Einen „Richard-Wagner-Roman“ hat der amerikanische Musikwissenschaftler und Musiker Laurence Dreyfus seine Geschichte genannt, obwohl ein ganz anderer der Held der Erzählung ist: der Dirigent Hermann Levi, über den sich die Wagner-Geschichtsschreibung bis heute wundert, weil er einfach nicht zu passen scheint in Wagners antisemitische Äußerungen. Und genau so beginnt das Buch auch: mit einer Szene der Erniedrigung des Dirigenten durch den „Meister“.

Der Klappentext verspricht zwar, Dreyfus stelle auch Fragen, „ob Musik Religionen und Menschen zu versöhnen weiß“. Aber so einfach macht es sich auch Laurence Dreyfus nicht. Auch wenn es natürlich um Musik geht – aber nicht nur um Wagners und auch nicht nur um den „Parsifal“, den Hermann Levi als Erster dirigierte. Und über den die Autorin und Frauenrechtlerin Anna Ettlinger eine viel beachtete Rezension schrieb.

Und genau das animierte Dreyfus zu einem spannenden Tableau. Denn was würde passieren, wenn er Ettlinger als seine Entsandte zum gealterten Hermann Levi in Partenkirchen entsendet, mit dem selbst gestellten Auftrag, eine Biografie über den zu seiner Zeit berühmten Dirigenten zu schreiben? Auch sie hat – wie Levi – jüdische Wurzeln, kann Levis Zwiespalt also durchaus verstehen, denn während Wagner den Dirigenten augenscheinlich bewunderte, erlebte Levi selbst, insbesondere von den Wagnerianern, massive antisemitische Anfeindungen.

1899 in Partenkirchen

Wir sind mitten in jenem Deutschland, in dem aus dem alten, ach so traditionellen Antijudaismus längst der boshafte moderne Antisemitismus geworden ist. Mit Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain ist längst einer der wütendsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts am Start. Und auch Wagner hat einen gewaltigen Anteil an der Situation.

Erst 1869 hatte er seine Schrift „Das Judenthum in der Musik“ unter seinem eigenen Namen noch einmal veröffentlichen lassen, nachdem diese schon 1850 unter Pseudonym erschienen war. Anna hat also eine Menge zu fragen, als sie den gealterten Levi 1899 in Partenkirchen für eine Woche besucht, schon ahnend, dass das wohl sehr persönlich werden würde, auch weil sich beide schon länger kennen und zwischen beiden auch noch eine alte Beziehung zu knistern scheint.

Die Kapitel zu diesen sieben Tage werden immer wieder durch Rückblenden in Levis und Ettlingers Vergangenheit aufgebrochen, dazu etliche Briefe, die die erzählten Szenen fortschreiben, sodass zwar nicht die erwartete Biografie des berühmten Dirigenten entsteht, dafür ein aus Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild der Zeit mit all ihren Verkrustungen, Verklemmungen, dem ganzen müden Inventar eines moralisierenden Bürgertums, das seine Angst vor der Welt, dem Leben und der Liebe immer hinter lauter stockkonservativen Vorstellungen versteckt hat.

Bis heute übrigens. Das ist ja das Erschreckende, wenn man in dieses 19. Jahrhundert zurückgeht, in dem all unsere Emanzipationsbewegungen ihren Anfang genommen haben – die der Frauen, die der Homosexuellen, die der Juden und auch die der Kunst. Die regelrechte Explosion der neuen Strömungen in Kunst, Literatur und Musik zum Ende des Jahrhunderts ist nur als Emanzipation von einem veralteten, erstarrten Geschmackskanon des konservativen Bürgertums zu verstehen.

Als Antisemitismus noch salonfähig war

Und das war auch schon in der Wagner-Zeit angelegt, auch wenn unverkennbar ist, wie Wagner und seine Zeitgenossen Geschmack und Denkweise ihres bürgerlichen Publikums immer mitdachten. Sie konnten gar nicht anders. Kein Künstler kann anders. Sie alle denken den Zuhörer, Leser und Betrachter immer mit. Und da wird natürlich auch greifbar, warum Wagner seine berühmte antisemitische Schrift unbedingt wieder veröffentlichen wollte. Auch wenn er – möglicherweise – im persönlichen Kreis anders dachte und sprach.

