Nachts schlafen die meisten. Doch zur Ruhe kommt eine Großstadt wie Leipzig auch dann nicht: Lichtscheue Gestalten und verrücktes Partyvolk machen die Straßen unsicher. Zugleich gibt es nicht wenige, die aus beruflicher Pflicht hellwach und einsatzbereit sind, wenn andere in den Federn liegen. Zum Auftakt unserer Reihe „Nachtarbeit in Leipzig“ konnten wir zwei Streifenbeamte des Polizeireviers Leipzig-Südwest von Samstagabend bis Sonntagfrüh begleiten.

Ein Samstagabend Ende August. Munteres Gewusel im Polizeirevier Leipzig-Südwest, hier findet gerade der Personalwechsel statt. Die Kolleginnen und Kollegen der Nachtschicht übernehmen vom Spätdienst. Der hatte 39 Einsätze, wie der Dienstgruppenleiter beim Briefing aufzählt: Verkehrsunfälle, Manipulation an Rädern, Ladendiebstahl, Schlägerei, Einbruch, ein vollstreckter Haftbefehl, ein Hundeangriff ohne Verletzte.

Streifenwagen wird aufgerüstet. Foto: Böhme
Polizeimeister Richard V. und Polizeikommissar Alex P. rüsten den Wagen für die Nachtschicht auf. Foto: Lucas Böhme

Aber auch ein minderjähriges Mädchen, das vermisst und zum Glück lebend wiedergetroffen wurde. Anders leider ein Mann, den man nach einem Hinweis verstorben in seiner Wohnung auffand. Alles deutet auf einen natürlichen Tod, keine Straftat. Polizeimeister Richard V. (29) und Polizeikommissar Alex P. (31) lauschen aufmerksam. Die Beamten sind Streifenpartner für diese Nacht und wir werden sie im Auto begleiten.

Der Zuständigkeitsbereich ihres Polizeireviers Leipzig-Südwest umfasst etwa 180.000 Menschen bis nach Rückmarsdorf und Markranstädt. In Leipzig zählen Grünau, Alt-Lindenau, Leutzsch, Schleußig, Plagwitz, Klein- und Großzschocher dazu.

Hilferuf aus Grünau

Der Wagen wird aufgerüstet und wir starten in die Nacht. Fall eins kommt prompt: In Grünau bittet ein Mann um Hilfe. Eine Dame, offenbar eine Spontanbekanntschaft, soll ihn in seiner Wohnung angeschrien und beleidigt, eine Bierflasche vom Balkon geschleudert und das Glas der Stubentür zerdeppert haben. Fassungslos zeigt der Betroffene die Scherben auf dem Flur, die noch von dem abendlichen Drama künden.

Polizeikommissar Alex P. und Polizeimeister Richard V. reden ruhig und professionell mit dem Mann, fertigen Notizen, schießen Bilder. Die mutmaßliche Täterin, längst über alle Berge, kann namentlich identifiziert werden. Eine Anzeige wegen Sachbeschädigung und Beleidigung wird geschrieben.

Gleich als Zeuge befragt wird der Geschädigte nicht, denn ein Atemalkoholtest ergibt 1,98 Promille. Jeder Strafverteidiger würde das Vernehmungsprotokoll dann, sollte es zu einem Gerichtsprozess kommen, gnadenlos zerlegen, weiß Alex. So wird der Mieter für eine spätere Anhörung zum Revier bestellt. Vorerst ist der Fall erledigt.

Spezialkräfte kommen zum Einsatz

Richard V. und Alex kennen sich beruflich seit einigen Jahren, sind ein eingespieltes Team. Beide kamen auf Umwegen zur Polizei: Alex lernte erst Physiotherapeut, sein jüngerer Kollege war KfZ-Mechatroniker, ehe das frühe Faible für die Polizei doch noch in Ausbildung und Studium mündete. Trotz der Belastung arbeiten sie gerne nachts, weil weniger Verkehr herrscht und die Hektik des Tages abebbt: „Da hat man eine gewisse Ruhe“, meint der 29-jährige Richard V.

