Dirk Oschmann ist sauer. Richtig sauer. Am Ende kann er sich nicht mal entscheiden, ob sein Buch nun eine Schmähschrift geworden ist, eine Tirade, eine Litanei, eine Polemik oder ein undifferenzierter Redeschwall. „Alles zusammen“, stellt er fest. Denn eins hat der Professor für Neuere deutsche Literatur aus Leipzig begriffen: Mit Fakten und ausgewogenen Stellungnahmen wird man als Ostdeutscher nicht gehört, sondern ignoriert.

Statistiken und Studien gibt es genug, die den Zustand des Ostens darstellen, die krassen Unterschiede, die es 32 Jahre nach der deutschen Einheit immer noch gibt, die eben keine Wiedervereinigung war, sondern ein Beitritt zur alten Bundesrepublik. Die größten Fehler wurden gleich zu Anfang gemacht. Und sie erzählen davon, warum da nie zusammenwachsen konnte, was zusammengehört. Nicht nach 10, nicht nach 15 und auch nicht nach 30 Jahren. Und warum es den Osten Deutschlands als Typus und Synonym für eine Menge boshafter Zuweisungen bis heute gibt. Als Projektionsfläche sowieso. Und wer die Probleme benennt, bekommt ruckzuck die Note vom Lehrer: Jammerossi.

So ist das.

Und dabei ist sich Dirk Oschmann bewusst, dass er sich sogar aus einer privilegierten Position heraus zu Wort meldet. Denn er ist – was auch 32 Jahre nach Stunde X nur den allerwenigsten Ostdeutschen gelungen ist – ordentlicher Professor an einer Universität, umgeben von lauter Kollegen und Kolleginnen, die auch heute noch größtenteils aus dem Westen kommen. Als gäbe es im Osten überhaupt keinen befähigten Nachwuchs.

Handicap Geburtsort

Aber ein kleines Blitzlicht in die Arbeit einer Auswahlkommission macht alles deutlich: Zwei bestens qualifizierte Bewerber stehen zur Wahl. Doch in der Auswahlkommission haben die Kollegen aus dem Westen die Mehrheit. Der Bewerber aus dem Westen wird genommen. Der ostdeutsche Bewerber hat – wieder – das Nachsehen.

Das Ergebnis ist mittlerweile mit zahlreichen Statistiken untermauert. Statt überall, wo Ostdeutsche eigentlich nach ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung mit 19 Prozent auftauchen müssten, wenn da wirklich irgendetwas zusammengewachsen wäre, sind sie überall dort, wo es wirklich etwas zu entscheiden gibt, so marginalisiert wie vor 30 Jahren: in der Wissenschaft bei 1,5 Prozent, in der Justiz zwischen 2 und 4 Prozent, in den führenden deutschen Medien in ähnlicher Größenordnung. Und das hat Folgen. Denn wer bestimmt, wie über einen Landesteil geredet und geschrieben und gesendet wird, bestimmt das Gesamtbild.

Der definiert auch den, über den berichtet wird. Und sehr genau und ausführlich erzählt Oschmann, wie diese Konstruktion des Ostdeutschen funktioniert. Die übrigens nicht neu ist. Denn dahinter steckt die Fremdsicht auf den Osten, die „Zone“, die DDR, die seit über 70 Jahren gepflegt wurde. Und die 1990 überhaupt keinen Bruch erlebte. Denn die DDR trat ja der BRD bei. Die alte BRD musste sich ja nicht ändern. Und damit auch nicht ihre Sicht auf die (undankbaren) Fremden, die auf einmal dazukamen. Und denen man bis heute mit medialer Wucht klarmacht, dass sie immer noch Fremde sind, nicht angepasst, nicht dazugehörig.

Die Barbaren im Osten

Das Othering, das man ja auch gegen Menschen aus anderen Ländern bestens beherrscht, wird auch gegen einen Landesteil der Bundesrepublik munter fortgeführt, dem so ungefähr alles an negativen Zuschreibungen aufgeladen wird, was sich spitze Federn so ausdenken können. Denn die alte Bundesrepublik gilt ja als Norm, an die sich die Ostdeutschen anzupassen haben. Und selbst wenn sie es getan haben, sind sie nicht aus dem Schneider. In Bewerbungsgesprächen erleben sie es immer wieder, wie schnell allein die Verortung im Osten dazu führt, dass sie aus dem Rennen sind. Disqualifiziert für jedes höhere Amt. Und werden sie doch genommen, verschweigen sie ihre Herkunft lieber. Etwas, was keinem Deutschen aus dem Süden, dem Westen oder dem Norden passiert.

