Welche Rolle spielt eigentlich die Friedliche Revolution in der Erinnerung der Ostdeutschen? Oder in der gesamtdeutschen Sicht auf die eigene Geschichte? Ist sie längst von rechtsextremen Parteien gekapert worden? Ist jetzt jeder Ostdeutsche ein Bürgerrechtler, der sich Phrasen der AfD anschließt? Es ist ein heikles Thema, das Rainer Eckert in seinem neuen Buch beackert. Denn die Frage, warum „die Ostdeutschen“ sich so zurückgesetzt fühlen, spielt auch mit hinein.
Denn es ist ja nicht nur ein diffuses Gefühl. Die massiven Wahlergebnisse für die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD in Ostdeutschland erzählen von Frust, Trotz und einer tief sitzenden Distanz zur Demokratie. Man will es „denen da oben“ mal zeigen. Und wählt dafür eine Partei, die ausgerechnet das, was sich die Ostdeutschen mit der Friedliche Revolution 1989 erkämpft haben, zerstören will. Sind die Ostdeutschen also alle rechtsextrem und hat das nur lange keiner gemerkt?
Die Gründe sind vielfältig. Und Rainer Eckert beobachtet die Diskussionen lange genug, um zu wissen, dass es den einen Grund für diesen Rechtsrutsch nicht gibt. An dieser Suppe haben viele mitgekocht. Eckert beschäftigt sich in seiner Streitschrift mit mehreren dieser Gründe und setzt sich insbesondere auch mit jüngeren Veröffentlichungen auseinander, in denen Autoren wie Ilko Sascha-Kowalczuk oder Dirk Oschmann sich mit dem Befinden des Ostens intensiv auseinandersetzen. Und unterschiedlichste Gründe dafür anführen, warum das so ist. Und natürlich treffen diese Gründe zu.
Diskurshoheiten und Elitentausch
Auch die von Oschmann kritisierte Diskurshoheit westdeutscher Autoren in den dominierenden westdeutschen Medien, die nun einmal auch ihr Bild vom „Ostdeutschen“ immer wieder durchsetzen, während es an ostdeutschen Autoren mit ähnlicher Wirkmächtigkeit mangelt. Was auch wieder mit dem von Oschmann angeführten radikalen Elitentausch nach 1990 zu tun hat, den auch Rainer Eckert für einen der Hauptgründe für das Empfinden vieler Ostdeutscher hält, immer nur Bürger zweiter Klasse zu sein.
Denn was 1990 begann, war der radikalste Elitentausch, den es in der deutschen Geschichte je gab. Und statt sich auszuwachsen, haben sich die Netzwerke der nun mal sehr westdeutschen Eliten im Osten verfestigt. Und es wird über mögliche Quoten diskutiert, mit denen Ostdeutsche vielleicht doch mal öfter zum Zug kommen könnten.
Aber auch das starke Einkommensgefälle gegenüber Westdeutschland, das Fehlen von Eigentum und Vermögen spielen eine Rolle genauso wie die Tatsache der tatsächlich erlebten Brüche in der ostdeutschen Transformation ab 1990. Bis hin zu den sichtbar gewordenen Rückbauten an wichtigen, gemeinschaftsfördernden Infrastrukturen vor allem in den ländlichen Räumen. Wenn man nicht die ganze Komplexität dessen wahrnimmt, was die Transformation für den deindustrialisierten Osten bedeutet, dann versteht man das Problem nicht.
Aber Eckert kriitisiert noch etwas anderes, was ebenso mit dem Elitentausch nach 1990 zu tun hat: das Fehlen eigenständiger ostdeutscher Geschichtsforschung mit eigenen Vertretern der forschenden Zunft. Denn westdeutsche Lehrstuhlinhaber bringen völlig andere Forschungsschwerpunkte mit. Sie haben keine eigenen Erfahrungen mit einer Sozialisation im Osten oder gar in der DDR, weder in Opposition und Widerstand noch in einer angepassten Position.
Ihnen fehlt schlichtweg die Diktaturerfahrung. Und damit ein Blick auf die Friedliche Revolution, der diese Revolution tatsächlich erst in ihrer Dimension erfasst. Denn die westdeutsche Sicht kapriziert fast immer nur auf den 9. November und die Deutsche Einheit. Und blendet viel zu oft aus, dass es die deutsche Einheit ohne die Revolution der Ostdeutschen nicht gegeben hätte.