Was Dreyfus ja nur rekonstruieren kann. Nur einige wenige Begebenheiten hat Levi in seinen Briefen niedergeschrieben. Für Dreyfus trotzdem Material genug, eine ganze Reihe solcher Szenen zu beschreiben, in denen „der Meister“ seine Anzüglichkeiten gegenüber Levi oder dem jungen begnadeten Musiker Joseph Rubinstein äußert, scheinbar nicht einmal ahnend, wie verletzend sie sind und wie sehr sich gerade Levi zusammenreißen muss, dabei nicht das Gesicht zu verlieren.

Und dabei scheint er dem „Meister“ geradezu verfallen, weil er in dessen Kompositionen etwas findet, was ihn fesselt und fasziniert. Und einem anderen berühmten Komponisten regelrecht abspenstig macht – Johannes Brahms, den er viel früher kennengelernt hat und mit dem ihn eine innige Freundschaft verband. Eine Freundschaft, die an dem Tag in die Brüche ging, als Levi zu Wagner ging. Alles historisch belegt.

Dreyfus muss das alles gar nicht erfinden, auch wenn es ihm nicht wirklich gelingt, die Faszination der Person Richard Wagners deutlich zu machen. Denn die Szenen, die er schildert, lassen einen Levis Erniedrigung zutiefst spüren. Wie hält das ein begnadeter Mann aus, am Tisch im Hause Wahnfried derart beleidigt zu werden und dennoch treu zu bleiben? In diesem Fall bis zum Tod – zu Wagners Tod in Venedig.

Was Dreyfus hier gelingt, ist die Zeichnung einer unverwechselbaren Atmosphäre, in der der Antisemitismus regelrecht Teil der bürgerlichen Salonkultur war und sich Menschen mit jüdischen Wurzeln, deren Eltern und Großeltern ja gerade erst das mittelalterliche Getto verlassen durften, sich mit aller Macht anzupassen versuchten und den gesetzten Normen des maßgebenden Bürgertums zu genügen.

Und das mit verschlossener Miene, schweigend, die Demütigungen ertragend, selbst dann, wenn sich die Gegenseite gar keine Mühe mehr gab, ihre Verachtung zu verbergen.

Die Lust an der Erniedrigung

Viele begabte Menschen mit jüdischen Wurzeln nutzten damals die Chance, Karriere zu machen und zu beweisen, was in ihnen steckte. Womit sie freilich auch zur direkten Konkurrenz für ein Bürgertum wurden, das nicht nur alle maßgeblichen Positionen in Bismarcks Reich besetzte, sondern auch den Ton angab und die Wertvorstellungen prägte.

Wenn wir uns heute mit Antisemitismus beschäftigen, beschäftigen wir uns nicht nur mit einer kleinen, scheinbar völlig abgedrifteten Gruppe von Judenhassern, sondern mit dem Kern bürgerlicher Wertvorstellungen im 19. Jahrhundert. Der bis heute nie völlig verschwunden ist.

Die Vorurteile machen noch heute Politik und werden von ihren Trägern oft nicht einmal als solche erkannt. Denn es ist das Weltbild, in dem sie aufgewachsen sind und das sie für maßstabgebend halten. Gar für normal. So normal, wie es scheinbar auch der von Dreyfus gezeichnete Wagner nimmt, der sich durchaus die Freiheit nimmt, die Dinge wesentlich unabhängiger und offener zu sehen.

Und der sich dennoch die bösen Spitzen gegen Levi nicht verkneifen kann, geradezu genüsslich registriert, wie er den Mann zutiefst verletzt, der seine Musik so genial interpretiert wie kein anderer. Und der dann auch noch die Kunst beherrscht, seinen Levi wieder in Gunst zu setzen und in den Kreis der Villa Wahnfried zurückzuholen, ohne sich auch nur ein einziges Mal wirklich entschuldigt zu haben.