Bis heute fungiert der Osten in deutschen Medien als das inakzeptabel Andere. Mit Zuschreibungen, die nicht nur Oschmann die Haare zu Berge stehen lassen – bis hin zur immer wieder kolportierten Behauptung, die im Osten hätten keine Erfahrung mit Demokratie, wären alle diktaturverdorben und sowieso alles Nazis. Obwohl jeder Blick in die ostdeutschen Nazinetzwerke zeigt, wie erfolgreich westdeutsche Nazis nach 1990 den Osten zu ihrem neuen Tummelplatz machen konnten. Gern freundlichst unterstützt von einer Justiz, polizeilichen Führungskräften und westdeutsch geleiteten Verfassungsschutzämtern, die bis heute auf dem rechten Auge blind sind, lieber Schauprozesse gegen eine linksradikale Schlägertruppe organisieren, als den bis heute aktiven Nazi-Netzwerken etwa in Sachsen das Handwerk zu legen.

Und dass die aus dem Westen importierten Führungskräfte so ein Problem damit haben, den „ostdeutschen“ Rechtsradikalismus zu bekämpfen, hat eine Geschichte. Eine, in der die Führungseliten des Hitlerstaates im Westen ungehindert weiter Karriere machen konnten und damit auch das Denken prägten. Bis weit in die hohe Politik hinein.

Ein kompletter Elitenwechsel

Was da ab 1990 passierte, ist in der deutschen Geschichte einmalig: ein fast kompletter Elitenwechsel. Nur dass es nicht der jüngere ostdeutsche Nachwuchs war, der die alten Kader aus den Spitzenpositionen verdrängte, sondern westdeutsche Bewerber, die nicht nur an den Hochschulen die Lehrstühle und Rektorate besetzen. Sie installierten auch ihre eigenen Netzwerke, die nun einmal bis heute westdeutsche Netzwerke sind. Netzwerke, in denen nicht nur Beziehungen eine Rolle spielen, sondern auch Stallgeruch, Standesdünkel und – Reichtum.

Ein Thema, auf das Oschmann immer wieder recht zornig zurückkommt, wenn er wieder Beiträge in den führenden (west-)deutschen Medien lesen muss, in denen behauptet wird, ostdeutsche Bewerber seien nicht gut genug, faul, nicht strebsam, würden gar keine Karriere machen wollen. Mit Berufung auf Statistiken, nach denen sie tatsächlich nicht in den lukrativen Ämtern und Positionen auftauchen, wo man wirklich gutes Geld verdient. Dass ostdeutsche Bewerber/-innen aber schon wegen der Lokalisierung „Osten“ in sämtlichen Bewerbungsrunden schlechte Karten haben, steht da nicht.

Und das verblüfft Oschmann nicht einmal, denn er kennt diese Selbstgerechtigkeit, die auch gleichzeitig Blindheit ist: Blindheit für die eigenen Privilegien, gespickt mit Überheblichkeit, Heuchelei und Doppelmoral. Etwa wenn dem Osten immerfort Rechtsextremismus, Doping und Fremdenfeindlichkeit vorgeworfen wird. Ganz so, als sei das den Ostdeutschen geradezu in die Gene eingebaut und sie wären einfach nicht bereit, zu richtigen Demokraten werden zu wollen.

Dass dann erst Verbrechen wie in Hanau oder der Mord an Walter Lübcke passieren müssen, damit der ach so gar nicht extremistische Westen merkt, dass er die selben Probleme hat, sorgt dann doch jedes Mal für Erstaunen. Ach so, wir haben auch gewaltbereite Nazis?

Habt ihr.

Seid dankbar, Barbaren!

Systematisch arbeitet Oschmann heraus, wie der Westen und seine tonangebenden Politiker und Medien fortwährend an der Fabel arbeiten, dass der Osten „anders“ sei. Anders als alle andere Deutschen. Was dabei entsteht, nennt man ganz normal Othering. Man schafft sich den nicht dazu gehörenden Anderen und merkt gar nicht, dass man nur über ihn spricht – und das in vorgefertigten Schablonen, die mit der Realität nichts zu tun haben.