Der osteuropäische Revolutionszyklus
Und wenn man erst einmal an dem Punkt ist, wird noch deutlicher, dass mit dieser verengten Sichtweise auch der Blick auf die Kette friedlicher Revolutionen verloren geht, die damals fast alle osteuropäischen Länder umfassten. Ein Blick, den besonders die aus der Bürgerrechtsbewegung kommenden Historiker immer wieder anmahnen, weil sie noch wissen, welche ganz zentrale Rolle die Verbindung der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung zu den Revolutionären in Polen und der CSSR spielte. Eckert merkt es fast beiläufig an: Darin ähnelt die Friedliche Revolution den bürgerlichen Revolutionen von 1848/1849, die ebenfalls mehrere Länder Europas in Resonanz erfasste.
Ein Blick auf Revolution, der vielen Historikern einfach abgeht, weil sie in engen nationalen Kategorien denken und einfach ignorieren, wie sensibel gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen in europäischen Nachbarländern aufeinander reagieren. Da können noch so viele Hagers dummes Zeug reden über Nachbarn, die tapezieren.
Es geht bei Revolutionen nicht ums Tapezieren, sondern um historische Chancen und Wellenbewegungen. 1988/1989 natürlich ausgelöst durch Signale aus Moskau, dass man nicht mehr mit Militärgewalt eingreifen würde, wenn die Länder des Ostblocks ihre Entwicklung selbst gestalten wollten.
Und Eckert verweist ebenso beiläufig auch darauf, dass auch die Unabhängigkeitserklärungen ehemaliger Sowjetrepubliken in genau diesen Zusammenhang fallen und die Völker in diesen Ländern genauso wie die DDR-Bürger den Weg zu einer eigenen Demokratie begonnen haben. Einige davon sind heute EU- und NATO-Mitglieder. Und eines wäre das gern, muss sich aber seit 2022 den mörderischen Krieg des Nachbarn Russland gefallen lassen, der unter Putin wieder zurückgekehrt ist zur alten imperialistischen Denkweise.
Und da wird noch deutlicher, wie schizophren Parteien wie die AfD sind, die einerseits Versatzstücke der Friedlichen Revolution für sich okkupieren, aber gleichzeitig jede Waffenhilfe für die Ukraine unterbinden wollen. Deutlicher kann man die Verlogenheit dieser Partei nicht zeigen – sich als „Vollender der ‘Wende’“ zu bezeichnen und gleichzeitig einem Imperialisten wie Putin das Wort zu reden. Das passt nicht zusammen.
Vormundschaft und Demokratie
Aber Fakt ist eben auch, dass auch die Revolution von 1989 nicht von allen Ostdeutschen getragen wurde. Es war eine Minderheit, die die Sache in Bewegung brachte, selbst wenn man die großen Demonstrationen im Herbst 1989 mitzählt, und die dafür sorgte, dass die Macht der SED endete. Aber die große Mehrheit schaute – wie das in der Geschichte meist so ist – nur zu. Und wurde erst wirksam, als mit der Wahl im März 1990 die simple Frage stand: Schnelle Einheit ja oder nein? Und da wirkten dann Helmut Kohls versprochene „blühende Landschaften“.
Und noch ein Fakt, den Eckert natürlich auch benennt: tatsächlich die Prägung viele Ostdeutscher in einem autokratischen System, in dem sie gelernt hatten, dass man mit Gehorsam, Selbstverleugnung und Klappehalten am weitesten kommt. Sie votierten also mehrheitlich für eine paternalistische Politik, die ihnen nicht nur Helmut Kohl versprach, sondern auch andere CDU-Größen wie „König Kurt“ in Sachsen. Motto: Wir machen das schon. Ihr müsst euch um gar nichts kümmern.
Und das sitzt bis heute in den Köpfen. Demokratie wird nicht als Selbstermunterung begriffen, sich einzumischen, damit das gemeinschaftliche Projekt funktioniert, sondern als Delegierung von Verantwortung an Parteien, die dann vier oder fünf Jahre durchregieren dürfen. Und das geht so lange gut, wie „die da oben“ Ergebnisse produzieren, die denen „da unten“ das Gefühl geben, Wohlstand, Ruhe und Sicherheit sind gesichert. Bis die erste Krise kommt.
