegenseitiger Achtung bauen kann, haben ja auch Stankovićs junge Helden nicht gelernt. Es fehlen schlicht die männlichen Vorbilder.

Und so wird das Thema Emanzipation eher zu einem Negativ, einer Beschreibung von Zuständen, die nicht mehr auszuhalten sind. Aber was tritt an ihre Stelle? Wenn nicht das gepflegte Statusdenken in Geld, Besitz und gesellschaftlichem Rang? Quasi als Ersatz.

So gesehen bleiben es unerfüllte Geschichten eines Autors, der in den 1920er Jahren zunehmend wieder ins Abseits gedrängt wurde, immer seltener schrieb und am Ende mit gerade einmal 51 Jahren starb. Ein Werk hinterlassend, dessen Farbigkeit sich über die Jahrzehnte erst so richtig entfaltete, auch weil es als die intensive Beschreibung einer als verschwunden geltenden Welt gelesen werden konnte.

Bora Stanković Erzählungen vom Balkan“, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2023, 29,95 Euro.

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