Nachts schlafen die meisten Leipzigerinnen und Leipziger sowie ihre Kinder. Doch zur Ruhe kommt eine Großstadt wie Leipzig auch dann nicht. Nicht alle Kinder nächtigen im eigenen Bett. Verschiedene Gründe können dazu führen, dass Kinder in die Obhut des Jugendamtes genommen werden. In Leipzig-Grünau besuchten wir im Rahmen der LZ-Reihe zur Nachtarbeit den Kindernotdienst des VKKJ (Verbund Kommunaler Kinder- und Jugendhilfe). Dort werden Kinder, im Alter von 0 bis 12 Jahren, von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen Tag und Nacht betreut.

Wir waren vor Ort und haben mit zwei Mitarbeiterinnen über ihre Arbeit, besonders im Nachtdienst, gesprochen. Es war ursprünglich geplant, dieses Gespräch während der Nachtschicht zu führen, die Anläufe scheiterten aber wegen des hohen Arbeitsaufkommens. Wir haben uns also am Tag getroffen.

Aus Gründen, beispielsweise Sozialdatenschutz, haben wir auf die Namensnennung und Bilder der Mitarbeiterinnen verzichtet. Wir nennen die beiden Mitarbeiterinnen nachfolgend „Frau M.“ und „Frau K“. Abbildungen der betreuten Kinder verbieten sich von selbst.

Während Frau K. noch mit einem der Kinder das Fahrrad fahren übte, sprachen wir zuerst mit Frau M. Sie ist eine langjährige Mitarbeiterin und hat bis vor einem Jahr auch im Nachtdienst gearbeitet, aktuell macht sie, aufgrund ihrer Tätigkeit in der Teamleitung, diese Schichten nur noch aushilfsweise.

Das Gebäude des Kindernotdienstes bei Nacht. Foto: Thomas Köhler
Gebäude des Kindernotdienstes bei Nacht. Foto: Thomas Köhler

Frau M., zuerst die Frage: Aus welchen Gründen sind Kinder in der Obhut des Jugendamtes? Geht es da immer um Gefährdung des Kindeswohls?

Neben all den existentiellen und schwierigen Notlagen, welche meist von mannigfaltigen Formen der Misshandlungen und Verwahrlosungen geprägt sind, gibt es aber auch, zumindest für uns, „banalere“ Gründe, weswegen Kinder in unserer Einrichtung betreut werden. Dazu zählt u.a. auch, dass zum Beispiel eine Mutter, welche aktuell keine familiären Ressourcen hat, entbindet oder einen Krankenhausaufenthalt hat und somit keine Betreuung für das Kind ermöglichen kann.

Der Kindernotdienst ist ja, soweit ich weiß, für eine kurzfristige Unterbringung der Kinder ausgelegt. Können Sie etwas zur Verweildauer sagen?

Die Verweildauer ist sehr verschieden. Wir haben jetzt leider Kinder mit der längsten Verweildauer überhaupt, glaube ich. Also drei Kinder, die fast ein Jahr lang schon hier sind. Normalerweise kann man als Richtwert sagen, zwischen zwei bis vier Wochen wäre optimal. Auch fünf Wochen sind in Ordnung. Alles darüber wird natürlich konzeptionell schon schwierig. Wir sind eben keine Wohngruppe, das macht es für die Kinder besonders schwierig.

Wir wollen heute den Fokus auf die Nachtarbeit setzen, obwohl das wahrscheinlich schwierig wir. Im „Normalfall“ schlafen Kinder nachts in ihren Betten, die Eltern gehen irgendwann auch ins Bett und wenn das Kind nachts nicht wach wird, dann wecken sie es früh und der Tag beginnt. Wie läuft das hier ab?

Ein großer Teil der Kinder schläft tatsächlich hier auch. Wenn wir natürlich ganz kleine Kinder, also Säuglinge haben, müssen die auch nachts gefüttert werden. Oder wenn Kinder in Krisen sind, müssen diese auch nachts begleitet werden. Aber wir haben auch viel Arbeit um die Kinder herum, die nachts erledigt wird. Wir sind in der Nacht zu viert, zwei davon im Bereitschaftsdienst für den ASD (Allgemeiner Sozialdienst).

Diese müssen schnell auf einen Anruf oder auch eine andere Nachricht reagieren und dann gegebenenfalls eine Kindeswohlgefährdung prüfen. Die sind dann nicht mehr hier vor Ort. Die anderen beiden machen auch hauswirtschaftliche Tätigkeiten, dokumentarische Tätigkeiten, die organisieren alles, was für die nächsten Tage wichtig ist. Also, es liegt immer viel an, wofür tagsüber einfach die Zeit fehlt.