Plötzlich geht alles rasch: Mit Blaulicht rasen wir stadteinwärts. In einer Seitenstraße brüllt eine psychisch auffällige Frau aus ihrem Fenster die Nachbarschaft zusammen. Mehrere Streifenbesatzungen sind bereits vor Ort, als wir gegen Mitternacht eintreffen. Die Frau kommt immer wieder ans Fenster, redet laut auf die Polizisten ein, lässt sich aber nicht beruhigen und will niemanden zu sich lassen. Ein paar Anwohner beobachten die Szenerie von der anderen Straßenseite aus.

Einsatz mit Spezialeinheit. Foto: Lucas Böhme
In einer kleinen Seitenstraße brüllt eine Frau in psychischem Ausnahmezustand die Nachbarschaft zusammen. Eine Spezialeinheit greift wegen möglicher Eigengefährdung ein, die Betroffene kommt in eine Klinik. Foto: Lucas Böhme

Wegen einer möglichen Eigengefährdung frieren die Gesetzeshüter die Situation ein und warten auf die LebEl-Gruppe, eine Spezialeinheit für „lebensbedrohliche Einsatzlagen.“ Die Wohnung wird gestürmt und die Frau, die offenbar dringend Hilfe braucht, auf die Trage des wartenden Rettungsdienstes geschnallt, um sie in eine Klinik zu fahren.

Die Nacht, die so viel über Menschen erzählt

Für Richard V. und Alex P. gehören Einsätze wie dieser zum Tages- und Nachtgeschäft. Doch sie sind alles andere als ungefährlich. Erst dieser Tage war ein 34-jähriger Polizist und Familienvater im Saarland während seines Dienstes von einem mutmaßlichen Tankstellenräuber erschossen worden. Macht das etwas mit einem?

„Man darf das nicht so an sich heranlassen. Ich kann das gut abtrennen“, meint Alex, der daheim selbst Partnerin und Kind hat. „Das Risiko wird greifbar in gewissen Situationen, aber es ist nicht dauerprägend.“ Erst neulich erlebte der 31-Jährige einen Vorfall in einem Haus, bei dem auch ein Messer im Spiel war. Der Mann, der es in der Hand hatte, konnte durch Reden beruhigt und die Lage entschärft werden.

Speziell Beschaffungskriminalität und Drogen sind ein Dauerthema in Leipzig, dessen Folgen sie in jeder Schicht spüren, wissen die Beamten. Gerade die Dunkelheit der Nacht, wo die Geschäftigkeit des Alltags nicht mehr alles überlagert, schärft den Blick auf das, was in der Stadt schiefläuft und oft mit Kriminalität als Phänomen zu tun hat: Alkohol, Betäubungsmittel, soziale Abgehängtheit, psychische Problemlagen.

Die Nacht wird zur Lehrmeisterin von Facetten unserer Gesellschaft, die wir gern verdrängen: „Eine Nacht weiß viel zu erzählen“, besagt ein sorbisches Sprichwort.

Die fliegende Bierflasche

Das zeigt auch der nächste Einsatz: Auf der Georg-Schwarz-Straße torkelt den Beamten kurz nach 01:00 Uhr eine junge Frau beinahe vor das Auto, sie redet wirr, beleidigt, schreit. Kurz vorher soll die etwa 30-Jährige eine Flasche auf einen fahrenden Transporter geworfen haben.

Verdächtige wird abgeführt. Foto: Böhme
Eine Frau, die unter starkem Drogeneinfluss steht, wird von den Beamten abgeführt. Foto: Lucas Böhme

Kollegen setzen die Verdächtige fest, ein Schnelltest auf Amphetamine schlägt an. Die Frau wird abgeführt und in ärztliche Obhut übergeben, während Polizeikommissar Alex die Scherben der Flasche auf der Fahrbahn abfotografiert. Juristisch geht es immerhin um gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, hier drohen Geldstrafe oder sogar bis zu fünf Jahre Haft. Ob die mutmaßliche Verursacherin angesichts ihres desolaten Zustands schuldfähig ist und zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist eine andere Frage.

