In manchen westdeutschen Sichtweisen ist der Osten bis heute noch immer „die Zone“. Und in vielen Regionen des Ostens fühlt man sich auch so – abgekoppelt, vom Strom der Zeit an den Rand gespült. Und das Erstaunliche ist: Das wird in letzter Zeit immer öfter Literatur. Ziemlich dystopische Literatur, in der sich Vergangenheit und Zukunft begegnen. Und kaputte Landschaften die Spielbühne abgeben. Landschaften, in denen die Menschen wie Gestrandete leben.

Natürlich kennt man das. Denn das war immer die Spielwiese der Brüder Strugazki, deren bekanntester Roman – „Picknick am Wegesrand“ (von Andrej Tarkowski unter dem Titel „Stalker“ verfilmt) – geradezu wie die Vorlage zu Uwe Salzbrenners Roman wirkt, auch wenn ein halbes Jahrhundert dazwischen liegt „Picknick am Wegesrand“ erschien 1971 und erzählt von der Durchquerung einer Zone, die offensichtlich Außerirdische hinterlassen hatten. Eine hochgefährliche Zone, in der sich noch immer Artefakte der „Besucher“ befinden – rätselhaft und gefährlich.

Der Dresdner Autor Uwe Salzbrenner verwandelt in seinem Roman einen Teil von Dresden in eine „Zone“, in der sämtliche Funkverbindungen nicht funktionieren. Kein Smartphone funktioniert, keine Internetverbindung. Niemand weiß, warum das so ist. Die Menschen sind trotzdem geblieben, viele haben dereinst ihre Plattenbauwohnung gekauft.

Anders als bei den Strugazkis ist die Zone aber nicht abgeriegelt. Obwohl darin weitere unverständliche Dinge passieren – einzelne Menschen entwickeln paranormale Fähigkeiten. Und das scheint doch eine Reihe von Institutionen zu interessieren, die ihre Leute in die Zone schicken.

So wie bei der Expedition, an der der Kurator Eismann teilnimmt. Denn nicht nur die Zone ist „anders“. Salzbrenner hat auch seinem Dresden eine alternative Geschichte verpasst. Eine, in der nun Kuratoren dafür sorgen, dass die Menschen sich wahrgenommen fühlen sollen und friedlich bleiben. Quasi Zuschauer und Zuhörer in einem, die einfach Stimmungen und Informationen einsammeln, mit den Leuten reden, durch eine Binde erkennbar als Teil der Verwaltung.

Was geschah in der Zone?

Und so ist dann auch irgendwie Eismanns Rolle bei dieser Expedition, die fast nur nachts stattfindet, denn tagsüber brütet über Dresden die Hitze. Der Klimawandel hat auch hier zugeschlagen, den man als zusätzliches Motiv nicht vergessen darf, denn er verwandelt ganz zwangsläufig immer mehr Gegenden auf der Erde in unwirtliche Zonen.

Normalerweise sind diese Expeditionen für Kern, die Leiterin der Truppe, Routine. Doch auf dieser Expedition geht einiges schief. Am Ende bleibt eine Expeditionsteilnehmerin – die als Touristin angereiste Thrud – verschollen. Und Eismann hat riesige Gedächtnislücken, weil ihm unterwegs ein zwielichtiger Mensch, Anführer der Dresdner „Spaziergänger“, eine Spritze verpasst hat.

Mühsam versucht er nun in Gesprächen und neuerlicher Rückkehr in die Zone herauszufinden, was wirklich passiert ist. Salzbrenner weist im Nachwort extra darauf hin, dass ihm gar nicht mal „Picknick am Wegesrand“ von den Strugazkis Vorbild war, sondern ihr erst recht „ethisch-spekulativer“ SF-Roman „Die Wellen ersticken den Wind“ von 1985, in dem Maxim Kammerer eine ähnliche Rolle zum Schutz der Erde spielt, wie sie Eismann als Kurator in Dresden spielt.