Zwischendurch einige Zahlen und Fakten: Im Jahr 2024 wurden allein in Leipzig, laut Statistischem Landesamt, 397 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, davon waren 191 jünger als 14 Jahre. Gegenüber 2023 ist das ein Anstieg um 102 Inobhutnahmen insgesamt, beziehungsweise 45 für unter 14-Jährige. In diesen Zahlen sind unbegleitet einreisende ausländische Kinder und Jugendliche nicht erfasst. Die Gründe für eine Inobhutnahme sind vielfältig, wir werden im Gespräch auf einige zurückkommen.

Vorläufige Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche (Inobhutnahmen) 2024 in Sachsen. Screenshot: LZ
Vorläufige Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche (Inobhutnahmen) 2024 in Sachsen. Screenshot: LZ

Inzwischen war auch die zweite Kollegin, Frau K., dazugekommen. Sie ist seit einem Jahr dabei und arbeitet im Schichtdienst.

Frau K., wie kommen Sie mit der Arbeit hier zurecht.? Nehmen Sie die Probleme, die hier auftreten, mit nach Hause?

Mir macht die Arbeit richtig Spaß, ich bin gerne hier und komme gerne zur Arbeit. Mit den Wechselschichten kann es schon mal anstrengend sein, aber an sich macht es mir viel Spaß. Ich kann schon abschalten. Wenn es mal so weit ist, dass man nicht mehr abschalten kann, muss man schauen, dass man sich ein paar Resilienzen aufbaut und einen persönlichen Ausgleich findet.

Frau M., wie ist das bei Ihnen? Ich hatte vor Jahren ein Gespräch, da ging es um Wohngruppen für die 0–3-jährigen. Mir wurde gesagt, dass es bei den Berufsanfängern eine große Fluktuation gibt, weil die psychische Belastung groß ist.

Ich glaube, generell wird der Bereich unterschätzt. Es ist schon ein herausfordernder Beruf, gerade die stationäre Kinder- und Jugendhilfe. Wir sind natürlich ein Stück weit in einem Zwangskontext, die Kinder sind nicht unbedingt freiwillig hier. Es ist etwas anderes, als ein Angebot zu machen, bei dem sich Kinder anmelden, die Lust darauf haben. Das ist eine ganz andere Motivation.

Es sind viel mehr die Krisen, die den Alltag bestimmen. Das kann herausfordernd und belastend sein. Ich denke, dass man auch ein Stück weit dafür gemacht sein muss, viel Resilienz mitbringen muss, oder gute Psychohygiene betreiben muss, um dauerhaft gesund in dem Beruf zu bleiben.

Frau K., gibt es in Ihrer Einrichtung eigentlich einen „normalen“ Nachtdienst? Anders gefragt, wie sieht dieser im besten Fall aus?

Um 21.30 Uhr machen wir die Übergabe, dann besprechen wir wer welche Aufgaben übernimmt. Also, Wäsche waschen, die Bäder auf Vordermann bringen, Garderobe aufräumen und andere haushälterische Tätigkeiten. Wir bereiten auch das Frühstück vor für die Kinder, wenn das alles erledigt ist, macht man noch Rundgänge und guckt, ob alles bei den Kindern in Ordnung ist. Dann hat man manchmal auch Zeit, um miteinander zu quatschen.

Wenn es nicht so ruhig ist, wie läuft das dann, Frau M.?

Wie gesagt, normalerweise sind wir mit vier Personen vor Ort, wenn der Bereitschaftsdienst rausfahren muss, dann sind wir noch zu zweit. Seltener kommt es vor, dass gleichzeitig mehrere von den Kleinen wach werden und vielleicht von den Größeren noch jemand über den Flur rennt. Dann kann es schon personell eng werden.

Es gibt Kinder, da setzt man sich mal eine Weile vor das Zimmer, um denen Sicherheit zu vermitteln und wir haben immer mal Phasen, in denen mehrere Säuglinge wach sind und alle gleichzeitig essen wollen. Natürlich muss man dann gucken, wie kriegt man das jetzt gehandhabt. Dann spricht man sich aber ab, dafür sind wir ja auch Sozialpädagoginnen, um so eine Situation zu klären.

Frau M., wenn der Bereitschaftsdienst ausrückt, bedeutet das immer, dass die mit einem Kind zurückkommen?

Nein, manchmal bringen sie ein Kind mit, aber sie fahren ja raus, um zu prüfen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Oft kommen sie wieder und sagen: Nein, es war kein Inobhutnahme erforderlich, weil das Kindeswohl nicht gefährdet war. Im besten Falle gibt es auch eine Familie, die unterstützend wirken kann. Wir bringen das Kind dann zur Oma, zur Tante, zum Bruder und wenn da alles in Ordnung ist, muss es nicht hierherkommen. Eine Inobhutnahme ist immer das letzte Mittel.

