Der Ostdeutsche, das rätselhafte Wesen. Er beschäftigt immer wieder mal die (westdeutschen) Medien, wenn er sich nicht so verhält, wie man es dort erwartet. Das Wunder ist jedes Mal wie neu gekauft im Supermarkt. Was freilich nur von einem erzählt: Dass man eigentlich so gut wie nichts weiß über diesen seltsamen Bruder im Osten. Warum ist er nur so undankbar? Kann es sein, dass auch die Rumpeltour der Transformation nach 1990 dabei eine Rolle spielt? Das thematisierte 2021 ein Internationales Symposium der Stiftung Ettersberg in Weimar.
Hochkarätige Politikwissenschaftler/-innen und Historiker/-innen nahmen bei dieser Tagung die „Lebensweltlichen Umbrüche in Ostdeutschland nach 1990“ unter die Lupe, wohl wissend, dass 30 Jahre eben auch schon ein Stück Zeitgeschichte sind. Und das hat die Gemütslage der Ostdeutschen wohl stärker geprägt als die inzwischen zurückliegende DDR-Zeit.
Das thematisieren die in diesem Band versammelten Fachbeiträge, die – wie Jörg Ganzenmüller feststellt – eben auch Verlusterfahrungen, Entwertungserfahrungen und Ohnmachtserfahrungen beinhalten.
Und gerade an dieser Stelle wird es spannend. Denn berechtigt stellen mehrere der Autor/-innen fest, dass die Sicht auf die Ostdeutschen vor allem durch die westdeutsche Perspektive bestimmt ist. Immer noch. Obwohl es die groß angelegten Studien gibt, die die durchaus differenzierten Sichtweisen der Ostdeutschen auf ihre eigene Geschichte sichtbar machen. Es gibt daneben aber auch groß angelegte Interviewreihen und Feldstudien.
Eine Schablone für alles
Wie suspekt der Begriff „Ostdeutsche“ selbst ist, thematisieren Agnès Arp und Élisa Goudin-Steinmann in ihrem Beitrag „Die DDR als Vergangenheit“: „Der Begriff ‚Ostdeutsche‘ sagt nicht viel aus und bezeichnet mehr eine Relation als eine Identität. (…) Vielleicht sollte diese Bezeichnung nicht verwendet werden, denn sie birgt die Gefahr, eine Identität zuzuschreiben und Klischees zu verfestigen, die eine Tendenz verstärken, die Deutschen zwischen Ost und West, zwischen ‚neuen‘ und ‚alten‘Bundesländern zu klassifizieren. Der Begriff ‚ostdeutsch‘ ist ohnehin ein Konstrukt, das ausschließlich mit der DDR verbunden ist.“
Man kann es auch so formulieren: Diese in der Regel westdeutsche Klassifizierung nagelt alle Bewohner der fünf nun nicht mehr so neuen Bundesländer auf der Vorgeschichte als DDR fest. Andere Beiträge im Buch gehen auf diese Stereotype ein, die bis in die Filme der letzten 30 Jahre hinein ostdeutsche Geschichte auf Stasi und Diktatur reduzierten.
Was viele dieser Filme regelrecht ungenießbar macht. Sie verstärken nur uralte Vorurteile. Negieren aber, was die wirklich Betroffenen immer wieder äußern, wenn sie dazu befragt werden – dass sie auch unter diesen autoritären Verhältnissen in der Regel ein eigenes, selbstbestimmtes Leben gelebt haben.
Der Frust, immer wieder nur auf die Diktatur-Vergangenheit festgenagelt zu werden, wird immer wieder hörbar. Es ist mehr als Trotz. Es ist das Einfordern simplen Respekts für gelebtes Leben. Und auch für die immer wieder ignorierte Tatsache, dass es nicht Helmut Kohl war, der die DDR in die Knie zwang und die Einheit ermöglichte.
Das haben die Ostdeutschen selbst hinbekommen. Ein in der deutschen Geschichte einmaliger Vorgang. Der dann aber sehr bald in eine Entwicklung mündete, die für Millionen Ostdeutsche nicht nur den Arbeitsverlust und die Zerstörung der industriellen Strukturen bedeutete, sondern das Erlebnis einer neuen Fremdbestimmung. Für die bis heute die „Treuhand“ und ihr Agieren als Synonym stehen.
