Es gibt sie noch – die von ihrer Heimatstadt und deren Geschichte Begeisterten, die alles sammeln, was die Geschichte ihrer Stadt lebendig werden lässt. Zu ihnen gehört auch der Torgauer Manfred Grau, Jahrgang 1936, dessen Sammlung an alten Ansichtskarten in Torgau längst eine Legende ist. Aber wie erzählt man mit diesen Ansichtskarten dann konkrete Geschichte? Da wird es spannend. Denn da geht es um die Frage, wie Menschen sich überhaupt Geschichte erzählen. Dies hier ist tatsächlich eine Manfred-Grau-Version.
Er hat die Ansichtskarten nicht thematisch sortiert, sondern nach Straßen und Plätzen. Und die wiederum hat er dann in eine alphabetische Reihenfolge gebracht. Vom „Am Bahnhof“ bis zur Wittenberger Straße. Darunter freilich auch Örtlichkeiten, die man im Straßenverzeichnis eher nicht findet, die aber für das Alltagsleben in Torgau Bedeutung haben – so wie die Elbbrücke, der Festplatz, das Glacis, der Hafen oder der Große Teich. Alles Orte, zu denen jeder Torgauer eine Menge zu erzählen und zu erinnern hat.
Und das tut Manfred Grau auch zu jedem Kapitel. Manchmal ausführlich mit lauter Namen einstiger Ladenbesitzer, Handwerker und Gastwirte. Man merkt schnell, dass es Grau nicht nur um die Zeit geht, in der die meisten Ansichtskarten verlegt und verschickt wurden – also die Zeit um 1900, als Torgau noch Garnisonsstadt war und die anwesenden Soldaten bestimmte Teile des Stadtbildes prägten – von den Kasernen bis zur Schlosswache und den Gastwirtschaften, in denen sie besonders gern verkehrten.
Allein das schon ein Kosmos von Erinnerungen, der mit den jeweiligen Ansichtskarten lebendig werden kann. Samt Krieg und Zerstörung, muss man hinzufügen. Denn die heute Lebenden wissen ja, was den stolzen Parade- und Exerzierbildern aus den Vorkriegszeiten folgte.
Die Schichten der Vergangenheit
Die Ansichtskarten selbst erzählen dann auch noch von einem Torgau, das man heute so nicht mehr vorfindet. Mal von der schönen Tatsache abgesehen, dass man – wenn man zum Markt will – immer nur den Straßen nach oben folgen muss.
Der Markt ist die höchste Stelle der Stadt. Verschwunden aber ist die um 1900 blühende Landschaft aus Läden und Gastwirtschaften, von denen viele mit eigenen Postkarten für sich Werbung machten. Torgau scheint – flüchtig betrachtet – geradezu eine Landschaft aus kleinen und größeren Gastlokalen, Cafés und Ausflugswirtschaften gewesen zu sein. Stolz stehen die Gastwirte mit ihrem Personal vor dem Eingang. Aber ebenso stolz zeigen sie auch ihre Gasträume, manchmal extra mit Publikum gefüllt, damit man sehen kann, welches Leben in der Bude ist.
Aber all das war auch schon lange Vergangenheit, als Manfred Grau zu sammeln begann. Im Nachwort erzählt er sogar, welche Ansichtskarte ihn dazu erst animierte. Aber er hat es sich eben auch nicht nehmen lassen, zu jedem Kapitel seine Erinnerungen beizutragen. Oft ganz unverhofft, was durchaus einen Eindruck davon gibt, wie ein alter Mann eigentlich auf sein Leben und die erlebte Geschichte blickt.
Und er tut das nun einmal nicht so fein sortiert wie im Geschichtsbuch, sondern lässt sich von Assoziationen treiben. Denn er kennt ja alle diese Orte schon seit Kindestagen, hat frühe Kindheitserinnerungen auch vom Ende des Zweiten Krieges beizutragen, hat die Verwandlung privater Gasthöfe in HO-Gaststätten miterlebt und viele der alten Torgauer Händler und Ladeninhaberinnen noch kennengelernt als Kind.
