Es soll kein Tagebuch sein. Das betont Christian Bobin immer wieder. Aber genau das ist es geworden. Im allerbesten Sinn. Ein Bucherfolg in Frankreich wurde „Autoportrait au radiateur“ 1997 ebenfalls, gerade weil es ein Tagebuch wurde, wie es nur ein Schriftsteller wie Bobin schreiben konnte, dessen Stil durch seine Lakonie besticht. Selbst die simpelsten Details des Alltags werden ihm zum Anreger für Gedanken über die Schönheit und die Vergänglichkeit des Lebens, für diesen unfassbaren Moment, den man nur wahrnimmt, wenn man sich bewusst in die Stille zurückzieht. Und manchmal hilft das auch, mit einem Verlust leben zu lernen.

Denn begonnen hat Bobin sein Tagebuch Monate nach dem Tod seiner Lebensgefährtin Ghislaine Marion, die 1995 starb und der er 1996 das Buch „La plus que vive“ widmete. Doch oft reicht es nicht, so ein Buch über einen geliebten Mitmenschen zu schreiben, den es viel zu früh aus dem Leben gerissen hat. Die Seele braucht sowieso viel länger Zeit. Zeit, in der sie wieder heilen kann und einen neuen Umgang mit dem verlorenen Menschen üben kann. „Zeit heilt alle Wunden“, heißt dazu ein deutsches Sprichwort. Das bei Bobin natürlich nicht auftaucht. Es wäre ihm völlig fremd.

Auch wenn er sich in seinem Haus und seiner Bibliothek nun abkapselt und Tag für Tag versucht, das Leben in dieser Stille zu beschreiben. Das nicht ganz so einsam ist, wie er es manchmal beschreibt. Denn da sind auch noch die Kinder – die Tochter und der Sohn aus Ghislaines erster Ehe. Und die knapp sechsjährige Tochter aus ihre Beziehung, die dem Vater die Fragen stellt, die Kinder einem stellen können, die sich kein X für ein U vormachen lassen.

Zum Beispiel die, ob nur erwachsene Menschen sterben. Was ja eindeutig nicht stimmt. Und so muss sich der trauernde Schriftsteller sagen lassen, dass er nichts verbergen soll, dass er auch so etwas ausprechen muss. Und er notiert es, weil es ihn selbst ja bestätigt in seinem Umgang mit dem Leben und dem Tod.

… dass einem die anderen nichts schuldig sind

„In allem, was mir guttut, finde ich etwas. Keine Begegnung, aus der ich nicht unendlich beschenkt hervorginge …“, schreibt er. Das (fast) tägliche Schreiben zwingt ihn geradezu dazu, die Dinge um sich herum deutlicher wahrzunehmen. Den Reichtum eines Lebens, den man meistens übersieht. Aber er hat den Vorteil, als Schriftsteller selbst über seine Zeit verfügen zu können. Wie ein Kind, merkt er an einer Stelle an, an der er seinen Weg zum Schriftsteller interpretiert als einen Versuch, die Kindheit bewahren zu können.

Was auf die Wahrnehmung des eigenen Daseins auf jeden Fall zutrifft. Gerade in so einer Lebenslage, in der die Gedanken eigentlich immer noch beim verlorenen Menschen sind. Erst recht, wenn man – wie Bobin – eigentlich nur zwischen Küche und Arbeitszimmer pendelt. Manchmal ein Ausflug über die Straße, um frische Blumen zu besorgen – erst Tulpen, deren Vergänglichkeit den Autor besonders bannt. Später Rosen.

„Der Tod ist im Überstürzten zu Hause“, schreibt er im September. „Die Langsamkeit dagegen überrascht, ja, überwältigt ihn. Beide, der hastige ebenso wie der langsame Mensch, sterben, doch der Langsame wird eine weit größere Entfernung zurückgelegt haben als der Hastige.“

Er lässt sich die Zeit, die sich andere Menschen kaum nehmen können. Lässt die Gedanken an sich herankommen, Gedanken, die so gar nicht zu den gewöhnlichen Selbstverständlichkeiten der hastigen Welt zu gehören scheinen.

„Sich daran erinnern, dass einem die anderen nichts schuldig sind“, ist so ein Gedanke. Auf unerwartete Weise tröstlich. Weil er die Tür öffnet, um auch mit dem Verlust umgehen zu können. Denn dann ist alles ein Geschenk. Ein unerwartetes und unverdientes sowieso. Wie eigentlich alles im Leben. Wenn wir glauben, irgendetwas „verdient“ zu haben, machen wir uns schon unglücklich.

Und sehen nicht mehr, dass nichts von dem, was uns glücklich macht, verdient werden muss. Dass es uns einfach so geschenkt wird. Menschen, die ein Stück Leben mit uns teilen, genauso wie das Leuchten der Blumen auf dem Küchentisch oder die bestürzende Direktheit der Kinder.

