Leipzig muss eine tolle Stadt sein. Zumindest für coole Leute, die wissen, wie man sich gut präsentiert und nicht anmerken lässt, wenn es einem mal nicht so gut geht. Oder richtig schlecht. Jedenfalls scheint dieses hippe Leipzig kein wirklich guter Ort für junge Frauen wie Nadja zu sein, deren Stimmung in den sonderbarsten Momenten völlig umschlagen kann. Unsere Selbstvermarktungsgesellschaft ist kein guter Ort für sie.

Und diese „coole“, „woke“, „smarte“ Gesellschaft ist im Grunde das Thema, das Désirée Opela erforscht. Das tat sie schon in ihrem 2019 veröffentlichen Roman „In Limbo“. Und das tut sie auch in „Das Wetter in uns“, einer Geschichte, die einmal nichts mit den aktuellen Folgen der Klimaüberhitzung zu tun hat. Oder nur indirekt.

Denn dass wir es als Gesellschaft einfach nicht hinbekommen, unser klimaufheizendes Verhalten zu ändern, hat mit dem zu tun, was in unseren Köpfen passiert. Auch und gerade den Köpfen junger Menschen, die schon früh beigebracht bekommen, nicht nur perfekt zu funktionieren, sondern auch sich selbst zu optimieren, sich fit zu machen für einen Überbietungswettkampf, in dem jeder letztlich sein eigener Unternehmer ist, der selbst beim Abend in der hippen Bar nur eins zeigen darf: Abgeklärtheit, Cleverness und die Fähigkeit, sich jederzeit gut vermarkten zu können.

Und das scheint auch bei den Kommilitonen der Fall zu sein, mit denen es Nadja bei ihrem Kunststudium in Leipzig zu tun bekommt. Wirkliche Nähe entsteht nicht. Es geht um Projekte und Vermarktung. Und eigentlich sind Nadjas Kontakte gar nicht so übel, denn die jungen Menschen, mit denen sie es zu tun bekommt, engagieren sich auch fast alle gesellschaftlich.

Leipzig kommt ihr (verglichen mit München) wie eine Stadt der immer noch lebendigen Revolution vor, in der junge Menschen auch heute noch auf die Straße gehen, um für ihre Themen zu kämpfen. Alte freilich auch.

Es ist die Zeit von Pegida, die Nadja in Leipzig erlebt. Doch eigentlich ist ihr das alles fern. Denn etwas in ihr macht ihr wirkliche Kontakte unheimlich schwer, lässt ihre Stimmung ausgerechnet dann kippen, wenn scheinbar alles in bester Ordnung ist.

Dann geht sie und verkriecht sich – meist in ihrer Wohnung, aus der sie oft tagelang nicht herauskommt.

Wenn die Seele streikt

Désirée Opela erzählt die Geschichte vom Ende her. Da ist Nadja längst in München und arbeitet bei einer jungen, „smarten“ Agentur, in der Teamspirit augenscheinlich die wichtigste Motivation ist. Hier findet Nadja zwar ein Feld, auf dem sie kompetent und eigentlich unersetzlich ist, doch der geringste Trigger genügt und wirft sie aus der Bahn.

Möglicherweise liege ich nicht ganz falsch, wenn mir das als ein literarisch sehr stringenter Versuch erscheint, die Welt aus Sicht einer jungen Frau zu erzählen, die unter einer Borderline-Störung leidet.

Was Nadja aber nicht wirklich weiß und auch ganz zum Schluss nur von einer ratlosen Ärztin zur nächsten ratlosen Psychologin weitergereicht wird, die alle nicht herausbekommen, worunter die junge Frau nun eigentlich leidet und was in ihrem Körper da eigentlich kaputt ist.

Denn die Diagnosen bringen allesamt keine Ergebnisse, auch die des Heilpraktikers nicht, den sie dann in ihrer Not auch noch aufsucht. Vielleicht, weil sie den eigentlichen Trigger in ihrem Leben nie wirklich loswird und schon der geringste Gedanke daran genügt, sie könne nun auch diesen Job, der ihr endlich ein festes Einkommen verschafft hat, verlieren, weil sie den Erwartungen und dem Stress nicht standhält. Oder besser: Ihr Körper rebelliert – ihr Magen, ihre Beine. Am Ende läuft sie gar an Krücken.

