Wir leben in einer Zeit, in der uns ein altes Werkzeug der freien Rede um die Ohren fliegt. Es wird zwar jede Menge über Populismus gesprochen, als würde man das Wort Demagogie lieber nicht anfassen, weil es völlig verbrannt ist. Aber was die heutigen Debatten so gründlich zerstört, das ist ganz klassische Demagogie. Beziehungsweise: ihr Missbrauch. Denn ursprünglich war der Begriff durchaus positiv besetzt. In diesem Buch erzählt der Wiener Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits, wie aus einem bewunderten Redner des Volkes ein moderner Verführer, Lügner und Hassprediger wurde.
Zu den letzten Begriffen greift er natürlich nicht. Ihm liegt vor allem daran, den Wandel eines aus gutem Grund einst positiv besetzten Begriffes aus den Zeiten der griechischen Demokratie bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Ein Wandel, der im Grunde in der Natur der Sache liegt.
Denn die Demokratie lebt nun einmal auch von begabten Rednern, die bereit sind, für eine Sache zu streiten und den Demos zu überzeugen. Anders gewinnt man keine Mehrheiten. Und das war im alten Athen genauso eine anstrengende Sache wie im alten Rom, als dieses noch eine Republik war. Denn der Ort der demokratischen Aushandlungen war in Athen die Agora und in Rom das Forum.
Wer die Menge überzeugen wollte, brauchte eine starke Stimme und rhetorische Überzeugungskraft. Weshalb die Rhetorik sowohl in Griechenland als auch in Rom eine der nachgefragtesten Künste war und es regelrechte Rhetoriklehrer gab. Wer die Kunst der Überzeugung nicht beherrschte, konnte als Redner in der Regel wenig erreichen.
Warum Demagogie wirkt
Das ist das Positive. Und in diesem Sinn könnte Demagogie auch heute noch verstanden werden. Aber schon in Athen zeigte sich, dass die rhetorische Begabung auch für negative Zwecke eingesetzt werden konnte. Denn auch das war wie heute: Die meisten Wahlbürger haben von den großen Zusammenhängen, die im Parlament verhandelt werden, keine Ahnung.
Sie lassen sich leicht von flammenden Argumenten, Märchen, Fakenews und Emotionen überzeugen. Der Mechanismus ist uralt. Wenn er aber einmal entdeckt ist, wird er auch angewendet. Und zwar mit Absichten. Wer die Menge überzeugen kann, gewinnt politische Schlachten.
Oder wie es Sailer-Wlasits formuliert: „Das in diesen Annäherungen und Definitionen skizzierte Gefahrenpotenzial blieb von erheblicher soziopolitischer und kultureller Relevanz, denn dessen Mechanismus hat seit der Antike nichts von seiner Wirkmacht eingebüßt: sobald gesellschaftliche Mehrheiten – die per definitionem nicht in ihrer Gesamtheit zu den ‘Wissenden’ zählen können -, sich von effektvoller Rhetorik belehrt und überzeugt fühlen, obwohl sie nur überredet wurden, beginnen diese, sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich ihres Verhaltens berechenbar, beeinflussbar und damit politisch steuerbar zu werden.“
Sailer-Wlasits blättert für seine Leser auch das Komplexe an demagogische Rhetorik auf. Denn Redner, die – wie z.B. Cicero -, das ganze Instrumentarium der Demagogie beherrschen, wurden auch bewundert. Gerade in der Spätphase der Römischen Republik wandelte sich auch unter den einflussreichen Politikern die Haltung zur Rhetorik, entfernte man sich vom griechischen Verständnis des sachdienlichen Redens immer mehr und hielt das Aufstacheln von Emotionen immer mehr für die eigentliche Kunst des Rhetors.
Das Reden diente nicht mehr dem Zweck, die Menge vom Richtigen zu überzeugen, sondern der eigenen Partei und dem eigenen Anliegen – mit allen rednerischen Mitteln – zum Erfolg zu verhelfen. Und so wurde das öffentliche Reden dann auch jahrhundertelang verstanden.