Dass Levi das mit sich machen lässt, hat unübersehbar mit seiner Liebe zur Musik zu tun, der er alles unterordnet. Dafür opfert er auch Freundschaften – nicht nur die zu Johannes Brahms, sondern auch die zu Clara Schumann, die überhaupt kein Verständnis hat für die ganze Begeisterung für Wagner und seine Musikdramen.

Der schwere Weg der Emanzipation

So wird Levis Schicksal im Grunde auch eine Schilderung all der Probleme, die begabte jüdische Menschen damals in Deutschland hatten. Akzeptiert wurden sie nur, wenn sie all die Sticheleien, Vorurteile und oft gar nicht versteckten Bosheiten zu ertragen bereit waren. Selbst dann, wenn sie geachtete Positionen erlangten wie eben Levi, der nicht nur in Bayreuth dirigierte, sondern auch die Hoforchester in Karlsruhe und München dirigierte.

Oder Angelo Neumann, der Wagner in Leipzig auf die Bühne brachte – und zwar erfolgreich. Womit ja die Frage im Raum steht, die Dreyfus immer wieder steift: Kann Musik tatsächlich die Wunden heilen, Frieden stiften, die Welt in Ordnung bringen?

Augenscheinlich nicht. Denn sie hat ihren Raum, wo sie das Publikum fünf Stunden lang in den Bann ziehen kann. Draußen aber tobt weiter Politik und versuchen verbitterte und lieblose Menschen, die Gräben zu vertiefen, die die Gesellschaft auseinanderdriften lassen.

Das ist heute nicht anders als damals. Und wenn sie gar die normsetzende Klasse sind, dann dringt diese vergiftete Atmosphäre in alle Lebensbereiche vor, werden Menschen rücksichtslos ausgegrenzt und diskriminiert. Und werden Menschen an den Pranger gestellt, die für all diese Ressentiments und Vorurteile nichts können.

Briefe im Feuer

Anna Ettlinger trifft also am Ende ganz und gar keinen glücklichen Levi an, auch wenn der über Villa und Automobile seine Scherze reißt. Ganz so beglückend kann auch seine Ehe nicht sein. Und als Anna ihn spätnachts noch beim Verbrennen von alten Briefen erwischt, wird ihr endgültig klar, dass Levi auch noch ein anderes Leben hatte, eines, das er vor allen verbarg, weil es schon völlig ausreichte, dass er durch seine Herkunft immerfort Zielscheibe für Angriffe war.

Das ist nicht der berühmte und hochgeachtete Dirigent, den Anna da trifft, sondern ein Mann, der das ihm Wichtigste im Leben immer verbergen musste.

So, wie das diskriminierte Menschen immer wieder müssen. Es ist ja nicht so, dass wir mit den diversen Emanzipationsbestrebungen schon fertig wären. Anna hat sogar ganz bewusst auf eine (Versorgungs-)Ehe verzichtet, weil ihr nur zu bewusst war, dass die Ehe nach bürgerlichem Rechtsverständnis vor allem eine Besitzverwaltung durch den Ehemann war. Und für die Frauen in der Regel das Ende aller Karrieren und eigenständigen Entscheidungen.

Das späte 19. Jahrhundert steht nicht für gewonnene Emanzipationskämpfe, sondern für ihren Beginn. Und auch für die Tragik derer, die versuchten, die schwer erkämpften Rechte dann auch wahrzunehmen. Und dafür trotzdem erniedrigt und gedemütigt zu werden.

Dass es dazu auch noch die künstlerischen Demütigungen gab, die etwa Johannes Brahms in seiner Konkurrenz zu Wagner erlebte, gehört mit zu diesem Bild aus vielen Facetten, das Dreyfus hier gelingt zu zeichnen. Mit einem noch einmal demütigenden Ende, als Anna erfahren muss, dass nicht sie es sein wird, die das Leben des berühmten Dirigenten Hermann Levi deuten wird, sondern eher die Leute um die verbitterte Cosima Wagner.

Laurence Dreyfus Parsifals Verführung Faber & Faber, Leipzig 2022, 24 Euro.

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