Als käme man nur noch mit Krücken durch diese Welt, als gäbe es darin einfach keinen Platz für Menschen, die bei der permanenten Perfektionierung und dem Druck zu immer neuen Erfolgsleistungen nicht genügen können. Oder wollen.

Denn natürlich hat das mit Willen zu tun. Ihre diversen Freunde erzählen doch genau das immer wieder. Wer etwas werden will, reißt sich zusammen und perfektioniert seine Auftritte. Selbst in der Bar unterhalten sich alle noch mit weltmännischer Geste über ihre Projekte, die Welt und wie man sie retten kann.

Wer hört noch zu?

Nur Nadja fühlt sich überfordert, reagiert impulsiv und flüchtet regelrecht. Auch unmotiviert, obwohl sie ihr eigenes Handeln immerfort beobachtet und bewertet und sich schon im Agieren sagt, wie falsch es doch ist. Und dennoch gelingt es ihr nicht wirklich, stabile Beziehungen aufzubauen.

Außer vielleicht zu Clemens, der mit dem Krebs kämpft und vielleicht noch am besten versteht, wie es Nadja geht. Zumindest hat er ein Verständnis für ihre unberechenbare Impulsivität, das die anderen nicht haben. Oder nicht aufbringen wollen.

Nur ihr Vater Marek scheint den Sinn für die seelischen Nöte seiner Tochter nicht verloren zu haben. Vielleicht auch, weil er die Grenzerfahrungen mit seinem Seelenleben auch erlebt hat – als Dissident, der nach dem Prager Frühling ins Exil gegangen ist, und als Künstler, dem es in großer seelischer Anspannung gelingt, das, was er fühlt, in Bilder zu verwandeln.

Doch Nadja verliert ausgerechnet jene Menschen, die ihr zugehört haben und sie tatsächlich so akzeptiert haben, wie sie ist. Es gibt kein Happyend. Auch keine Lösung. Denn weder ihre Krankheit wird beim Namen genannt, noch ändert sich die Welt, in der sie eine Rolle spielen will, die sie eigentlich nicht aushält. Da hilft dann auch keine Professionalität und auch nicht der Wille durchzuhalten und die Zähne zusammenzubeißen.

Da wehren sich Körper und Psyche trotzdem und machen ihr schlicht unmöglich, weiter zu funktionieren. So gesehen ist es nicht nur Nadjas Geschichte, die beim Lesen auch oft schwer auszuhalten ist. Man möchte sie an die Hand nehmen oder gar etwas so Dummes sagen wie „Es wird schon wieder“.

Obwohl man mit Nadja weiß, dass das nicht wieder wird. Jedenfalls nicht so, dass die junge Frau wieder zurückkehren kann in ein funktionierendes Leben nach den Maßstäben einer Leistungsgesellschaft, die sich ihrer seelischen Nöte gar nicht bewusst werden will.

Immer unter Hochspannung

Und in gewisser Weise erzählt einem Nadjas Geschichte auch, dass das so auch nicht lange gut gehen kann. Dass all diese smarten Geschichten von erfolgreichem Teamwork letztlich auch nur Ausbeutergeschichten sind, die die jungen Menschen, die sich hier verdingen, weil sie an ihren „Spirit“ glauben, zu Einzelkämpfern machen, denen die Angst vor dem Versagen jeden Tag gegenwärtig ist.

Es ist eine Welt, in der Nadja eigentlich ganz selbstverständlich ans Flüchten denkt. Und in der für echte Nähe und Freundschaft eigentlich kein Platz ist. Und für Ent-Spannung erst recht nicht. Und damit für das Wahrnehmen der Welt und der eigenen Seele. Worüber Nadja eigentlich nur noch mit Clemens sprechen kann, der nachfragt, wenn sie ihm sagt: „Ich höre nichts mehr.“

Wo ist der Ort, wo man sich nicht „beweisen“ muss, um sich dort akzeptiert und verstanden zu fühlen?

Die Frage bleibt. Es ist eine ziemlich harte Frage in einer Gesellschaft, in der dieses lebendige Selbst nicht mehr gefragt zu sein scheint. Nur noch das strahlende Lächeln und das euphorische Lachen, wenn es darum geht, Projekte zu stemmen und Teamziele zu erreichen. In Teams, die alles Mögliche sind, nur keine Gemeinschaft glücklicher Menschen.

Désirée Opela Das Wetter in uns Faber & Faber, Leipzig 2022, 20 Euro.

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