Der Leipziger Literaturverlag hat jetzt schon einige Bücher des serbischen Autors Milos Crnjanski veröffentlicht und ihn so einem deutschen Publikum wieder zugänglich gemacht. Mit „Ein Tropfen spanisches Blut“ hat er jetzt seinen historischen Roman aufgelegt, mit dem ein Jahr lebendig wird, in dem eine einzige Frau genügte, die Bayern auf die Barrikaden zu bringen.

Veröffentlicht hat Crnjanski den Roman 1970 in Belgrad. Ins Deutsche übersetzt hat ihn damals Hans Volk. Und vielleicht steht ja bei dem ein oder anderen diese frühere Ausgabe noch irgendwo im Regal.

Vielleicht sogar irgendwo neben Stefan Zweig, Emil Ludwig und Stefan Gumpert, deren Zeitgenosse Crnjanski nicht nur war – er gehört zur selben literarischen Schule. Vom Stil her, von der Auswahl der Themen und von der Emotionalisierung des Stoffes. So wie sie damals versuchten, reale historische Gestalten lebendig zu machen, wird das heute kaum noch jemand versuchen.

Vielleicht nicht einmal deswegen, weil jeder Fakt, jede Begebenheit jederzeit mit wenigen Klicks im Internet nachprüfbar ist. Es gibt genug historisierende Romane, die auf historische Stimmigkeit keinen Wert legen. Aber längst ist auch eine anspruchsvolle Literatur historisch genauer Biografien entstanden.

Da setzt sich nicht eben mal ein schreibfreudiger August Strindberg hin und schreibt „Historische Miniaturen“, so, wie er sich die Geschichte ausmalt in seiner Phantasie. Da geben gestandene Historiker meist Jahre intensiver Forschungsarbeit dran, um nicht nur den historischen Figuren gerecht zu werden, sondern auch die Widersprüche ihrer Zeit möglichst stimmig darzustellen.

Wenn Geschichte den Pfropfen sprengt

Und die Geschichte der Tänzerin Maria de los Dolores Porrys y Monte alias Lola Montez alias Elizabeth Rosanna Gilbert handelt in einer Zeit der Widersprüche. Allein die Nachricht, sie würde nach München zurückkehren, löste im März 1848 einen Aufstand aus, der für Bayern der Beginn der Revolution war und zur Abdankung jenes Königs Ludwig I. führte, dessen Geliebte sie 1846 geworden war.

Milos Crnjanski erzählt nur die kurze Zeitspanne zwischen ihrer Ankunft in München und ihrer Flucht am 11. Februar 1848, nachdem ihr zuvor die Ausweisung mitgeteilt worden war. Zuvor hatte es immer mehr Tumulte und Handgreiflichkeiten gegeben.

Diese junge Frau, die sich als Spanierin ausgab, war deutlich zu viel für das stockkatholische Bayern, in dem die Kirche nach wie vor eine Machtinstitution darstellte, gegen die auch der König und sein Ministerkabinett nicht anregieren konnten.

Das ist das Tragische an Revolutionen, dass sie – anders als Karl Marx mal schrieb – eben keine „Lokomotiven der Geschichte“ sind. Das impliziert eine Zielrichtung und einen beherrschten Apparat und jemanden, der einfach ein paar Weichen stellt. Aber in Wirklichkeit sind sie wie Pfropfen auf einer Flasche mit gärendem Wein.

Es explodiert was, die alten Verhältnisse zerplatzen, das Volk rebelliert und alle möglichen Leute versuchen sich als Bändiger der entfesselten Kräfte. Wobei diese Kräfte meistens aus lauter Emotion bestehen: Empörung, Wut, Verachtung usw. Populisten wissen nur zu genau, was man damit erreichen kann, wen man die Emotionen schürt. Und die alten Mächte wissen es sowieso.

Skandal!

Ob die echte Lola Montez tatsächlich so war wie die, die Milos Crnjanski zeichnet, weiß man nicht. Wahrscheinlich war sie anders. Und höchstwahrscheinlich hatte sie viel weniger Liebhaber, als ihr Crnjanski zuschreibt. Und Ludwig I. war wohl auch nicht ganz so einfältig und greisenhaft, wie er ihn malt.

Aber man merkt, dass ihn dieser Stoff gepackt hat und dass er seinen Roman von Anfang an wie ein Gedankenexperiment angelegt hat: Was passiert eigentlich, wenn man wirklich eine feurige, selbstbewusste Frau, die die Regeln ihrer Zeit nicht zu akzeptieren bereit ist, in dieses schwer religiöse und provinzielle München von anno 1846 reisen lässt?

Ein München, in dem Ludwig sich nicht nur als Dichter hervortut, sondern seine Hauptstadt auch mit prächtigen Bauwerken in ein neues Athen verwandeln möchte? Und durchaus auch liberale Reformen wagen möchte, nachdem sein altes Ministerkabinett schon kurz nach der Ankunft von Lola Montez geschlossen zurückgetreten war.