Sailer-Wlasits geht auf die Rolle der Kirche ein, bis hin zur demagogischen Aufstachelung zu den Kreuzzügen. Kurz leuchtet er in die Zeit des Macchiavelli, der in seinem „Il Principe“ auch erklärte, wie ein Fürst reden „sollte“, wenn er seine Absichten verschleien und durchsetzen will.
Ein Begriff wandelt sich
Und Sailer-Wlasits endet auch nicht bei der Französischen Revolution und der in ihr entfesselten Demagogie, die letztlich in ein regelrechtes Blutbad mündete. Er geht auch auf die amerikanischen Gründerväter ein, die sehr wohl schon ahnten, wie gefährlich rücksichtslose Demagogie für das Gemeinwesen werden kann.
Und dann genügt ein Blitzlicht in den deutschen Vormärz, als der Begriff Demagoge durch die Akteure der Restauration zum Kampfbegriff wurde, mit dem alle bezeichnet wurden, die damals für demokratische und freiheitliche Veränderungen kämpften. Zensur und Repression sollten im Reich für Grabesstille sorgen. Wer Kritik übte, musste damit rechnen, zum Demagogen gestempelt und verfolgt zu werden.
Seitdem hat der Begriff Demagogie seinen negativen Anstrich nie verloren. Auch wenn die dahinter stehende Praxis nicht verschwand, sich nur neu einkleidete und oft genug unwidersprochen und rücksichtslos Politik machte. Dazu kamen dann – wie Sailer-Wlasits betont – im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts auch die modernen Massenmedien, die auf ihre Weise völlig neue Plattformen des öffentlichen Sprechens darboten, die dann von Demagogen aller Art auch weidlich genutzt wurden, um die breite Menge zu beeinflussen, zu ängstigen, aufzupeitschen, mitzureißen.
Der Gipfelpunkt der Entwicklung war dann ja bekanntlich der Faschismus – beginnend mit Mussolini, gipfelnd in Hitler und Goebbels, deren Reden dann tatsächlich die blanke schwarze Demagogie waren. Und die verführte Masse schämte sich dafür noch Jahrzehnte. Wie konnte man sich von diesen braunen Demagogen derart verführen lassen?
Aber für Sailer-Wlasits ist das klar: Der Mechanismus funktioniert. Eben weil die große Menge nicht weiß, wie die Dinge wirklich zusammenhängen. Man lässt sich nur zu gern einfangen und (ver-)führen. Und die Sache funktioniert umso besser, je weniger Widerrede es gibt. Auch daran erinnert der Autor: dass demokratische Foren und einmal davon leben, dass es lebendige Widerrede gibt.
Digitale Demagogen
Und diese Art der rücksichtslosen Sprechakte erleben wir heute wieder. Die Demagogen von heute nutzen alle Mittel der Entgrenzung und Enthemmung, „Dabei unterscheiden sich die neuen Demagogen des anhebenden dritten Jahrtausends nicht strukturell, sondern graduell und primär aufgrund der zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel sowie Technologien der Multiplikation von den Volksverführern vergangenen Millennien.“
Sie haben zwar keine „konstruktiven politischen oder gar weitblickenden soziokulturellen Programme vorzuweisen“, aber das brauchen sie auch nicht, denn sie haben die viel gewaltigeren Räume der Kommunikation besetzt, welche die unregulierten „Social Media“ bieten, und sammeln dort ihre Gefolgschaft ein, hämmern ihre Weltsicht in die Köpfe und schaffen so einen vorpolitischen Raum, in dem autoritäre Grundmuster wieder dominieren.
