Mit den "Zotteligen Pferden auf Island" hat der Leipziger Literaturverlag vor zwei Jahren schon einmal vorgefühlt: Kann man den dicken Roman des serbischen Diplomaten und Schriftstellers Milos Crnjanski "Bei den Hyperboreern" auch deutschen Lesern zumuten? Ist immerhin ein ziemlich dickes Ding. Und ein Roman im üblichen Sinne ist es auch nicht.

Eher eine Art Tagebuch, die literarische Verarbeitung des Jahres 1940, das der 1893 geborene Crnjanski in Rom verbrachte – als Presseattaché der serbischen Botschaft. Zuvor war er in gleicher Position schon einige Jahre in Berlin gewesen, woraus sein Buch “Iris Berlina” entstand. Recht schmal, eher eine Phantasie als eine Beschreibung dieser Stadt im Sturz ins Hitlerreich. Diplomaten bekommen zwar viel mit, dürfen darüber aber nicht schreiben. Anders als etwa William Shirer, der als Journalist dieses Berlin scharfäugig beobachte und analysierte.

Und mit dem Dienst in Rom von 1938 bis 1941 war Crnjanski nun mitten im Zentrum des anderen faschistischen Staates, der die europäische Politik herausforderte und mit grimmigem Kinn in den nächsten Weltkrieg trieb. Da und dort lässt Crnjanski seine Sicht auf dieses Land und seinen Herrscher durchblicken. Er sieht sehr wohl, dass es in Rom eigentlich nur einen gibt, der angibt, wohin die Reise geht. Ein ganzes Land ist der Manie dieses Mannes völlig ausgeliefert. Staaten funktionieren einfach weiter, egal, wer das Ruder übernommen hat. Und Diktaturen kennen erst recht keine Korrektive.

Veröffentlicht wurde Crnjanskis “Roman” erst 1966 – nach seiner Rückkehr aus dem zuletzt nicht freiwilligen Exil in London, wohin er noch während des Krieges mit der serbischen Exilregierung gegangen war. Die Zeit in Rom war auch für ihn eine Zeit der Ungewissheit. Tritt Italien in den Krieg ein? Wird Serbien wieder gezwungen, sich zu beteiligen – oder gleich zum Opfer eines Übergriffs? Vom Krieg hat der Autor und Diplomat eigentlich die Nase voll. Schon den ersten Weltkrieg hat er in österreichischer Uniform mitmachen müssen. Den zweiten fühlt er herannahen. Er ist von Anfang an präsent in den Gesprächen, die er aufzeichnet. Vielleicht fiktive Gespräche. Vielleicht eine fiktive Handlung, in der er aber selbst der Akteur ist, der unter seinem Alltag im Borghese-Palast körperlich leidet. Das Alter macht sich bemerkbar. Und seine Frau ist weit weg.

Doch so wie Crnjanski die Gespräche und Begegnungen mit dem kleinen Kreis diskutierfreudiger Italiener aufzeichnet, die Ausflüge ins Gebirge und ans Meer, wirken sie wie aus einem Tagebuch übernommen, die Personen erscheinen real – ein amerikanischer Journalist, zwei italienische Offiziere, ein etwas zwielichtiger Marquese, eine verzweifelte Krankenschwester, ein besorgter Arzt. Doch über Staatsoberhäupter will der Diplomat nicht sprechen, nicht über den Papst (bei dem Serbien einen eigenen Botschafter hat), nicht über Mussolini, der das Volk unter seinen Balkon zitiert, wenn er eine weltbewegende Entscheidung zu verkünden hat.

Zuweilen vermuten die immer nervöseren Gesprächspartner, der Autor beschäftige sich so intensiv mit der römischen Geschichten und Kaisern wie Tiberius, weil er auf diese Weise eben doch über den neuen, selbsternannten Tribunen reden könne. Er streitet es ab. Und so werden die Gespräche in diesen Kreisen immer wieder zu Ausflügen in die italienische und antike Kunstgeschichte. Aber mehr noch zu Ausflügen in die Literatur – teilweise heftige Fehden über Dichter und ihre Lebensgeschichte. In der sich – etwa in der Geschichte Tassos – auch wieder ein Stück der Lebensgeschichte des “kleinen Bürokraten” Crnjanski spiegelt. Oder spiegeln könnte.

Dabei ist gar nicht so sehr die italienische Geschichte die Welt, in die er flieht, um seiner Einsamkeit zu entkommen. Eigentlich arbeitet er gerade an einem Buch über seinen Aufenthalt im äußersten Norden Europas, bei den “Hyperboreern”, wie er so gern sagt. Auch wenn der Begriff schon bei den alten Griechen eher diffus war und alle Völker umfasste, die “jenseits der Winde” lebten. In dunklen, kalten, eisigen Ländern. Das konnte die Germanen mit einschließen, die ferne Insel Thule. Aber da Crnjanski den Norden bereist hat, kennt er die Vielfalt dieser kalten Gegenden mit ihren kurzen Sommern. Er war auf Spitzbergen, Jan Mayen und Island, kennt den eisigen Norden Norwegens, Schweden und Dänemark.