Der Tanz des Grases

Da reicht es oft einfach, aus dem Fenster zu schauen und sich so simple Dinge zu sagen wie: „Schönes Licht heute. Der Himmel gibt sein Bestes.“

Dann hört auch der Tod auf, ein endgültiges Zerreißen zu sein. So kann er auch mit der toten Geliebten nicht umgehen. Für ihn ist sie nur den Weg weitergegangen. Und eigentlich ist er es, der gestorben ist. Den Schock spürt man an manchen Stellen. „Unmittelbar nach meinem Tod habe ich begonnen zu schreiben“, vermerkt er unter dem 27. November. Schreiben ist sein Leben. In der Einsamkeit ist er glücklich. Aber da auch nur, weil er dem Lebendigen um sich eine intensive Aufmerksamkeit widmet, dem Gras zum Beispiel, das aus lauter Dankbarkeit tanzt im Wind. Den Tulpen mit ihrer „jugendlichen Art, die Welt zu vereinfachen.“

Diese Aufmerksamkeit macht erlebbar, wie sehr letztlich alles, was wir erleben, ein Geschenk ist. Und dass man sich nicht von der Anerkennung anderer abhängig machen darf. „Gefallen zu wollen – das bedeutet, das eigene Leben von denjenigen abhängig zu machen, denen man gefallen will, also jenen infantilen Anteilen in ihnen, die permanent Bestätigung brauchen.“ Ein Problem, das so viele Menschen mit sich herumschleppen. Es ist wie eine Krankheit.

Und manch einer wird beim Lesen gemerkt haben, wie sehr es ihn betrifft. Wie er sein Lebe damit vergeudet, Anerkennung einzuheimsen und zu verlangen. Die es tatsächlich geschenkt gibt, wenn man sich – wie Bobin – als Beschenkter empfinden kann. „Vielleicht glaubt ihr, dass sich hinter der Schönheit der Welt, nachdem ihr sie durchquert habt, nichts verbirgt, ich glaube, dass dort eine größere Fülle denn je uns erwartet“, schreibt er im letzten Eintrag, nachdem er ein Jahr lang fast Tag für Tag seine Gedanken dem Tagebuch anvertraut hat, das kein Tagebuch sein soll. „Ich schreibe kein Tagebuch, sondern einen Roman. Seine Protagonisten sind das Licht, der Schmerz, ein Grashalm, die Freude und einige Päckchen schwarzer Zigaretten.“

Ich friere, ich brenne …

Was erlebt man da also? Vielleicht das, was Menschen tatsächlich erleben können, wenn sie sich nicht allein der Trauer überlassen, sondern sich auch in dieser stillen Einsamkeit des Geschenks bewusst bleiben, das die Begegnung mit einem unerhörten Menschen bedeutete. Ein Geschenk, das nicht einfach wieder einkassiert wird. Denn mancher Eintrag ist wie ein Zwiegespräch mit der Verstorbenen, eine Vergewisserung. Denn etwas bewahrt man für immer.

Dazu gehört auch die gemeinsame Liebe zu Hölderlin. Man bleibt nicht ärmer zurück, sondern beschenkt. Wenn man sich nur diese Zeit für Aufmerksamkeit nimmt – und sich einfach nicht für so wichtig nimmt. Womit Bobin vielen Leserinnen und Lesern aus dem Herzen sprechen dürfte, wenn er zum Beispiel fast am Ende seiner Einträge schreibt: „Dies ist meine Geschichte. Sie ist ganz und gar ereignislos: Ich trete auf und singe. Ich friere, ich brenne, bisweilen von einem Tag auf den anderen und beginne wieder zu singen. Ich bin banal, unwichtig, einmalig.“

Jeder Tag ist ein Geschenk. Jede Blume. Jeder Mensch. Am Ende ist es wahrscheinlich wirklich die Dankbarkeit, die bleibt. Für alles. Jeden Moment, den man mit allen Sinnen erlebt hat. Und besonders die Menschen, die einen ganz bedingungslos ein Stück Wegs begleitet haben.

Da erstaunt schon, dass dieses Buch so lange gebraucht hat, um den Weg ins Deutsche zu finden. Übersetzt hat es Stefanie Golisch. Erschienen ist es 1997 in Paris. Christian Bobin ist 2022 gestorben. Auch für die Franzosen zu schnell, die ihm noch 2023 – ein Jahr nach seinem Tod – den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis, für sein Lebenswerk verliehen. Was aber eben auch davon erzählt, wie seine Bücher nachwirken und teilweise erst mit der Zeit ihre tröstliche Kraft entfalten.

Der im Titel erwähnte Heizkörper ist eigentlich nicht so wichtig. Denn viel öfter sieht man den Schreibenden an seinem Schreibtisch sitzen, wo er ohne viel Brimborium aufschreibt, was ihn gerade zum Nachdenken bringt. All diese kleinen Eindrücke, die sich beim Festhalten dann als unser Leben entpuppen. Wir müssten uns nur die Zeit dafür nehmen. Und diese ganz Bobinsche Aufmerksamkeit für den still leuchtenden Moment.

Christian Bobin „Selbstporträt am Heizkörper“ Sisifo im Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2025, 19,95 Euro.

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