Infrastrukturen lassen unsere Gesellschaft funktionieren. Meist nehmen wir sie gar nicht wahr und verlassen uns einfach darauf, dass sie funktionieren. Und wir gewöhnen uns sehr schnell daran, wenn die Dinge reibungslos funktionieren. Und vergessen auch sehr schnell, dass wir selbst einmal in dysfunktionalen Infrastrukturen lebten. Das ist noch gar nicht lange her. Etwas über 30 Jahre. Da schleppten die meisten Leipziger noch Kohlen, Kohledunst lag über der Stadt, die Straßenbahnen rumpelten auf ausgefahrenen Gleisen. Und die Leipziger erlebten eine umfassende Systemtransformation.

Ein Begriff, den die Darmstädter Historikerin Laura Marie Höss aber in diesem Fall einmal nicht auf die gesellschaftliche Transformation anwendet, mit der die Ostdeutschen 1990 ihr Land umkrempelten, sondern auf die den radikalen Umbau zweier Infrastruktursysteme, ohne die ein modernes Land nicht funktioniert – die Energieversorgung in Leipzig und das Verkehrssystem – letzteres vor allem auf den Schienentransport und den Straßenbahnverkehr fokussiert.

Was dann ältere Leipziger noch erinnern dürfte an die rumpelnden und in weiten Teilen überalterten Straßenbahnen, die noch 1990 auf den Langsamfahrstrecken der Stadt unterwegs waren, aber doppelt so viele Fahrgäste transportierten wie das heutige, verschlankte Straßenbahnnetz, das 2001 eingeführt wurde.

Aber Laura Marie Höss zeigt, wie alles miteinander zusammehängt. Denn kein Infrastruktursystem funktioniert für sich allein. Ohne Energie funktioniert der Verkehr nicht, ohne funktionierende Verkehrssysteme gibt’s keine Energie. Und das war vor 1990 noch zwingender als heute. Weshalb die Autorin zurückgeht bis 1980, das Jahr, in dem die DDR im Grunde in ihre Stagnationsphase eintrat, eingeklemmt in Handlungszwängen, die am Ende auch die Politik handlungsunfähig machten.

Die Blindheit der Politik für die Infrastrukturen

Es ist eine nicht ganz banale Feststellung, dass Politik direkt von funktionierenden Infrastrukturen abhängt. Als hätte die Historikerin an das aktuelle Berlin gedacht und die Unfähigkeit auch demokratisch gewählter Politiker, die Bedeutung von intakten Infrastruktursystemen zu begreifen. Ihr Buch ist im Grunde auch eine wissenschaftliche Warnung an die aktuelle Regierung, sich doch einmal gründlicher mit der Rolle intakter Infrastrukturen für das Wohlergehen und Funktionieren eines Landes zu beschäftigen.

Die späte DDR ist im Grunde auch eine Warnung, auch wenn die handelnden Akteure in den Energiekombinaten, mit denen die Energieversorgung der DDR zentral organisiert war, kaum Spielraum hatten, die zunehmenden Probleme im Energiesystem der DDR zu beheben oder das System gar zu transformieren.

Obwohl sie sehr wohl begriffen, dass dies dringend notwendig war. Doch die DDR war nun einmal ein Land, das nur über einen einzigen Rohstoff auf eigenem Staatsgebiet in großer Menge verfügte: die Braunkohle.

In den 1970er Jahre hatte man sogar noch geglaubt, das Land auf Erdöl umstellen zu können und damit weitgehend Abschied von der dreckigen Braunkohleverbrennung in den längst veralteten Verbrennungsanlagen nehmen zu können. Doch zwei Ölkrisen, die weltweit die Erdölpreise explodieren ließen und auch das zuvor billige Erdöl aus der UdSSR verteuerten, bereiteten diesen Träumen ein Ende. Neu eingebaute Ölheizungen wurden wieder herausgerissen, das System wieder komplett auf Kohleverbrennung umgestellt und der Kohleabbau auch rund um Leipzig forciert.

Die Rolle der Kohle in der Friedlichen Revolution

Was bekanntlich zu einem der zentralen Momente der Friedlichen Revolution wurde, als die Leipziger auch gegen den vorrückenden Tagebau Cospuden mobilisierten und dann auch die Einstellung des Betriebs erzwangen. Logischerweise stand dann der komplette Umbau der Energieversorgung auch als einer der wichtigsten Punkte auf dem Arbeitsprogramm des Runden Tisches der Stadt Leipzig, samt einem Thema, das heute ebenfalls vergessen ist: der geforderten Rückgabe der Leipziger Energieversorgung an die Stadt Leipzig.

