Mode und Werbung machen alles gleich, hämmern den Konsumenten Bilder vom Ideal in den Kopf, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Und sie erhöhen damit den Druck auf Uniformität, Maskerade und schönen Schein. Was aber das Menschsein wirklich ausmacht, das geht dabei unter. Und dabei ist gerade ein gutes Selbstbewusstsein das, was im Leben weiterhilft, was uns Durststrecken und Krisen überstehen lässt. Mitten in der Corona-Zeit begann C. Juliane Vieregge deshalb, Menschen zu interviewen und zu fragen, wie sie ihr Leben meistern.

Eigentlich eine ganz zentrale Frage. Mit der viele Menschen hadern. Denn Resilienz ist nicht jedem gegeben. Manche haben es nicht gelernt oder nicht den Mut gehabt, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und Krisen als die Chance zu begreifen, etwas Neues zu beginnen. 18 Menschen hat die Online-Journalistin und Bloggerin interviewt. Anfangs in Videokonferenzen, später, als das wieder möglich war, wieder im direkten Gespräch. Darunter den deutschen Raumfahrer Ulf Merbold, den Klimaforscher Mojib Latif und den Prinzen Sebastian Krumbiegel.

Nicht nur die Corona-Pandemie forderte in dieser Zeit das Durchhaltevermögen der Befragten heraus. Auch die Flut im Ahrtal fällt in diese Zeit, die die Autorin mit einem Gesprächspartner thematisiert, der mit seinem Restaurant mitten drin war – dem Gastronomen Markus Bell. Der eben nicht nur über die Kraft zum Neubeginn erzählt, sondern auch schildert, wie die selbstlose Hilfe völlig fremder Menschen Mut machte, als sein Restaurant vom Wasser völlig zerstört war.

Da klingt etwas an, was noch immer da ist, auch wenn unsere Gesellschaft den Egoismus, die Gier und die Rücksichtslosigkeit feiert. All die falschen „Tugenden“ einer „Leistungsgesellschaft“, in der die Solidarität geradezu verachtet wird. Obwohl sie der Kitt der Gesellschaft ist.

Die Kraft, mit Krisen umzugehen

Das wird auch in anderen Interviews deutlich. Niemand ist allein seines Glückes Schmied. Wir alle brauchen Partner, Helfer, Unterstützer, Mutmacher und Tröster. Ein wenig erzählen die nun im Buch versammelten Interviews davon, dass sich dieses Land eigentlich auch zum Besseren verändern könnte. Wenn wir nur wollten. Und endlich über andere Vorbilder reden würden.

Nicht die ganzen aufgeblasenen Egos, die uns als „Erfolgsmenschen“ verkauft werden. Eher Leute wie den Schriftsteller Najem Wali, der erzählt, wie man mit Fluchterfahrung trotzdem zu seinem inneren Gleichgewicht findet. Oder Grit Seymour, die – in der DDR aufgewachsen – dennoch ihren Traum verwirklichte, eine der gefragtesten Designerinnen der Welt zu werden.

Oft erweist sich erst im Rückblick, wenn die Gesprächspartner von C. Juliane Vieregge ihre Lebensgeschichte erzählen, woher die Kraft kam, auch mit Krisen umzugehen und auch gegen Widerstände jenen Weg einzuschlagen, auf dem man spürt: Das ist jetzt der richtige. Das ist mein Weg. Und das hat genug auch mit dem Gefühl zu tun, dass man das Richtige tut und dabei der Gesellschaft auch noch etwas zurückgibt.

So wie Serkan Eren, der nach einem schweren Verkehrsunfall, den er nur knapp überlebte, die Hilfsorganisation STELP gründete, mit der er und seine Mitstreiter international tätig werden, wenn Katastrophen schnelle und zielgerichtete Hilfe erfordern. Oder eben Mojib Latif, der genau weiß, wie sehr die Folgen des Klimawandels den Menschen Angst machen – dass man also mit Schreckensszenarien bestenfalls die Ängste verstärkt. Weshalb die Wissensvermittlung zum Klimawandel völlig anders passieren muss und den Menschen vor allem die eigene Fähigkeit zum Handeln wieder klargemacht werden muss. Motto: „Klimaschutz muss Spaß machen.“

Der Geist des Miteinanders

Womit ein wesentlicher Aspekt dieses Buches ebenso deutlich wird: Es geht immer um das Gemeinsame. Und gerade jene Menschen, die Macht und Einfluss haben, müssen eigentlich wieder lernen, mit den nur scheinbar nur kleinen und gewöhnlichen Menschen zu kommunizieren. Denn Gesellschaft funktioniert nur im Miteinander, auch wenn das die Strippenzieher in den Hinterzimmern ganz und gar nicht so sehen wollen.