Der Sachverhalt wird an Ort und Stelle aufgenommen. Foto: Lucas Böhme
Der Sachverhalt wird an Ort und Stelle aufgenommen. Foto: Lucas Böhme

Alex tippt den Vorfall für den Staatsanwalt in den Laptop. Das Streifenduo ist gut ausgerüstet. Zur Ausstattung gehören auch Technik zur Fingerabdrucknahme an Ort und Stelle sowie ein Spurensicherungs-Set für den „ersten Angriff“, wie es im Polizeijargon heißt: Beispielsweise bei Einbrüchen können leicht vergängliche Proben, vor Gericht ein wichtiges Beweismaterial, umgehend gesichert werden, ohne auf Kriminaldauerdienst oder Kriminaltechniker zu warten.

Polizeiarbeit ist manchmal auch eine Abwägungsfrage

Die Nachtstunden ziehen vorbei. Gegen 03:00 Uhr leuchten Richard V. und Alex P. in der Nähe vom Lindenauer Bushof die Anliegerstraßen nach einer Gruppe ab, aus der ein brüllendes „I will kill you!“ gefallen sein soll. Doch es ist niemand zu sehen, alles liegt in stiller Finsternis. Aus einer abgelegenen Bar dringt fahles Licht auf den Gehsteig, durch die offene Tür wird der im Schritttempo vorbeifahrende Streifenwagen argwöhnisch beäugt. Bei einem kurzen Tankstellen-Stopp vertreten wir uns die Beine, atmen in der kühlen Luft durch.

Dann sind wir in einem Mietshaus, ein paar Autominuten entfernt. Eine ältere Bewohnerin fühlt sich vom Nachbarn eingeschüchtert, der vorhin, vielleicht unter Drogeneinfluss, laut gerufen und grundlos an Türen geklopft habe. „Ich bin froh, wenn mein Mann heute Abend kommt“, sagt die Rentnerin, eine Frau Mitte siebzig, den Beamten an ihrer Wohnungstür leise.

Polizisten an Wohnungstür. Foto: Böhme
Ein Mann soll Nachbarn durch nächtliches Klopfen und Schreien belästigt haben. Richard V. und Alex P. sprechen mit ihm. Foto: Lucas Böhme

Richard V. und Alex klingeln den verschlafenen Bewohner aus dem Bett, sprechen mit ihm. Er wirkt perplex, scheint einsichtig, nicht auf Krawall gebürstet. Es steht „nur“ Ruhestörung im Raum, eine Ordnungswidrigkeit. Das Polizistenduo nutzt daher seinen Ermessensspielraum, belässt es bei einer Mahnung. Alle Mittel ausgeschöpft wurden jetzt nicht.

Für die Beamten eine situative Abwägung, da nichts auf eine Eskalation hindeutet: „Es hat nichts mit Kleinmachen zu tun, wenn ich auch mal beigebe. Gutes Zureden ist wichtig“, meint Richard V.

Kein Verständnis, wenn das Unrechtsbewusstsein fehlt

Kurz nach 04:00 Uhr wird ein mutmaßlicher Graffiti-Sprayer gestellt, jemand hatte ihn beobachtet und die Polizei gerufen. Der junge Mann hat frische Farbe an der Hand, behauptet auf Nachfrage, sie käme von Malerarbeiten. Er ist unkooperativ, widersetzt sich, als er in Handfesseln weggebracht wird. Seine Identität bleibt ebenso unklar wie die Frage, ob er überhaupt volljährig ist.