Die öffentlichen Auftritte der Tänzerin – Zigarette rauchend und mit ihrer großen Dogge an der Seite – sorgten von Anfang an für Skandale und machten die 26-Jährige von Anfang an unbeliebt. Crnjanski konzentriert diesen Unmut und die Tumulte gegen die Geliebte des Königs auf den zweiten Teil seines Romans.

Im ersten Teil lässt er ihre Begegnungen mit dem 60-jährigen König lebendig werden, ihre Liebschaften mit jungen Verehrern und den Kreis liberaler Abendgäste, mit denen die junge Frau augenscheinlich die schleunigste Modernisierung des alten Bayern plant.

Aber dieses Bayern ist noch längst fest im Griff der Kirche. Die frühen Warnungen, dass der Bischof an ihrer Vertreibung arbeitete, ignoriert die Romanheldin, auch wenn sie Crnjanski zunehmend ermüdend zeigt. Denn auch in München findet sie nicht die Liebe, die sie eigentlich sucht.

Im Grunde ist sein Roman die Geschichte einer Frau, die ihre unbedingten Ansprüche an ein Liebesleben ohne Tabus nicht wirklich leben kann. Die Zeit ist noch nicht reif. Die Männer stecken in ihren anerzogenen Rollen. Und ganz München schaut zu und verdammt das Treiben.

Die Macht der alten Denkverbote

Was wieder sehr gegenwärtig wirkt. Denn erst, wenn jemand so offen gegen die alten Gewohnheiten und unausgesprochenen Regeln aufbegehrt, wird auch deutlich, wie fest das „Es war schon immer so“ in den Köpfen vieler Menschen steckt. Sie werden von Traditionen, gesellschaftlichen Schranken und sozialen Kontrollmechanismen geprägt.

Mechanismen, gegen die sie innerlich nur zu gern aufbegehren. Aber wenn es dann doch mal eine gibt, die auf all diese Korsette pfeift, passiert meist so etwas, wie es 1847/1848 in München passiert sein muss. Begleitet von einer durchaus parteiischen Presse, die – wie Crnjanski schreibt – über Nacht den Tonfall ändern kann, wenn den Einflussreichen im Land die Macht zu entgleiten droht.

Dann wird aus dem eben noch für seinen Reichtum, seinen Fleiß und seine christliche Friedfertigkeit gefeierten Bayern ein Land, das auf einmal bröckelt, verarmt und am Abgrund steht.

Es ist dasselbe Instrumentarium, mit dem auch heutige Medienmacher nur zu gern Stimmung machen. Die „sozialen Netze“ sind voller solcher Katastrophenbilder, deren Sinn und Zweck natürlich ist, die Angst zu schüren. Denn aus Angst werden Zorn, Empörung, Klage und Wut. All das, mit dem man politisch richtig Stimmung machen kann.

Auch wenn sich am Zustand des Landes überhaupt nichts geändert hat. Auch wenn dieser Ludwig seine Geliebte reich beschenkt, ihr die bayerische Staatsbürgerschaft verschafft, eine reiche Apanage, ein Palais, einen Grafentitel.

Aber dieses Bayern von 1847 ist noch nicht reif für eine derart selbstbewusste Maîtresse, die sich nicht irgendwo auf einem der königlichen Schlösser versteckt, sondern öffentlich durch München fährt und wahrscheinlich wirklich versuchte, auch Einfluss auf das Kabinett des Königs zu nehmen.

Ein Liebesroman

Auch wenn Lola die Provinzialität dieses noch halb mittelalterlichen Bayern von Anfang an anödet. Man spürt schon, wie fremd sie sich hier von Anfang an fühlt und wie schwer es ihr fällt, die romantischen Vorstellungen der Deutschen von der Liebe zu verstehen. Im Hintergrund darf man immer all ihre früheren Erfolge und Skandale in Paris mitdenken, einer Stadt, in der Frauen wie Lola verehrt und angehimmelt wurden.

Am Ende fragt man sich wirklich: Was wollte sie eigentlich in diesem Nest in Bayern? Oder war ein so langer Aufenthalt gar nicht geplant? War die Liaison mit Ludwig I. vielleicht doch nicht so gewollt und unerfüllt, wie es Crnjanski schildert, der viel Fleiß darauf verwendet hat, seine Lola als manipulativ zu schildern, sich der Verführbarkeit und Beherrschbarkeit der Männer nur zu bewusst.

Und man kann nicht übersehen, dass Crnjanski fast immer aufseiten seiner Heldin ist. „Es ist in erster Linie ein Liebesroman“, hat er selbst über dieses Buch gesagt. Und so betrachtet ein Liebesroman zu Frauen, die sich wie seine Lola nicht in die geltenden Regeln fügen, sondern ihr Recht auf unbedingte Liebe nehmen. Auch dann, wenn sie ihre Liebhaber damit verletzen, verstören, beschämen.