Blitzableiter Treuhand
Ein Thema, zu dem in diesem Sammelband Marcus Böick kompetent Auskunft gibt. Stichworte: „Blitzableiter“ und „Bad Bank“. Blitzableiter auch, weil der gegen die Treuhand gerichtete Frust davon ablenkte, dass hinter der Abwicklung der DDR-Wirtschaft im Affenzahn politische Entscheidungen standen, die allesamt im Kanzleramt getroffen wurden.
Denn dort herrschte schon lange der neoliberale Geist, der seit Jahren so langsam die westeuropäischen Länder veränderte. Ein Geist, der in Privatisierung und Deregulierung die Pille für alle ökonomischen Gebrechen sah. Ergebnis: Eine Wirtschaft, der schon seit Jahren die dringend notwendigen Investitionen fehlten, wurde ohne Rettungsring sofort ins Haifischbecken des Weltmarktes geworfen. Und konnte dort natürlich nicht bestehen.
Es war ein Experiment am lebendigen Körper, hinter dem keine Vision stand, nicht einmal eine Idee, wie man die wichtigsten ökonomischen Strukturen im Osten bewahren und restaurieren konnte. Alles schön zugepappt mit dem Slogan „blühende Landschaften“, einer Illusion, die die Bundesregierung bis zur Jahrtausendwende prahlend vor sich her trug. Und damit letztlich ignorierte, welche Folgen die „Schocktherapie“ für die Bewohner des Ostens tatsächlich hatte. Mentale, psychische, ökonomische sowieso.
Und das hatte eben auch Folgen für die Akzeptanz der Demokratie. Denn das trennen Menschen nicht wirklich. Eine stabile Wirtschaft, ein verlässlicher Wohlstand und das Gefühl, akzeptiert und respektiert zu werden, das gehört alles zusammen. Das thematisierte ja bekanntlich Petra Köpping 2018 ganz dezidiert mit ihrer Streitschrift „Integriert doch erst mal uns“.
Die zwar jede Menge Medienecho bekam, aber am bräsigen Aburteilen der „Ossis“ nichts änderte. Schon gar nichts an der Nichtwahrnehmung ihrer Sorgen, die sich schon längst in irritierenden Wahlergebnissen niederschlugen. Logisch, dass dieses Buch in mehreren Beiträgen erwähnt wird.
Erfahrene Ohnmacht
Und weil etliche der Autor/innen auf regionale Studien zurückgreifen können, wird sehr plastisch, wie die Ohnmachtserfahrungen sich in kleinen Städten des Ostens direkt niederschlugen. Juliane Stückrad schreibt über diese „Ohnmacht als Transformationserfahrung im ländlichen Raum“. Ganze Landstriche verloren binnen weniger Jahre ihre junge Bevölkerung, weil Fabriken geschlossen wurden und alle, die im Westen die Chance auf eine berufliche Zukunft sahen, ihre Koffer packten.
Für die, die dablieben, bestimmten „Arbeitsplatzverlust und Unsicherheit“ die ersten Jahre nach der „Wende“. Ein Begriff, den viele Ostdeutsche ganz bewusst bis heute verwenden, weil sie sich mit dem, was ab Sommer 1990 geschah, nicht identifizieren können, sich nur als passiv Verwaltete wiederfanden, über die andere bestimmten.
Und auch wenn die Meisten ihr Schicksal am Schopf packten und mit viel Kreativität versuchten, doch wieder beruflich Tritt zu fassen, blieb die Erfahrung der Ohnmacht kaum jemandem erspart. Denn – auch das wird thematisiert – Helmut Kohl versuchte gleichzeitig, die Einheit aus der Portokasse zu bezahlen, ohne ein Konzept, was wirklich zur Stabilisierung der neuen Bundesländer gebraucht würde.
Man wurstelte so vor sich hin. Und ein Phänomen ignorierte die Politik geradezu: den Rassismus, der sich schon früh in Rostock und Hoyerswerda austobte. Dessen Ziel: die sogenannten Vertragsarbeiter, vor allem jene Vietnamesen, die noch in DDR-Zeiten in den Osten kamen und die nun auf einmal unwillkommen waren, weil sich die konservative Bundesregierung nicht bereitfand, ihnen denselben Status wie den einstigen Gastarbeitern aus Südeuropa zu verleihen.
Stattdessen wurden sie zum Buhmann gemacht, erlebten Terror und Unsicherheit. Und die Ausschreitungen gegen ihre Unterkünfte wurde sogar noch zum Vorwand genommen, das deutsche Asylrecht auszuhöhlen. Das kommt einem vertraut vor. So agieren konservative Parteien bis heute. Denn damit schafft man immer wieder aufs neue die Buhmänner, die davon ablenken, dass man eigentlich rücksichtslose marktradikale Politik betreibt und überhaupt keine Konzepte hat, das Land zu stabilisieren.