„Während Populisten den Diskurs überdehnen und stören, brechen Demagogen dessen Regeln und Prämissen“, stellt Sailer-Wlasits fest. „Durch das System, die Mechanismen und das Prinzip Demagogie können sogar Teile apolitischer und politisch desinteressierter Bevölkerungsgruppen mobilisiert, in Bewegung und Begeisterung versetzt werden.“
Wenn der charismatische Vorturner dann auf den Plattformen keine gleichrangige Widerrede mehr bekommt, kein Korrektiv dafür sorgt, dass die Debatte auch für andere Sichtweisen wieder geöffnet wird, wird das ganze zu einem Zug, der alles überrollt.
Und dazu kommt noch etwas, was dabei gründlich unter die Räder gerät: Die gemeinsamen Vorstellungen von wahr und falsch. Etwas, was in den vergangenen 200 Jahren immer das Arbeitsgebiet professioneller Medien war. Sie schufen – indem sie über die gesellschaftlichen Vorgänge möglichst objektiv berichteten – immer auch eine gemeinsame Vorstellung von dem, was tatsächlich Sache ist.
Doch diese Recherche-Arbeit wurde schon durch die großen Plattformen unterlaufen, die nicht den informierten Austausch der Nutzer beförderten, sondern die Entstehung emotional aufgeblähter Blasen, in denen Menschen nur noch mit Gleichgesinnten unterwegs sind. Und das steigert sich gerade, den jetzt drücken die großen Plattformbetreiber mit all ihrer Macht auch noch die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ in die Netze, die mit Intelligenz nun gar nichts zu tun hat.
Zerstörte Debatten
Aber die „Social Media“ können „mittels KI noch weitaus mehr als bisher dazu missbraucht werden, kommunikative Ungleichgewichte zu erzeugen. Kritische Stimmen und missliebige politische Positionen können nahe Echtzeit identifiziert, in Realtime marginalisiert und mittels digital herabgestufter Sichtbarkeit faktisch in die machtpolitische Bedeutungslosigkeit gedrängt werden.“ Die KI verstärke also den Erosionsprozes der Demokratie.
Die nun einmal davon lebt, dass Menschen miteinander reden, einander zuhören, Fakten und Wirklichkeit teilen. Was kann eine Gesellschaft also tun, um sich gegen diese Wucht plattformgestützter Demagogie zu wehren? Jedenfalls darf sich, wer die Demokratie erhalten will, nicht wegducken, es geht um – faktisches – Wissen, das dem überschäumenden Gerede immer wieder entgegengesetzt werden muss. Sailer-Wlasits spricht sogar von Vigilanz, also Wachsamkeit und Fürsorge.
Denn natürlich geht es um das Gemeinsame, das vor die Hunde geht, wenn autoritäre Demagogen versuchen, die Macht an sich zu reißen. Und wenn sie es schaffen, hat das – so Sailer-Wlasits – Folgen für Jahrhunderte. Denn zerstört ist eine Republik schnell, wieder erkämpft aber nur schwer und unter vielen Opfern.
Also braucht es Gegenrede. Laut und deutlich. Und natürlich das Wissen darum, wie Demagogie funktioniert und warum sie so viele Menschen mit sich reißt, wenn der Verführer keinen Widerspruch mehr erfährt und seine Vorstellungen vom Zustand der Nation unfiltriert in die Köpfe hämmern kann.
Demagogie ist ein zweischneidiges Schwert. Mit Sailer-Wlasits hat man die Entwicklungsgeschichte dieser Kunst vor Augen, die durchaus auch eine positive sein kann, wenn dahinter demokratische Überzeugungen stehen. Die aber eben leicht auch von all jenen missbraucht werden kann, denen das Gemeinwohl egal ist und die nichts anderes im Sinn haben, als ihre Eigeninteressen rücksichtslos durchzusetzen.
Mit rhetorischen Finessen, die schon ein Cicero kannte und guthieß, obwohl er in einer Zeit lebte, in der Demagogie längst ihren Teil daran hatte, der römischen Demokratie den Gnadenstoß zu versetzen.
Paul Sailer-Wlasits „Demagogie“ Königshausen & Neumann, Würzburg 2025, 20 Euro.
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