In der Geburtenfalle
Man merkt mit Eckert natürlich bald, dass es „die Ostdeutschen“ nicht gibt. Nie gab und nicht geben kann. Womit er indirekt natürlich auch Oschmann wieder recht gibt. Denn diese „Ostdeutschen“ sind in ihrer generalisierenden Verwendung ein westdeutsches Framing. Und zwar ein fatales, nicht nur, weil hier lernunwillige Wortführer West über einen ganzen Landesteil urteilen, von dessen Binnendifferenzierung sie in der Regel keine Ahnung haben. Sondern auch, weil die Tomaten auf den Augen verhindern, ostdeutsche Entwicklungen tatsächlich so nüchtern und realistrisch wahrzunehmen, dass man sie begreift.
Eine dieser Entwicklungen – die Eckert auch benennt – ist die dramatische demografische Entwicklung, die 1990 begann und bis heute nicht beendet ist. Seitdem sind vier Millionen Menschen aus dem Osten Richtung Westdeutschland abgewandert, der Ausbildung, der Bezahlung, einem sicheren Lebensstandard hinterher. Auch Folge der verfehlten Industriepolitik der ersten zehn Jahre.
Aber das waren in der Regel junge, gut ausgebildete, hochqualifizierte Menschen. Menschen, die eins begriffen hatten: Dass man sei eigenes Schicksal in die Hände nehmen muss, wenn man die Chance dazu bekommt. Darunter auch viele junge Frauen. Was in den fünf neuen Bundesländern nach 1990 zu einem dramatischen Geburteneinbruch geführt hat, der heute zu einer mehr als dramatischen demografischen Situation in diesen Bundesländern geführt hat. Sie überaltern schneller als der Westen und verlieren gerade die jungen, arbeitsfähigen Menschen.
Eine Situation, in der es noch viel fataler ist, wenn dann rechtsradikale Büttenredner herumlaufen und die Migration umkehren wollen. Kein anderer Landstrich in der Bundesrepublik ist so sehr auf Zuwanderung angewiesen. Doch genau dagegen mobilisieren die Rechtsradikalen. Und versprechen ihren Wählern, danach wäre alles wieder gut.
Wirklich?
Danach hätte der Osten lauter vergreiste und menschenleere Landschaften. Denn die jungen Menschen werden dann erst recht abwandern. Da hin, wo noch Chancen auf Berufskarrieren sind. Zum Beispiel auch in die wenigen ostdeutschen Großstädte, die in den vergangenen 25 Jahren immer Zuzugsorte waren. Leipzig zum Beispiel. Und hierher zog es – wie genauere Bevölkerungsanalysen zeigen – eben auch viele Westdeutsche, die sich hier längst genauso heimisch fühlen wie die „Ostdeutschen“. Sind sie keine Ostdeutschen? Oder – wie Eckert fragt: Wie würden eigentlich ostdeutsche Wahlergebnisse aussehen, wenn es diese Zugewanderten aus dem Westen nicht gäbe?
Herausfordernde Freiheit
Eine berechtigte Frage. Und auf einmal merkt man: Beim Reden über den Osten muss man auch über Demografie reden und das, was verfehlte Demografie-Politik eigentlich anrichtet. Und man muss über Freiheit reden, worauf Eckert immer wieder insistiert.
Denn für die Menschen, die sich 1989 tatsächlich engagierten, ging es immer um Freiheit, um „ein freies Land mit freien Menschen.“ Und das war nie abstrakt gemeint, sondern meinte immer beides: das Recht, sich in der Demokratie zu engagieren, und die Herausforderung, sein Leben selbst zu gestalten und etwas draus zu machen. Was auch immer Verantwortung heißt – für sich selbst und für das Gemeinwohl.
Das ist das, was viele Menschen an der Freiheit erschreckt: Sie ist eben nicht nur ein Geschenk, das einem Papa Kohl in die Wiege legt, sondern auch eine Verunsicherung für jeden, der nie gelernt hat, ohne Vormund zu leben. Rainer Eckert ist sich – auch aus eigenen Erfahrungen – sicher, dass das nachwirkt. Weil es nie thematisiert und aufgearbeitet wurde.