Auch wenn es Cnrjanski so nicht gemeint hat. Ihn hat durchaus diese Liebe der jungen Tänzerin zum gealterten König interessiert. Hat so ein alter Mann noch Schönheit, fragt er. Und lässt Ludwig am Ende tatsächlich greisenhaft erscheinen, überfordert von den Unruhen, den Ränkespielen, dem Druck auf ihn selbst, die Geliebte schleunigst wieder außer Landes zu bringen. Auch er nur ein Gefangener der Bedingungen, die er nicht zerschlagen kann.

Ein politischer Roman?

Denn da Crnjanski sehr wohl im Hinterkopf hatte, dass Lola tatsächlich „eine Revolution macht in München“, ist sein Liebesroman eben auch ein politischer Roman geworden, wird seine Heldin zur Herausforderung für eine Gesellschaft, die sich ja tatsächlich längst überlebt hatte. Die 1848er-Revolution sollte ja ganz Deutschland erschüttern.

Aber das Alte gibt seine Macht selten freiwillig ab. Es kämpft um jeden Acker, jede Seele und jeden Platz. Und es kämpft immer mit falschen Argumenten, Behauptungen und Vorwürfen. Es hat die anerzogene Moral immer auf seiner Seite, kann von Sündenpfuhl, Sittenverderbnis und Schande schwadronieren – und erreicht damit eben all jene, die sich nie getraut haben, ihr eigenes Leben tatsächlich zu leben. Mit aller Unbekümmertheit wie Lola. In der Verachtung steckt auch das Beneiden: „Was nimmt die sich heraus!“

Sage niemand, dass er oder sie diesen Spruch noch nie gesagt bekam.

Und so ist Crnjanskis Buch auch die Geschichte eines Aufbegehrens gegen veraltete Moralvorstellungen, den Druck konservativer Duckmäuserei und die Kleingeistigkeit einer Gesellschaft, die Veränderungen als Zumutungen empfindet und darauf höchst aggressiv reagiert. Skandal! Skandal!

Daraus basteln auch heute noch die Boulevardmedien ihre Geschichten über das, was sie den Leserinnen als gelebte Moral suggerieren. Auch wenn schon zu Zeiten des schöngeistigen Königs Ludwig I. galt, was Heinrich Heine drei Jahre zuvor in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ geschrieben hatte: „Sie predigten öffentlich Wasser und tranken heimlich Wein.“

Ein Roman über Bigotterie?

Heine kannte die bigotten Schein-Heiligen in seinem Deutschland. Da nahmen sich die kleinen König- und Fürstentümer alle nichts. Es ist also auch ein Buch über die Funktionsweise von Bigotterie, die sich an selbstbewusste Frauen wie dieser Lola Montez reiben muss.

Sie kann nicht anders. Denn gerade, weil Lolas Auftritte so verstörend wirken, ist sie eine Gefahr, zeigt sie doch dem (schein-)empörten Publikum, zu welcher Freiheit eine Frau fähig ist, wenn sie die alten biederen Moralvorstellungen schlicht negiert.

Das braucht Kraft, sich da zu behaupten. Und das hält auch Crnjanskis Heldin nicht durch, auch wenn es scheinbar ihre verzweifelte Suche nach der Liebe ihres Lebens ist, die sie ermüdet. Aber was sucht sie wirklich noch in diesem München, in dem nur die Hülle von Weltoffenheit erzählt, der Inhalt aber von katholischer Sittenlehre?

Ist es wirklich nur ihre Vernarrtheit in Männer, die sie unbedingt erobern muss?

Die Antwort bleibt offen in Crnjanskis Geschichte, aus der die übermütige Tänzerin am Ende eiligst entfernt wird, um zu verhindern, dass München tatsächlich in einem Tumult erstickt. Das scheint sie ja 1848 tatsächlich geschafft zu haben, auch wenn es ihr eigentlich nur um diesen Ludwig I. gegangen sein mag, mit dem sie auch nachher noch Briefe wechselte.

Vielleicht, um weiter Geld zu bekommen und ihr luxuriöses Leben fortsetzen zu können. Damit letztlich ein Bild für die „femme fatale“, wie sie damals die Bühnen und die dicken Romane eroberte. Schillernd zwischen Wunschbild der Autoren und dem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben, das letztlich nur außerhalb der biederen bürgerlichen Konventionen überhaupt lebbar war. Oder gar noch ist?

Gut möglich.

Denn wenn diesen Crnjanski etwas bewegt hat in der ganzen Geschichte, dann ganz offensichtlich die Frage, wie man bzw. frau derart unbedingt leben könnte. Unbeeindruckt von den kleinen Moralvorstellungen, die den Menschen ihren Platz in der alten Hierarchie zuweisen, entfesselt und frei.

In der Regel scheitern all diese Gestalten auch in den großen Romanen der Weltliteratur, ob sie nun eine reale Vorlage haben wie Lola Montez oder „Die Kameliendame“ oder fiktive Frauen zur Heldin haben, die am Ende scheitern, weil es für die unbedingt gelebte Freiheit in den Regeln der bürgerlichen Moral keinen Platz gibt.

Milos Crnjanski Ein Tropfen spanisches Blut Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2022, 19,95 Euro.

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