So etwas merkt man sich – seien es kärgliche Einkaufserfahrungen in winzigen Ladengeschäften, seien es die gefüllten Bonbonnieren im Süßwarengeschäft, seien es die kargen Angebote im Schreibwarenladen gleich nach dem Krieg. Aber die Abenteuer im Strandbad am Großen Teich gehören natürlich genauso dazu wie der Abriss einst prägender Gebäude oder der flächenhafte Ansatz, ganze Straßenzüge auch in DDR-Zeiten schon zu modernisieren.
Wer alt geworden ist, der erinnert sich an viel mehr Umbrüche und Veränderungen, als man sie als gewöhnlicher Gegenwartsbewohner parat hat. Denn Städte verändern sich. Aber viel langsamer als Menschen.
Das Verschwundene
Und um Menschen geht es Grau die ganze Zeit. Zu allen Orten fallen ihm die Menschen ein, die er an diesen Orten kennenlernte – seien es die Gastwirte der letzten Jahrzehnte oder prägende Ladenbesitzer. Es ist also nicht nur das Torgau um 1900, das hier mit hunderten Ansichtskarten wieder lebendig wird. Es schimmert auch das Torgau der Nachkriegszeit durch, mit all den Veränderungen, die dann in der Lebenszeit von Manfred Grau die Kinder und Erwachsenen beschäftigten. Und die ganz gewiss immer wieder Gespräch am Familientisch waren.
Und da wird eben deutlicher, wie ein Mensch seine Stadt erinnert. Denn wie es Grau tut, ist es eigentlich typisch: Man erinnert die Orte mit den prägenden Bewohnern, erinnert sich an Begegnungen, Unfälle, Sprengungen und einst erlebte Angebote, die einmal selbstverständlich schienen, dann im Lauf des 20. Jahrhunderts aber Stück für Stück verlustig gingen.
Und man erinnert eben die Menschen, die einen als Kind besonders faszinierten – so wie der Allgemeinarzt Dr. Hein oder der Schreibwarenhändler Wolff in der Fischerstraße 3. Aber auch das abgeräumte Denkmal Friedrichs II. kommt ins Bild, ein Punkt, an dem Gau natürlich auch an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert.
Mit Emil Laube – der auch einige der eindrucksvollsten Ansichtskarten gestaltete – erinnert Grau an den bekanntesten Maler der Stadt. Und mit Heinrich Diehl an den Schöpfer des Denkmals der Begegnung an der Elbe. Mit ihm fanden auch die Erinnerungen an seine Tochter ins Buch. Noch so eine Geschichte, die sich Menschen erzählen, die in ihrer Stadt zu Hause sind und die Geschichte eben nicht so monolithisch erinnern, wie es für gewöhnlich die Geschichtsbücher tun.
Der Ruß der Geschichte
Da haben Gastwirtschaften und ihre Wirte ihre Spitznamen, erinnert man sich an gemütliche Kneipenabende, an Spaziergänge und Ausflüge. An Bahnverbindungen, die längst aus „wirtschaftlichen Gründen“ eingestellt wurden, an den alten Mann, der mit seinem Pferdefuhrwerk die Aschegruben leeren kam. Aber auch an den ramponierten Zustand des Schlosses Hartenfels. Die Ansichtskarten beweisen es ja: So schmuck und durchsaniert wie heute sah das Schloss damals nicht aus. Und auch die Häuser in der Stadt waren nicht wirklich solche blankgeputzten Kleinode, wie man sie heute besichtigen kann.
Viele Straßen und Plätze waren noch gar nicht gepflastert. Automobile sind weit und breit nicht zu sehen. Es ist eben doch ein anderes Torgau, das hier in alten Ansichtskarten noch zu sehen ist. Eines, das vielleicht – anders als heute – keine Touristen anlockte. In dem sich das Leben aber ganz offensichtlich viel mehr auf den Straßen abspielte und praktisch an jeder Straßenecke ein gussmetallener Briefkasten hing. Was Grau zu einem sehr ausführlichen Beitrag auch über das Postwesen der Zeit animierte, zu emsigen Briefträgern und mehrfacher Postzustellung am Tag.
Alles Dinge, die natürlich mit der Zeit vergessen werden, wenn sie nicht einer aufschreibt. Einfach angeregt durch mal farbige, mal schwarz-weiße Ansichtskarten, in die man sich mit Lupe vertiefen kann und jedes Mal unerwartete Entdeckungen macht.
Manfred Grau „Das alte Torgau in Ansichtskarten“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2025, 34,80 Euro.
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