Das können selbst die ganzen Diskussionen zu den „zwei deutschen Diktaturen“ nicht lösen, wobei sich ja der Westen bekanntlich mit seiner eigenen Aufarbeitung der NS-Zeit auch nicht leicht tat. Da war es für manchen großmäuligen Kommentator nach 1990 sogar eine schöne Erleichterung, dass er nun auf die „Ossis“ zeigen konnte mit ihrer „Diktaturerfahrung“. Ein Topos, hinter dem die Tatsache, dass die Ostdeutschen ihre Revolution ganz allein zustande gebracht haben, einfach verschwindet.
Recht hat Eckert, wenn er sagt, dass es Zeit wird, endlich wieder stolz zu sein auf diese friedliche Revolution. Und dass sie zur gesamtdeutschen Erinnerungskultur gehört. Denn erst sie hat die deutsche Einheit ermöglicht. Nur in den Köpfen etlicher Chef-Interpreten ist weder diese Einheit noch die Friedliche Revolution je angekommen. Sie stecken noch immer in ihren alten „Ossi“-Bilder von vor dem „Mauerfall“ fest, waren nie neugierig auf die neuen Bundesländer und auch nicht auf deren Bewohner. Es sollte ja alles so weitergehen, wie es im Westen immer war.
Neue Ansätze, neue Sichtweisen
Eckert geht auch auf die falschen Friedens-Formeln ein, mit denen insbesondere AfD und BSW den „Ostdeutschen“ ein gutes Verhältnis zu Moskau einreden, das es auch vor 1989 nie gegeben hat. Auch das eine Aneignung, die vor allem auf Gefühle zielt. Und gleichzeitig jede Unterstützung für die um ihre Existenz kämpfende Ukraine negiert.
Aber Rainer Eckert fokussiert letztlich sehr stark auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der ostdeutschen Geschichte mit SED-Diktatur, Friedlicher Revolution und Transformationszeit. Und da die wenigen Forscher aus der Bürgerrechtsbewegung, die bislang dazu Beiträge lieferten, so langsam im gesegneten Rentenalter sind, müssen es zwangsläufig jüngere Generationen übernehmen und vielleicht sogar eigene Sichtweisen und Forschungsansätze einbringen.
Und manche dieser Jüngeren nimmt er im Buch natürlich auch in den Fokus. Denn nicht nur Oschmann und Kowalczuk haben in letzter Zeit streitbare Bücher zur ostdeutschen Gemengelage vorgelegt, sondern auch Autorinnen wie Susan Arndt, Katja Hoyer und Christina Morina. Die Diskussion ist also nicht beendet, sondern geht auch mit neuen Sichtweisen und Argumenten weiter.
Und es ist jedem im Osten Wohnenden eh überlassen, sich selbst als Ostdeutscher zu fühlen und zu bezeichnen – wie es auch Rainer Eckert tut, der eine Gruppe noch ausklammert, weil man sie öffentlich kaum wahrnimmt: all die Migranten, die auch im Osten nicht nur Asyl gefunden haben, sondern auch Arbeit, Wohnung und eine neue Heimat, also längst Teil der Gesellschaft sind. Meistens dort, wo nicht die AfD ihre rauschenden „Wahlsiege“ feiert.
Auch diese Gebiete gibt es im Osten. Und sie sind Stoff genug darüber nachzudenken, ob nicht auch ein paar mehr Parteien grobe Fehler begangen haben, als sie meinten, „ihren“ Ostdeutschen immer wieder neue vormundschaftliche Politik vorzusetzen und zu behaupten „Wir machen das schon“, statt ihren Wählerinnen und Wählern klipp und klar zu sagen: Demokratie und Freiheit sind Herausforderungen.
Man merkt schon: Da sind etliche offene Türchen in Eckerts Streitschrift, die anregen, über einzelne Themen noch gründlicher nachzudenken. Immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass die Friedliche Revolution ein gelungener Anfang war – aber nicht das Finale der Geschichte.
Rainer Eckert „Triumph oder Niedergang einer Revolution?“, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2025, 32 Euro.
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