Graffiti-Einsatz in der Nacht, Foto: Böhme
Ein junger Mann, mutmaßlicher Graffiti-Sprayer, wird am frühen Morgen gefasst. Foto: Lucas Böhme

Für die Klärung der Personalien muss er mit zur Dienststelle. Vermutlich ist er danach wieder frei, U-Haft dürfte ihm kaum drohen. Auf der Rückbank des Polizeiautos grinst er, diskutiert mit einer Polizistin. Vielleicht, um seine Unsicherheit zu kaschieren. Trotzdem: Für Arroganz und mangelndes Unrechtsbewusstsein, so betont Polizeimeister Richard V., habe er persönlich kein Verständnis.

Kommunikation ist der Schlüsselfaktor

Gegen Schichtende halten er und Kollege Alex einen Ford an, der seine besten Jahre hinter sich hat, prüfen die Papiere. Der Wagen steht tatsächlich kurz vorm nächsten TÜV. Seine Fahrerin wirkt nervös, ist aber sauber und darf weiterfahren. „Viele Autofahrer fühlen sich von Verkehrskontrollen angegriffen“, hat Richard V. beobachtet. Salopp formuliert er: „Es ist ja nicht so, dass wir sagen: ‚Geil, heute gehen wir Leuten wieder auf den Sack.‘ Es ist unser Beruf.“

Verkehrskontrolle. Foto: Böhme
Verkehrskontrolle am frühen Morgen. Hier gab es nichts zu beanstanden. Foto: Lucas Böhme

Kollege Alex meint: „Die Menschen sind meist freundlich.“ Generell sieht er bei der Wertschätzung der Polizeiarbeit in Politik und Gesellschaft aber noch Luft nach oben, sagt der 31-Jährige. Umgekehrt, sind sich beide einig, sei eine gute Kommunikation der Polizei auf Augenhöhe das A und O. Auch hier erkennen die jungen Ordnungshüter noch Besserungsbedarf an, zumindest bei einem Teil der Polizei.

Dann eine Fahrerflucht, der Seitenspiegel eines geparkten Mercedes wurde beschädigt. Richard V. und Alex P. dokumentieren den Schaden, schreiben das Protokoll, klemmen dem Fahrzeughalter einen Hinweis unter den Scheibenwischer.

Böse Überraschung. Foto: Böhme
Böse Überraschung: Der Seitenspiegel eines geparkten PKW wurde von einem anderen Wagen beschädigt, der Übeltäter flüchtete unerkannt. Foto: Lucas Böhme

Vielleicht gleich, vielleicht in ein paar Stunden – aber demnächst wird er die böse Überraschung sehen. Das Kennzeichen des Verursachers konnte der Zeuge leider nicht mitteilen. Am Ende wohl eines von vielen Aktenzeichen und ein Versicherungsfall. Ob der Täter je ermittelt wird? Fraglich.

Ein Beruf mit vielen Facetten

In der Morgendämmerung kehren wir zum Revier zurück, wo die ablösende Frühschicht wartet. Etwas Müdigkeit hat sich eingeschlichen. Richard V. und Alex P. dürfen gleich nach Hause und ein paar Stunden schlafen.

Generell sind ihre Dienstzeiten so gestaltet, dass es aller paar Schichten zwei freie Tage gibt, die aber nur ab und an auf ein Wochenende fallen. Für das Sozialleben denkbar ungünstig. Wer allein auf die Vorteile des Polizistenberufs schielt, ist definitiv verkehrt, auch wenn sie auf der Hand liegen. Dazu gehören die Abwechslung, die Sicherheit, die der Beamtenstatus bietet, und auch der finanzielle Aspekt. „Man verdient kein schlechtes Geld“, meint Richard V. dazu.

Bereits in 15 Stunden steht ihm und Alex die nächste Nacht im Streifendienst bevor. Und auch die wird wieder Unvorhersehbares mit sich bringen. Denn: „Eine Nacht weiß viel zu erzählen.“

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