„… und natürlich dürfen sich Westdeutsche immer als ‚Deutsche‘ begreifen“, bemerkt Oschmann. „Das erfährt man im Osten ganz anders, weil man innerhalb Deutschlands nie das Bewusstsein verliert, aus dem ‘Osten’ zu kommen und jederzeit zum ‚Ostdeutschen‘ gemacht und damit disqualifiziert werden zu können.“

Disqualifikation einfach durch Herkunft. Und durch eine völlige Verkehrung der historischen Tatsachen. Denn egal, welchen Kommentar man dazu in den großen Gazetten des Landes liest. In der Abwertung des Ostens spielt immer ein fetter Vorwurf mit. Motto: „Wir haben euch gerettet und das alles bezahlt. Seid dankbar!“ Völlig aus dem Bewusstsein dieser Leute verschwunden ist, dass die Friedliche Revolution nicht vom Westen gemacht wurde, sondern es die Ostdeutschen ganz allein waren, die die SED-Herrschaft beendet und die Demokratie zum Leben gebracht haben.

Eine Demokratie, die anfangs wie ein riesiges Bündel an Möglichkeiten für alle aussah, die bis dahin an ihren Lebensträumen gehindert waren. Doch die nächste Erfahrung war dann eine völlige Entwertung aller Qualifikationen, ein kompletter Elitenwechsel, bei dem eben nicht die Jugend des Ostens zum Zug kam, sondern die Netzwerke der Westdeutschen, die jetzt im Osten dankbar Karriere machen konnten. Bis heute. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache.

Hier redet nur einer

Und das nächste war die Erfahrung, nun auch in der Demokratie keine Stimme zu haben. Denn die großen westdeutschen Medien dachten gar nicht daran, ihre alten Sichtweisen aufzubrechen und über den Osten anders zu berichten als über eine „Zone“, die eigentlich nicht richtig dazu gehört.

Dass 32 Jahre nach dem Beitritt nicht nur die Führungspositionen ungleich verteilt sind und die Einkommen der Ostdeutschen immer noch 22 Prozent unter denen im Westen liegen, gehört genauso zur Wahrheit wie die Tatsache, dass sie vor 1990 nichts besaßen und danach auch nicht. Der Osten wurde auch faktisch in Besitz genommen. Das Märchen von der Gleichberechtigung glaubt im Osten fast keiner mehr.

Denn es gibt sie nicht. „Hier gesellt sich keineswegs gleich und gleich, weil den einen fast alles gehört, den anderen fast nichts, die einen das Sagen haben, die anderen nicht, die einen für gleiche Arbeit sehr viel mehr Geld bekommen als die anderen und auch ein Vielfaches erben, was die Ungleichheit verstärkt. Daran soll nicht erinnert werden dürfen?“, fragt Oschmann.

Der auch noch etliche Beispiele aufzählt, wo eben diese systemische Armut der Ostdeutschen wieder zum Vorwurf umgestrickt wird: Sie würden sich ja nicht genug anstrengen.

Und dass viele Westdeutsche Oschmanns geharnischtes Plädoyer wieder als „Jammerei“ interpretieren würden, war ihm schon beim Schreiben klar. Denn wenn man die Wortmeldung der marginalisierten Gruppe abwertet, muss man darauf nicht gesprächsbereit reagieren. Das tut man nur oberflächlich, – wenn der „Ossi“ brav die ihm zugewiesene Rolle einnimmt.

Wobei Oschmann sehr bewusst ist, dass im Osten heute vieles tatsächlich nicht gut ist. Aber nicht, weil die dort Wohnenden sich nicht genug angestrengt hätten. Denn diese Missstände haben sehr viel mit den – hoppla, Überraschung – westdeutschen Führungskräften zu tun. Mit Richtern, die auf dem rechten Auge häufig blind sind, Ministern, denen der Machterhalt immer wichtiger war, als die Probleme in den deindustrialisierten Landschaften wirklich ernst zu nehmen, westdeutschen Chefredakteuren, die lieber Heimatpflege betrieben als politische Kritik. Usw. Denn die Folge des fast kompletten Elitenwechsels ab 1990 ist eben auch, dass die neuen (westdeutschen) Eliten eine Menge dafür können, was sie mit diesem mittlerweile zutiefst frustrierten Osten angestellt haben.