Everhard Holtmann und Tobias Jaeck analysieren die politische Lage in ihrem Beitrag „Politische Einstellungen in Ostdeutschland nach dem ‚doppelten Transformationsschock‘“, in dem sie mit jeder Menge Zahlen zeigen, dass die Transformationserfahrungen ziemlich direkt Einfluss auch auf das Wahlverhalten haben. Und zwar bis heute.
Wer die Transformation als Schock und Demütigung erfahren hat, wählt anders als jene, die sich als Transformationsgewinner begreifen. Die es auch im Osten gibt. Es ist eben nicht so, dass man alle Bürger der neuen Bundesländer in einen Topf schmeißen kann. Viele habe die neuen Freiheiten tatsächlich auch als Ermutigung nutzen können, aus ihrem Leben etwas zu machen, was in der DDR niemals möglich gewesen wäre.
Enttäuschte Erwartungen
Aber mehrere Beiträge zeigen eben auch, dass die Erfahrung von Enttäuschung und Ohnmacht, die die Elterngeneration ab 1990 erlebte, sich auch in der Kindergeneration fortpflanzt. Noch so ein psychologischer Effekt, der fast immer ausgeblendet wird: Wie selbst die unausgesprochene Erfahrungen der Eltern Leben und Gefühlslage der Kinder bestimmen. Erst recht, wenn sie öffentlich nicht thematisiert und wahrgenommen werden, weil jahrelang ein mediales Bashing der „diktaturerfahrenen“ Ostdeutschen dominierte und oft bis heute dominiert.
Manche Beiträge sprechen das dezidiert an. So etwas reduziert nicht nur das Selbstbild der Betroffenen, es erzählt auch von Vorurteilen und Ignoranz, die eben leider auch die deutsche Politik bestimmen.
Und noch etwas wird deutlich – Nicole Hördler thematisiert es in ihrem Beitrag „Identitäten im Umbruch“ am Beispiel von Prettin: dass die Bewohner des Ostens in einem Punkt nicht viel anders ticken als die in Westen. Sie vertrauen darauf, dass Staat und Politik ordentliche Arbeit leisten. Das erwarteten sie auch vor 1989 von der SED-Herrschaft. Jede Regierung hat so einen stillen Konsens mit ihrer Bevölkerung: Wer nicht aus der Reihe tanzt und fleißig arbeitet, kann ein planbares Leben in (bescheidenem) Wohlstand leben.
Auch die Friedliche Revolution wurde 1989 nur von einer Minderheit vorangetrieben. Genug, um das SED-System zum Einsturz zu bringen. Aber Umfragen bestätigten auch damals, dass sich über 80 Prozent der Ostdeutschen gar nicht aktiv an den Veränderungen beteiligten. Auch wenn ebenso 80 Prozent selbst der Überzeugung waren, dass sich unbedingt etwas ändern musste.
Ein überstürztes Provisorium
Diese Stimmungslage nutzte bekanntlich Helmut Kohl aus, als er noch im Herbst 1989 seinen 10-Punkte-Plan zur deutschen Einheit vorlegte (der eher ein Spickzettel war als ein ökonomisch durchdachter Plan) und regelrecht für die schnelle Einheit trommelte. Mit dem Ergebnis, dass im März 1990 jene Parteien die Wahl gewannen, die genau diese Verheißungen auf den Plakaten stehen hatten.
Mit den Ergebnissen, die alle kennen. Selbst die Arbeit der Treuhand war ein einziges Provisorium, und eine Zumutung sowieso, gegen die sich die betroffenen Erwerbstätigen praktisch nicht wehren konnten.
Der Ohnmachtserfahrung in der DDR-Zeit folgte binnen kürzester Zeit eine neue Ohnmachtserfahrung, die dann – welche Überraschung – ganz ähnliche Verhaltensweisen zu Tage förderte, wie Arp und Goudin-Steinmann in ihren Beitrag anmerken, wo sie Annette Simon zitieren: „Sie versuchten nicht, sich in sie (die Bundesrepublik) einzubringen und durch Mitwirken zu verändern, beziehungsweise sich gegen einige der neuen Zumutungen zu wehren. Sondern sie versuchten erneut, sie mit passivem Widerstand zu umgehen.“
Gelernt ist gelernt, kann man da sagen. „Die gerade mühsam erworbene Mündigkeit im politischen Handeln ging bei manchen wieder verloren in dem Gefühl, sich in der gemeinsamen Bundesrepublik eher wieder ohnmächtig neuen Strukturen und Zwängen ausgeliefert zu sehen.“
Zwänge, die jetzt mit den Schlagworten Markt und Wettbewerb daherkamen. Und mit dem von Angela Merkel so gern gebrauchten Wörtchen „alternativlos“.