Denn auch hier war die Energieversorgung zuvor über ein zentral gelenktes Energiekombinat erfolgt und die alten Chefs im Kombinat waren nur zu bereit, die komplette Energieversorgung den nur zu interessierten westdeutschen Energieriesen anzudienen, die schon davon träumten, die Energieversorgung im ganzen Osten zentral zu bewirtschaften.

Leipzig brauchte mehrere Anläufe und Gerichtsprozesse, um seine eigene Energieversorgung wieder zurückzubekommen und seine Stadtwerke neu zu gründen. Ein Thema, das in den frühen 1990er Jahren die Stadtpolitik beschäftigte, während gleichzeitig schon die Weichen gestellt wurden, Leipzig endlich unabhängig von der Braunkohle zu machen.

Mitten im Stadtgebiet qualmten damals noch mehrere große Kohlekraftwerke vor sich hin und 170.000 Leipziger Haushalte wurden noch mit Briketts befeuert. Bis 1990 hatte das völlig alternativlos ausgesehen. Doch ab diesem Jahr fiel ein Baustein nach dem anderen.

Denn was sofort abgeschaltet wurde, waren die ganzen überalterten Industriebetriebe in der Stadt, die allesamt ebenfalls noch mit Kohle befeuert wurden oder am überforderten Fernwärmenetz hingen, das mit Fernwärme aus den Kohlekraftwerken beschickt wurde. Es tat sich auch ein einmaliges Zeitfenster auf, in dem Bürgerrechtler selbst zu Gestaltern und Motoren der Veränderung wurden.

Binnen weniger Jahre wurde die Energieversorgung der Stadt komplett umgestellt, wurden in den Haushalten, die eben noch mit Kohleöfen beheizt wurden, zentrale Heizungen eingebaut und die Gebäude nun mit Erdgas beliefert, wo noch keine Fernwärme anlag.

Auf maroden Gleisen

Praktisch über Nacht wurde der Himmel über Leipzig blau, verbesserte sich die Luftqualität spürbar. Während gleichzeitig der Kampf um die eigenen Stadtwerke positiv ausging, Voraussetzung übrigens dafür, dass die Stadt auch bereit war, die Leipziger Verkehrsbetriebe wieder in eigene Regie zu nehmen. Auch die waren vorher als volkseigenes Kombinat organisiert gewesen und litten unter einem riesigen Sanierungsrückstau.

Nicht nur das Gleisnetz war völlig ausgefahren, auch der Wagenpark war überaltert und die Werkstätten der LVB waren nicht mehr in der Lage, die kaputten Fahrzeuge zeitnah instand zu setzen. Da steckte also ebenso ein riesiger Investitionsblock, der mit den eigenen Stadtwerken querzufinanzieren war.

Laura Marie Höss beschreibt dieses Ringen um die komplette Transformation zweier grundlegender Leipziger Infrastruktursysteme auch im Wechselspiel der jeweils Mächtigen und Verantwortlichen. Denn Kennzeichen der Transformation war auch, dass die alten Kombinatsdirektoren ihre alte Machtfülle nutzten, um ihre eigenen Interessen in diesem Prozess durchzusetzen.

Und diese Eigeninteressen hatten fast nichts mit dem Bemühen der Stadt und der Akteure der Runden Tische zu tun, die wichtigsten Infrastrukturen wieder in städtische Hand zu bekommen.

Und auch wenn sie diese endlich wieder in städtischer Hoheit hatten, dauerte es oft Jahre, bis auch die technischen Transformationen geschafft wurden, die alten Kohlekraftwerke im Stadtgebiet abgerissen werden konnten und der Bau eines neuen Gas-Turbinen-Kraftwerks ermöglichte, nicht nur einen Teil der Fernwärme mit Erdgas zu erzeugen, sondern auch einen nicht unbeträchtlichen Teil des Leipziger Stroms. Der Umbau des Schienennetzes der LVB, mit dem auch auf den deutlichen Rückgang von Fahrgästen und Einwohnern reagiert wurde, dauerte dann sogar über zehn Jahre.

Verschleißende Systeme

Nicht beleuchtet wird von der Autorin der komplexe Umbau des Eisenbahnnetzes um Leipzig, das bis 1990 ja auch deshalb ein regelrechter Brennpunkt im Schienennetz der DDR war, weil darüber die riesigen Lieferungen von Braunkohle nicht nur zu anderen Kohlekraftwerken, sondern auch zur Chemieindustrie abliefen, den Fabriken der Karbonchemie.