Und das bringt im Buch sogar eine zum Ausdruck, die seit dem Interview im August 2023 eine außergewöhnliche Karriere hingelegt hat: die damalige Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf. In ihrem Beitrag sagt sie: „Ich wünsche mir in der politischen Kultur den Geist des Miteinanders. Wir sollten endlich wieder anfangen, uns gleichberechtigt an einen Tisch zu setzen auf der Suche nach dem besten Weg. Und erst wieder auseinandergehen, wenn wir alle miteinander einen Konsens gefunden haben.“

Inzwischen sitzt sie für das BSW in der thüringischen Landesregierung.

Da ist es geradezu zwangsläufig, dass auch der bekannte Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer in diesem Buch zu Wort kommt, der schon frühzeitig darauf hingewiesen hat, was in unserer Gesellschaft falsch läuft und was das mit dem völlig falschen Verständnis vom entfesselten Egoismus zu tun hat, den die radikale Marktwirtschaft propagiert.

Es war das Glücksgefühl unter einem leuchtenden Sternenhimmel, das ihn den Einklang mit der Natur erleben ließ. „In dieser Gewissheit entstand der Grundgedanke für eines meiner ertsten Bücher: Homo Consumens, eine psychologische Analyse der Konsumgesellschaft und ihres zerstörerischen Potenzials, den Homo sapiens in eine angst- und neidbesessene Karikatur seiner selbst zu verwandeln.“

Die innere Stimme

Schmidbauers Buch erschien 1972. Und verstanden haben es auf politischer Ebene jedenfalls die Allerwenigsten. Im Gegenteil: Gerade die „angst- und neidbesessene Karikatur“ des Menschen wird in Phrasen, Debatten und Kampagnen immer wieder bedient. Es werden Angst und Neid geschürt. Nur dummerweise mit dem Ergebnis, dass das ausgerechnet all jene Kräfte stärkt, die die Demokratie und das Miteinander zerstören wollen. Der schwache, manipulierbare Mensch ist das Ziel, nicht der seiner selbst bewusste, der sein Leben als geniale Möglichkeit begreift, sich selbst und seine größten Träume zu verwirklichen.

Und das zieht sich im Grunde durch alle Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden. Schmidbauer bringt das Grundproblem auf den Punkt, wenn er sagt: „Der Zwang zum Konsum entsteht aus Angst, und er erzeugt seinerseits Angst. Je mehr der Mensch konsumiert, desto weniger muss er sich mit sich selbst, mit seiner Furcht und Trauer vor Unsicherheit und Ungenügen auseinandersetzen. Alles wird ihm als machbar bzw. käuflich vorgegaukelt. Dass die Lösungen, die ihm von außen verordnet werden, hohl klingen, nimmt er nicht mehr wahr. Seine innere Stimme hört er nicht mehr. Er ist sich selbst fremd geworden.“

Das ist eigentlich der Grundton, auf dem diese 18 hier versammelten Texte basieren. Sie erzählen alle von der Ermutigung zur Selbsterkenntnis. Und damit zur Befähigung, das eigene Leben zu gestalten.

Die Macht der Freundlichkeit

Schmidbauer schreibt: „Die Konsumgesellschaft suggeriert ein Grundrecht auf Bequemlichkeit. Damit zersetzt sie unsere Fähigkeit, Angst und Kränkungen auch mal auszuhalten. Klicken und Wegwischen geht halt schneller als mühevolles Sich-Aneignen einer schlimmen Situation.“

Das nennt man dann Resilienz, die Fähigkeit, auch mit Krisen produktiv umgehen zu können und dabei nicht zum rücksichtslosen Egoisten zu werden. Ein Thema auch für Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel, der nicht nur als Sänger, sondern auch in direkter politischer Einmischung immer wieder darauf hinweist, dass Freundlichkeit eigentlich der einzige Weg ist, mit anderen Menschen gemeinsam Dinge besser zu machen.

Dass ihn die gewalttätigen Mitmenschen für so eine Haltung bedrohen, scheint zwar irgendwie logisch. Macht aber trotzdem keinen Sinn. Und es weist darauf hin, dass Gewalt zwar für Menschen attraktiv ist, die selbst nicht wissen, was sie eigentlich wünschen im Leben. Aber sie löst kein einziges Problem. Im Gegenteil: Sie sorgt dafür, dass Probleme nicht mehr gelöst werden und stattdessen immer schlimmer werden.