Ein Wort, das geradezu wie Hohn klang, nachdem der Osten zum Experimentierfeld für neoliberale Rezepte geworden war. Oder Marcus Böick zitiert: „Die Kombination aus langfristrig-strukturellen Defiziten aus der DDR-Zeit sowie kurzfristig-disruptiven ‚Schocks‘ einer sofortigen Wirtschafts- und Währungsunion sollte sich als toxischer Cocktail für das noch gar nicht begonnene Massenprivatisierungsprogramm erweisen, aus dessen erhofften Milliarden-Erlösen in dreistelliger Höhe ja eigentlich der weitere Umbau der ostdeutschen Wirtschaft quasi eigenfinanziert werden sollte.“
Das nennt man ein Experiment am lebendigen Körper. Und die Betroffenen merkten sehr wohl, dass da mit ihnen herumexperimentiert wurde. Da war die Treuhand ein willkommener Blitzableiter, auch wenn die wilde Hatz im Bundeskanzleramt beschlossen wurde. Wird ja wohl irgendwie gut gehen.
Eine Frage der Identität
Menschen merken es, wenn sie nur wie Spielfiguren benutzt werden. Und wenn Politik nicht bereit ist, sich zu korrigieren und aus ihren Fehlern zu lernen. Erstaunlich, aber genau davon erzählen alle diese Beiträge zur Transformationserfahrung im Osten. Und Christoph Classen stellt dann in seinem Beitrag zur filmischen Verarbeitung der Transformation folgerichtig fest, dass kaum ein Film das Dilemma besser ins Bild gesetzt hat als „Good bye, Lenin!“ von 2003.
„In diesem Sinne erschien das Jahr 1989/1990 in Ostberlin im Film zwar als Ende eines absurden Systems. Zugleich wurde dieses jedoch durch einen kaum weniger grotesken Turbokapitalismus abgelöst, der schwerlich als Erlösung begriffen werden konnte“, schreibt Classen.
So ergeben sich durchaus verschiedene Einblicke in die Mentalität der Ostdeutschen. Die sich selbst so in der Regel nicht definieren. Die meisten empfinden es als plakative Fremdzuschreibung und fühlen sich eher ihrer Stadt, ihrer Region, ihrem Bundesland verbunden. Identität ist nämlich immer konkret.
Wenn man zur Schablone gemacht wird, wächst die Wut. Und wenn selbst Politik behandelt wird wie ein zu „verschlankendes“ Unternehmen, wenn Infrastrukturen verschwinden, Dörfer und Städte zu bürokratischen Verwaltungsmonstern zusammengeworfen werden, dann wird das zusätzlich als Verlust von Selbstbestimmung und Identifizierung erlebt, auch das wird thematisiert.
Womit auch deutlich wird, dass die Transformationen eigentlich nie aufgehört haben. Kaum schien sich die Lage beruhigt zu haben, kam die nächste Zumutung, die nächste Verlusterfahrung. Die eigentlich nur bestätigte, dass hinter all den politischen Korrekturen keine Vision stand, kein ökonomischer Sachverstand und schon gar kein Gefühl für die Stimmungslagen der Menschen.
Mit Folgen bis in die aktuellen Wahlergebnisse hinein. Die eben auch von Ohnmacht erzählen. Eins aber wird deutlicher, wenn man diese Beiträge liest: Es hat tatsächlich genug Momente gegeben, in denen man frühzeitig hätte korrigieren und umsteuern können. Aber lieber würgte man den frühen Protest gegen die Treuhandaktivitäten ab und setzte so einen Pflock, der bis heute die Politik bestimmt: Protest lohnt sich nicht und bewirkt nichts.
Das wirkt bis heute – auf fatale Weise. Und stärkt politische Kräfte, die erst recht keine Plan haben, wie man den Osten (wieder) zum Blühen bringt.
Jörg Ganzenmüller (Hrsg.) „Transformationserfahrungen“ Böhlau, Köln 2025, 35 Euro.
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