Alles eine (rote/braune) Soße

Von den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag ganz zu schweigen, wo man sich bis heute schwertut, die fünf ostdeutschen Bundesländer (eigentlich sind es sechs, das Berlin-Bashing gehört eigentlich in dieselbe Schublade) als gleichwertig zu betrachten. Warum auch? Die muss man doch gar nicht ernst nehmen, oder?

„Wenn der Westen mit sich selbst und über den Osten redet, hört der Osten zu, wenn dagegen der Osten redet, egal worüber, hört der Westen weg, denn das schert ihn nicht“, stellt Oschmann fest. Stattdessen gehen die Entwertungsaktionen munter weiter, egal, ob es die Literatur des Ostens betrifft (die emsig weiter mit DDR-Literatur in einen Topf gesteckt wird) oder die bildenden Künstler/-innen aus dem Osten.

Darüber schrieb ja auch schon Michael Hametner, den bis heute verstört, wie die alte Ignnoranz gegenüber den Kunstschaffenden in der DDR auch 30 Jahre nach der Einheit weiter gepflegt wird, weil Kritiker, Wissenschaftler und Ausstellungsmacher die im Osten entstandene Kunst nicht als selbstständig und gleichwertig betrachten wollen. Und dasselbe konstatierte auch Arne Born für den Umgang mit Literatur aus Ostdeutschland von 1990 bis 2000.

Es hat nie aufgehört, den Osten als anders und nicht dazugehörig zu markieren. „Der Westen versucht zu definieren, was zu sagen ist. Und wenn das nicht funktioniert, weil es keine Argumente beispielsweise gegen nackte Fakten und Zahlen gibt, versucht er wenigstens zu bestimmen, wie etwas zu sagen ist“, schreibt Oschmann.

Dem auch nur zu bewusst ist, wie das längst die Demokratie und das Vertrauen der Menschen in die Institutionen untergräbt. Denn wer immer wieder erfährt, dass er keine Stimme hat, dass andere einfach aus der gesicherten Machtposition immer nur über einen reden und bestimmen, was über einen gesagt wird, der wird nicht demütig (wie sich das möglicherweise einige der Kommentatoren wünschen), sondern eher depressiv und trotzig. Ausgegrenzt eben, einfach qua Geburtsort dazu verdammt, nicht wirklich mitspielen zu dürfen.

Der Ursprung allen Übels

Und dass sich das auch in Wahlen äußert, überrascht Oschmann genauso wenig. Eine Demokratie, bei der ein Fünftel nicht mitspielen soll und mit dem immer neu aufgepappten Etikett „Störenfried“ leben soll, ist schon eine kaputte Demokratie. Wobei Oschmann sehr bewusst ist, dass Deutschland nicht das einzige Land ist, das unter diesem Phänomen leidet. Das kennen auch die ländlichen Regionen in England oder Frankreich. Und die Osteuropäer jenseits der Oder kennen es erst recht. Die erfahren dieselbe Arroganz eines „Westens“, der glaubt, den Menschen hinterm ehemaligen Eisernen Vorhang die Segnungen der Demokratie erst mal beibringen zu müssen.

Oschmann ist sich auch bewusst, dass für seine Streitschrift auf das gängige Ost-West-Schema zurückgreifen musste, denn einen anderen Kommunikationsmodus gibt es nun einmal noch nicht. Ein Anfang wäre gemacht, wenn man aufhören würde, „den Schwarzen Peter immer in den Osten zu schieben und den Osten stets als Ursprung allen Übels zu erklären.“ Damit wird der „Osten“ zum ewigen Übeltäter, der für alles herhalten muss, was auch im geliebten Westen immerfort schiefgeht.

Ein feuriges Buch, keine Frage. Aber vielleicht genau die Schärfe, die nach 32 Jahren Selbstgerechtigkeit und eitler Bevormundung einfach mal dran ist. Damit die so Selbstgefälligen in ihrer westdeutschen Wehleidigkeit endlich mal aufhören, immerfort zu sagen, wie der Osten und die Ostdeutschen eigentlich sind. Das wissen sie nämlich nicht. Es ist ihr Konstrukt von einer Ecke Deutschlands, von der sie keine Ahnung haben, die ihnen so fremd ist wie die Rückseite des Mondes.

Wobei eben gerade dieses Sprechen über die „Anderen“ vom akuten Machtgefälle erzählt. Oschmann weiß schon sehr genau, wem er da kräftig auf die Füße tritt.

Zeit wurde es, könnte man sagen.

Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, Ullstein, Berlin 2023, 19,99 Euro.

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