Frau K., machen Sie gern Nachtdienst?

Ja, gerade wenn man neu ist, gibt einem nochmal die Chance, in Kontakt mit den Kolleginnen zu kommen, die besser kennenzulernen, auch zu merken, wie der andere tickt. Das hat mir dann auch in den Tagdiensten geholfen.

Es wird auch oft so geplant, dass wenn man aus dem Urlaub kommt, man erstmal Nachtdienst hat, damit man sich wieder einlesen kann. Dann sind ja auch öfter neue Kinder da, tagsüber hätte man dafür wenig Zeit.

Frau M., was hat es mit dem Einlesen auf sich?

Man sich das so vorstellen: Eine Inobhutnahme-Situation ist immer eine stressige Situation für alle Beteiligten. In dem Moment müssen die wichtigsten Informationen übergeben werden: Ist das Kind krankenversichert, wo ist das Kind krankenversichert, braucht es Medikamente, hat es eine Brille, welche Schule besucht es?

Da ist keine Zeit zu fragen, was braucht das Kind zum Einschlafen, also diese ganzen kleinen Infos, die für Kinder trotzdem wichtig sind in ihrem Tagesablauf, dafür haben wir keine Zeit, das müssen wir nach und nach herausfinden.

Was die Fallarbeit angeht, man hat in der Nacht auch mal Zeit, die Akten in die Hand zu nehmen und genau nachzulesen. Wir bekommen oft vom ASD eine umfangreiche Dokumentation mit den ganzen alten Berichten der letzten fünf Jahre, das schaffst du nicht am Tag durchzulesen. Aber in der Nacht kann man das nehmen und wirklich Stück für Stück durcharbeiten und dann für die Kolleginnen zusammenfassen. Das hilft im Tagdienst ungemein.

Es gäbe wohl noch viel zu fragen, aber eine letzte Frage: Was würden Sie als Erfolg Ihrer Arbeit bezeichnen?

Frau K.: Ich finde, es ist schon ein Erfolg, wenn wir dem Kind Ruhe und Schutz bieten können, wenn wir das Kind auf die nächste Hilfe vorbereiten können, sei es jetzt in einer Wohngruppe oder vielleicht auch wieder zurück zu den Eltern mit einer Familienhilfe. Ich finde, das sind auch kleine Erfolge, wenn sie sich weniger eskalativ verhalten, weniger Gewalt zeigen. Das ist ein Erfolg der Arbeit, die wir leisten.

Frau M.: Viele Kinder lernen Dinge dazu, manche Kinder lernen hier sprechen, manche Kinder lernen hier laufen. Oder auch, dass Kinder wieder mehr lachen. Zwei Wochen nach der Aufnahme kommt es vor, dass man sie mal richtig lachen sieht. Es sind die kleinen Fortschritte, wie Fahrradfahren lernen. Das ist schon viel, das sind Erfolge, zu denen wir beigetragen haben.

Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir einen guten Teamzusammenhalt haben. Ich will nicht für alle sprechen, aber ich aus meiner Perspektive habe ich das Gefühl, dass ich hier jedem blind vertrauen kann. In manchen Situationen müssen Blicke einfach ausreichen, um zu kommunizieren.

Wenn eine krisenhafte Situation entsteht, dann sind wir gut aufgestellt. Das muss dann innerhalb von Sekunden klappen und ich würde jedem und jeder Kollegin zutrauen, dass das funktioniert. Für mich ist es ein sehr großer Erfolg, so ein Team zu haben.

Frau K.: Wir achten auch aufeinander. Wenn wir merken, jetzt braucht jemand vielleicht mal eine Pause, dann bieten wir das gegenseitig an, wir wechseln uns ab.

Ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche weiterhin viel Erfolg.

Es ist nur ein kleiner Einblick in die Arbeit der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen beim Kindernotdienst des VKKJ, der hier geschildert werden konnte. Auf jeden Fall ist es eine wichtige und wertvolle Arbeit für die Kinder und Familien unserer Stadt.

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Lesen Sie gern auch die anderen, bisher erschienenen LZ-Beiträge zur Nachtarbeit in Leipzig:

Mit LVB-Straßenbahnfahrerin Kerstin Werner durch die Nacht in Leipzig

Die Nighties vom Hotel Steigenberger

Auf Nachtstreife mit Richard und Alex vom Polizeirevier Leipzig-Südwest

 

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