Und es geht ihm auch genauso wie Eismann. Der kurze Wikipedia-Beitrag fasst die Irritationen des Lesers durchaus treffend zusammen: „Viele Umstände und Motive der Handlung bleiben im Dunkeln bzw. werden nicht schlüssig begründet.“

Denn Eismann hat zwar oft den Eindruck, mehr zu wissen als die Leute, mit denen er spricht, sie und ihre Motive auch zu durchschauen. Doch was tatsächlich passiert ist und wer nun tatsächlich für welchen Teil der Ereignisse verantwortlich ist, das wird einfach nicht deutlich. Aber: Genau das wirkt vertraut. Es ist eben auch das tatsächliche Dresden von heute, das durch die manchmal ruppigen, wortkargen und tastenden Gespräche von Salzbrenners Figuren schimmert.

Jede hat ihr Stück Wahrheit, glaubt zu wissen, was vor sich gegangen ist. Aber tatsächlich stochert nicht nur Eismann im Nebel, interpretiert Motive hinein, meint neue Erkenntnisse zu gewinnen, wenn ihm seine Gesprächspartner eigentlich gar nicht geantwortet haben.

Das Drumherum-Reden

Und die tatsächlich wichtigen Fragen, die einen als Leser beschäftigen, stellt er nicht. Als hätte Eismann Angst davor, seine Unkenntnis zuzugeben. Im Kopf wälzt er die Fragen zwar und in einem ordentlichen Detektiv-Roman würde er alle „Verdächtigen“ mit seinen Fragen auch festnageln. Aber irgendwie gehört es zu seiner Rolle, dass er niemals direkt fragt, immer nur andeutet, Brocken hinwirft, interpretiert, was ihm selbst hingeworfen wurde.

Da schimmert ein ganzes Stück heutige Dresdner Wirklichkeit durch, die Atmosphäre einer Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr unverstellt miteinander reden, nett miteinander tun, nur um ja keine Aggressionen wachzurufen, die ja längst dicht unter der Oberfläche lauern.

Und so sieht Eismann auch auf die Menschen, die in der Zone wohnen, Abgehängte zumeist, Leute, die gar nicht wegkönnen und auf Fremde und Besucher mit Argwohn reagieren. Und die erst recht misstrauisch sind, wenn ihr Lebensumfeld wie etwas Exotisches begafft, gefilmt und beobachtet wird. Und die deshalb auch das Erscheinen von Paranormalem eher als Gefährdung und Dissonanz begreifen. Sie wollen den ganzen Zirkus nicht. Wollen eigentlich nur in Ruhe gelassen werden.

So gesehen fallen auch sie als Informationsquelle eigentlich aus, auch wenn Eismann bei seinen Nachforschungen trotzdem Brocken erfährt. Ein paar wenige Brocken, die das, was er von seinen „Kollegen“ und „Vorgesetzten“ erfährt, nur lückenhaft ergänzen. Denn was immer klarer wird: Hier spricht niemand klar und deutlich. Alle reden, als hätten sie etwas zu verbergen, als wüssten sie mehr und nur der von seiner Gedächtnislücke geplagte Eismann ist der Dumme, der nicht begreift, was vor sich geht.

Die Einsamkeit des „neuen Menschen“

Und um die Anleihe bei seinen literarischen Vorbildern noch deutlicher zu machen, hat Salzbrenner seinen Helden zu einem Russen gemacht, der als Junge mit seiner Familie aus dem heruntergewirtschafteten Russland Gorbatschows in den „Osten“ kam, der ihn auch Jahre später noch an die ebenso von Plattenbausiedlungen geprägten Städte Russlands erinnert.

Und die Romane der Strugazkis sind ja nicht deshalb so dystopisch und fragil, weil sie unbedingt eine Gegenwelt zum blinden westlichen Technik-Optimismus schaffen wollten. Denn in ihren Büchern spiegelt sich nun einmal auch die heillose und entpersönlichte Gegenwart der erstarrten Sowjetunion wider (die sich im imperialen Russland von heute nahtlos fortsetzt).