Da ist auch C. Juliane Vieregge ganz bei Schmidbauer, wenn sie schreibt: „Ich kenne das Gefühl: Mir reicht’s! Auch ich fantasiere manchmal von Freiräumen und vom Entkommen – den algorithmischen Zwängen bei der hausärztlichen Terminplanung, dem moralischen Druck eines Dauer-Empörungsbürgertums, der krankmachenden Individualisierung in kapitalistischen Strukturen, deren dystopische Vollendung sich in den Visionen des Transhumanismus findet.“

Abhauen – so stellt sie fest – ist keine Lösung. Freiheit findet sie im Schreiben. Statt den Kopf einzuziehen, sucht man sich da draußen Mitstreiter, Gleichgesinnte, geht mit der Botschaft der Menschlichkeit ins Netz – so wie die Schauspielerin Elena Uhlig. Oder die Köchin Maria Gros, die den Stress-Job in der Spitzengastronomie in Erfurt lieber an den Nagel hängte und sich mit der „Bachstelze“ den Traum eines eigenen, selbstgestalteten Restaurants erfüllte, in dem die Gäste erleben können, dass auch das Kochen und Genießen etwas zutiefst Spirituelles sind. Wenn man es denn zulässt.

Es geht ums Tun und nicht ums Labern

Denn ganz offensichtlich trauen sich viele Menschen gar nicht mehr, ihren Träumen im Leben Raum zu geben. Oder mit den Worten von Maria Gros, die sich selbstbewusst den Markennamen „Maria Ostzone“ schnappte: „Natürlich gab es Bedenken dagegen, aber ich glaube, in der heutigen Gesellschaft haben die Leute sowieso andauernd viel zu viele Bedenken. Es geht ums Tun und nicht ums Labern. Wenn das jeder Einzelne begreifen würde, wären wir alle gesünder und das gesellschaftliche Miteinander würde besser funktionieren.“

Wie einen das Leben manchmal geradezu dahin spült, wo man mit seinen Talenten tatsächlich gefragt ist, das erzählt die Ärztin, Medizinjournalistin und Moderatorin Florence Randrianarisoa. Inge Auerbacher, die als Kind den Holocaust überlebte, erzählt, wie man selbst aus bitterer Erinnerung Kraft schöpft und sich von seinen Narben nicht das Leben diktieren lässt.

Eigentlich ein ganz ähnliches Thema, wie es die Schauspielerin und Autorin Marie Theres Relin anklingen lässt. Die – wie auch andere Autorinnen im Buch – auch die seltsamen Rollenzuschreibungen aufs Korn nimmt, die sich Frauen auch heute noch gefallen lassen müssen.

Doch auch sie ist sich sicher: Sich in die Opferrolle drängen zu lassen, ist der falsche Weg. Man darf sich nichts gefallen lassen. Und ganz ähnlich kämpferisch zeigt sich die Kabarettistin Gerburg Jahnke. Frauen müssen ganz und gar nicht den in der Werbung promoteten Frauenbildern genügen, wenn sie glücklich werden wollen. Oder einfach das Gefühl haben wollen, dass sie ihr Leben, ihre Partnerschaften und ihre Liebe selbst gestalten. Und ihre Arbeit so leben, dass sie ihren eigenen Vorstellungen entspricht.

Anders als viele hoch gehypte Comedians hält sie nichts davon, dass ihrem Publikum „das Lachen im Halse stecken bleibt“. Unter Humor versteht sie etwas Gemeinschaftliches, die Fähigkeit, über die vielen ganz menschlichen Schwächen, die wir alle haben, gemeinsam zu lachen. Das befreit und tröstet.

18 Ermutigungen

Womit das Buch auch rund wird, weil es im Grunde von einem Mensch-Sein erzählt, das hinter den ganzen falschen Kulissen von Werbung, Talk und Politik fast völlig verschwunden ist. In dem Menschen sich aber wieder gemeint und verstanden fühlen. Anerkannt, so, wie sie sind. Und ermutigt, ihre eigenen Träume zu leben.

Man schlägt das Buch zu und ist betroffen, weil das ein Bild vom Menschsein ist, das in der heutigen politischen Dauerbeschallung nicht mehr vorkommt. Was aber erklärt, warum lauter Leute ins Rampenlicht gespült werden, denen man schon ansieht, dass sie weder selbst ein erfülltes Leben leben, noch ein solches allen anderen gönnen. Stoff genug zum Nachdenken. Und vielleicht sogar Anregung, mit der Veränderung bei sich selbst zu beginnen. Ermutigt durch 18 Menschen, die jede und jeder auf ihre Weise zeigen, dass eigentlich nur ein bisschen Mut dazu gehört, sich ein Leben zu gestalten, in dem man sich nicht mehr von anderen sagen lässt, wie es geht.

C. Juliane Vieregge „Was wirklich zählt“ Schüren Verlag, Marburg 2025, 25 Euro.

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