Seine intensive Beschäftigung mit dieser Welt und mit der tragödienreichen Erkundungsgeschichte des Nordpols ist natürlich eine Flucht. Die sogar seine Gesprächspartnerinnen begeistert. Auch wenn die Begeisterung andere Ursachen hat. Nicht jeder findet die kurzen arktischen Sommer so faszinierend. Und nicht jeden fasziniert auch der nachdenkliche, sentimentale Menschenschlag, der da lebt. Den man aber in Rom auch bestens kennt, denn Genrationen skandinavischer Künstler und Dichter hat es nach Italien gezogen, viele sind hier auch gestorben, angelockt von der Kultur des Landes. Oder einfach seiner Wärme. Auch darüber streitet man sich in Gesellschaft des Autors, der die Gespräche so detailliert niederschreibt, dass sie wie ein Protokoll wirken.

Das wirkt modern und alt zugleich. Es verquickt die realen Reisen, die der Autor durch das Italien des Vorkrieges macht, mit geistigen Reisen in Raum und Zeit. Und er bereist Italien natürlich auch, um all die Schönheiten der Kunst noch einmal zu sehen, bevor sie möglicherweise in Bombardements untergehen. Denn spätestens mit dem Kriegseintritt Italiens werden Frankreich und England zum Feind. In den Kinos laufen die deutschen Filme von den Bombardierungen polnischer Städte. Die Römer wissen also, was auf sie zukommen kann. Und ihre Ratlosigkeit ist mit Händen zu greifen. Fatalistisch nehmen die beiden Offiziere ihr Schicksal auf sich, obwohl sie wissen, dass ihre Armee auf den Krieg gegen die modernen Streitkräfte der Gegner gar nicht eingerichtet ist.

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Der Krieg hat sich verändert. Die Schlachten in Afrika gewinnt, wer die größeren Benzinvorräte hat. Und als französische Flugzeuge Rom ansteuern, bekommt auch der Autor dieser Geschichte den Krieg hautnah zu spüren, landet im Keller mit den Bewohnern eines ganzen Mietshauses im Armenviertel. Doch die Stadt, in der der Papst residiert, wird in diesem Krieg nicht bombardiert.

Unter all den Geschichten von den Hyperboreern, den berühmten und vergessenen Dichtern Italiens und den Ausflügen nach Neapel oder ans Meer schimmert natürlich auch der Roman Roms durch, den Crnjanski hier wieder schreibt, als schriebe er ihn nicht. Alles scheint nur Kulisse, fast wahllos zoomt er Details heran. Aber die Stadt ist immer gegenwärtig. Ein Ort, an dem der Autor jederzeit sagen kann “Kenn ich …” Er muss seine Gesprächspartner augenscheinlich alle Nase lang davon überzeugen, dass er Italien liebt, egal, was die politischen Maskenträger gerade tun. Dass er es auch lieben wird, wenn er weiterziehen wird. Das kennt er ja, dieses Leben in der Fremde, die Heimstatt und Exil zugleich ist.

Wo er selbst Außenseiter und Fixpunkt ist. Einer, der augenscheinlich immer wichtiger wird als Maßstab, als einer, der den Irrsinn, den seine Gesprächspartner auch als solchen bezeichnen, aus einer gewissen Distanz betrachten kann. Vielleicht sogar mit Verständnis. Denn wie sonst kann man sich abfinden mit dem regierenden Wahnsinn, den man nicht ändern kann? Das ist die Stelle, an der Crnjanski einen der vielen berühmten Oxenstiernas zitiert – wahrscheinlich wohl den schwedischen Kanzler Axel Gustafsson Oxenstierna, der ziemlich trocken gesagt haben soll, die Menschen würden sich wundern, wenn sie wüssten wie unfähig diejenigen sind, die sie meistens regieren.

Vielleicht hat’s auch ein anderer gesagt. Es ist schlicht ein Buch, in dessen Anhang ein Personenregister gehört. Vielleicht hatte schon die jugoslawische Erstausgabe keins. Aber spätestens diese Übersetzung von Elvira Veselinovic hätte eine gebraucht. Die Staffage des “Romans” hat zwar keine Namen, was ein literarisches Spiel sein kann, aber auch die diplomatische Zurückhaltung des serbischen Diplomaten. Aber die Namen der Dichter, Künstler, Philosophen, Kaiser, Könige und Forschungsreisenden purzeln nur so. Von Belli bis Nobile, von Michelangelo bis Thorwaldsen. Wer in der europäischen und ganz speziell in der italienischen und skandinavischen Kultur ein bisschen bewandert ist, wird seine Freude haben, wird mitdiskutieren beim Lesen und auch Lust bekommen, die erwähnten Bücher aus dem Regal zu fischen. Oder den Bildband über Pompeji. In welchem Haus ist denn das Bild des Vesuvs gefunden worden, das ihn kurz vor seinem Ausbruch 79 zeigt und so japanisch aussieht?

Es ist ein Buch für Langsamleser, für Leute, die gern abschweifen und sich anregen lassen. Ein Buch für lange Sommernachmittage oder – wenn der Sommer mit lauter Reisen drauf geht – für die unweigerlich folgenden langen Herbst- und Winterabende. Es ist auch ein Buch, dass diesen langen italienischen Vorabend des Krieges in lauter Gespräche presst, die anfangs sehr ruhig, sehr heiter ablaufen. Aber je näher der Moment rückt, an dem ein kantiger Kerl auf den Balkon tritt und seinem Volk den Krieg verkündet, umso öfter geraten die Gespräche aus dem Gleis, verlieren die Gesprächspartner die Nerven, schimpfen und streiten.

Und da auf dem Buch steht “Erster Teil”, kann man damit rechnen, dass es in einem zweiten Teil genauso weiter geht. Vielleicht gerade rechtzeitig für alle, die dann mit Teil 1 gerade durch sind.

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