Auch die Chemieindustrie der DDR war ganz auf Kohle abgestellt. Was aber 1990 genauso wegfiel wie die Notwendigkeit, jeden Morgen Hunderttausende Arbeiter und Arbeiterinnen in die Chemie- und Brikettfabriken zu schaffen. Was dann die einmalige Möglichkeit eröffnete, auch das Eisenbahnnetz rund um Leipzig neu zu organisieren. Aber das hätte das Buch dann wohl gesprengt.

Im Grunde zeigt Laura Marie Höss am Beispiel Leipzig exemplarisch, wie damals neben der gesellschaftlichen Transformation auch eine riesige technische Transformation der grundlegenden Infrastrukturen in den ostdeutschen Städten stattfand. Und wie sich beide Transformationen bedingten.

Und indem sie auch die letzten Jahre der DDR ab 1980 mit in den Blick nimmt und die fast beklemmende Abhängigkeit von der umweltschädlichen Kohleverbrennung, macht sie hier sichtbar, wie dysfunktional das Energiesystem der späten DDR geworden war und im Grunde nur noch auf Verschleiß fuhr. Und auch in harten Wintern wie dem von 1986/1987 an seine Grenzen kam. So hätte das nicht mehr lange funktioniert.

Und das spürten und wussten ja die Bürger des Landes. Die nicht mal ahnten, dass die Treuhand schon 1990 im Hinterzimmer Stromverträge mit westdeutschen Konzernen abschloss, die nur zu gern das komplette Energiesystem im Osten übernommen hätten. Es ist einer der Punkte, an denen sichtbar wird, welche gravierenden Fehler die Treuhand gemacht hat.

Und einige dieser Fehler gingen direkt auf Kosten der Kommunen, deren Tafelsilber hier einfach verkauft werden sollte – und oft genug auch einfach verscherbelt wurde. Die Chance, gerade die Kommunen in diesem Transformationsprozess zu stärken, wurde von Treuhand und Bundesregierung sträflichst vernachlässigt.

Eine Frage der Macht

Und den von den Leipzigern gewünschten Komplettausstieg aus der Kohle gab es dann auch nicht. Stattdessen wurde sogar noch in ein neues Kohlekraftwerk in Lippendorf investiert. Und auch in diesem Punkt verweist die Autorin im Grunde auf die Gegenwart, in der einflussreiche Energiekonzerne die Energiepolitik der Bundesrepublik beeinflussen und zu ihren Gunsten verzerren.

„Diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass der Verlauf von Transformationen auch eine Frage der Macht und Durchsetzungsfähigkeit bestimmter Positionen und Transformationsziele im Diskurs ist“, schreibt die Autorin. Aber dazu sei noch mehr Forschungsarbeit notwendig, wie Macht in solchen Transformationen eingesetzt wird, um die Diskurse zu beeinflussen. Denn Macht liegt nun einmal nicht ausschließlich auf der politischen Ebene, sondern auch auf der ökonomischen.

Und genau das macht das Buch, dem die 2024 angenommene Dissertation der Autorin zugrunde liegt, eben auch deutlich, so weit das aus den verfügbaren Aktenbeständen noch rekonstruierbar ist: Dass es eine Politik im luftleeren Raum nicht gibt, sondern Politik auch Gestalterin von technischen Transformationen ist. Und zwar wirklich umfassenden, wie ab 1990. Und dass gleichzeitig diverse Akteure mit hoher ökonomischer Macht diese Transformation für ihre Eigeninteressen zu okkupieren versuchten und sie damit erschwerten und verzerrten.

Genau das erinnert dann wieder an die Gegenwart, in der die nächste große Transformation der grundlegenden Infrastrukturen – Energie und Verkehr – auf der Tagesordnung steht. Eine Transformation, die eigentlich mit technischem Sachverstand vorangetrieben werden müsste, aber durch politische Bremsversuche immer wieder ins Stocken gerät. Und wieder stehen die Kommunen im Fokus, die Energie- und Wärmewende schultern müssen, während die hohe Politik in Berlin ratlos durch die Flure geistert, weil sie von einflussreichen Lobbyisten eine andere Geschichte erzählt bekommt.

Laura Marie Höss „Systemtransformationen“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2025, 65 Euro.

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Interessanter Hinweis auf die Stagnation der DDR. Könnte man fast den Spruch abwandeln: Von der Geschichte lernen, heist auch überleben lernen. Und verändern müssen wir uns ständig.
Die Runden Tische der Übergangszeit waren schon eine klasse Idee um die engagierten Menschen mit in die Veränderungen einzubeziehen. Aber zu viel konnte man von den Runden Tischen nicht erwarten, denn wir waren mit den alltäglichen Problemen schon überlastet, wir kannten nur die DDR und hatten wenig Ahnung von wirtschaftlich-kapitalistischen Machtstrukturen und Einflusnahmen.

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