Der „neue Mensch“ ist ein Kollektivmensch, der zeitlebens unter dem Druck lebt, sich vollkommen dem Kollektiv unterordnen und dennoch Menschheitsbeglücker sein zu müssen.

Auch bei den Strugazkis gehen die „Helden“ teilweise so emotionslos, ruppig, ausweichend miteinander um, sind ganz Rolle und Funktion, jederzeit bemüht, nach außen Einsatzbereitschaft und Beherrschung ihrer Aufgabe zu demonstrieren. Aber in ihren Köpfen rumort das Ungeklärte. So wie in den Köpfen von Salzbrenners Figuren, auch wenn der Autor meistens im Kopf von Eismann bleibt, der sich selbst immer wieder einredet, dass er seiner Aufgabe gewachsen ist.

Doch tatsächlich fügen sich all die Informationen, die er sammelt, nicht zum Ganzen. Kommen eher neue Irritationen hinzu. Er kenne sein Dresden, sagt er sich immer wieder. Aber nicht nur durch die Zone läuft er wie ein Fremder.

Nur scheinbar heile Welten

Auch das wirkt sehr vertraut aus einer Gegenwart heraus gelesen, in der so viele Menschen reden, die behaupten, sich bestens auszukennen, zu wissen, wie ihre Mitmenschen ticken und was gerade vor sich geht. Weltbilder, die aus lauter Fragmenten entstehen, zufälligen Informationsbrocken, Gerede, Aufschneiderei. Da muss man nicht erst auf nächtliche Expeditionen in eine Zone aufbrechen, über die es nur sporadische offizielle Nachrichten gibt – aber jede Menge an esoterischer Literatur.

Das kann man überall haben. Menschen machen sich ihre eigenen Lebenswelten zu „Zonen“, verkapseln sich, ent-fremden sich. Und sehen dann auf all das, was sie nicht mehr zu berühren wagen, als wären es Außerirdische, die da eingedrungen sind in ihre vormals scheinbar heile Welt.

Auf einmal ist wieder von „Geistern“ die Rede, von alten Göttern, Schamanen. Selbst irgendeine obskure internationale Organisation in Paris schickt mentale „Talente“ nach Dresden, um sie auszutesten. Oder sie dort dem Paranormalen begegnen zu lassen. Solche wie die junge Frau Thrud, die aber am Ende verschwunden bleibt. Und das scheint – außer Eismann – auch niemanden weiter zu interessieren. Außer den Leser, der bis zum Schluss nicht erfährt, warum die junge Frau einfach verschwand.

So gesehen ist das auch eine Geschichte über die Gleichgültigkeit von Gesellschaften, denen der einzelne Mensch egal geworden ist. Die zwar Kuratoren beschäftigt – aber sich nicht wirklich kümmert. Was einem doch wieder sehr vertraut vorkommt. Vertraut in all dem diffusen Drumherumreden. Hauptsache, es gibt keine Störungen im System. Und die Karriere geht weiter. Und man kommt den Leuten nicht ins Gehege, die im alternativen Dresden das Sagen haben. Oder wem auch immer.

Und so werden Salzbrenners Figuren eben auch nicht grundlos nur beim Nachnamen genannt, wird es nirgendwo persönlich und unverstellt. Das Ergebnis: Lauter einsame Menschen, die lieber miteinander Wodkaflaschen leeren, als über das Eigentliche und Persönliche zu sprechen, aus dem eigentlich erst Menschsein wird.

Ein Dresden, in das man auch nicht als Beobachter geschickt werden möchte. Mit viel zu vielen Geistern einer vormundschaftlichen Vergangenheit, die Menschen wie Spielfiguren benutzen, ohne dass zu fassen ist, welchen Interessen das alles dient. Oder ob es überhaupt einen Sinn hat, der die Menschen in der Zone tatsächlich betrifft.

Uwe Salzbrenner „Die Talente“ sisifo press im Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2024, 19,95 Euro.

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