Was wissen wir eigentlich vom Leben unserer Eltern? Was erzählen sie uns nicht? Was verschließen sie lieber in alten Tagebüchern und Fotoalben und verwischen die Spuren? So eine Geschichte ist es, die der Schweizer Autor Karl-Gustav Ruch in diesem Roman erzählt. Dass Lina, Henriks Mutter, nicht wirklich glücklich ist in ihrem Leben in der Schweiz, das weiß Henrik eigentlich schon, als er die Beerdigung organisiert. Denn beerdigt werden wollte Lina auch nicht. Und dann landen auch noch seltsame Grüße am Grab.

Was Henrik endgültig klarmacht, dass er den wichtigsten Teil im Leben seiner Mutter gar nicht kennt. Das machen ihm dann auch ihre hinterlassenen Tagebücher klar, die Henrik schnell eines entdecken lassen: Dass Lina ganz und gar nicht die Tochter der schwedischen Gießereifamilie war, als die sie amtlich eingetragen war. Klare Sache: Da muss er seinen Rucksack packen und nach Schweden fahren, an all die Orte, die zu Linas Kindheit gehören. Und die Menschen besuchen, die etwas erzählen können zu Linas Leben vor ihrer Hochzeit mit dem langweiligen Forscher aus der Schweiz.

So wird der Roman zur Rekonstruktion eines ganzen Lebens mit seinen Träumen, Unmöglichkeiten und der Sehnsucht danach, dass es alles ganz anders hätte kommen können. Doch die Reise geht zurück in eine Zeit, in der Frauen vieles von dem, was heute als selbstverständlich gilt, noch nicht möglich war. Wobei die Familie, in die Lina als Kind aufgenommen wurde, noch ein ganz spezieller Fall ist, fast so, als stammte sie noch direkt aus einer Geschichte von Ingmar Bergman.

Mit einer Adoptivmutter, die das Kind nicht nur zeitlebens spüren ließ, dass da etwas Ungesagtes war über seine Herkunft. Und die nie schaffte, zu Lina tatsächlich ein herzliches Verhältnis herzustellen. Ganz anders als die im Haus beschäftigte Nanny oder die geheimnisvolle Tante, die auf frühen Fotografien noch zu sehen ist – und dann auf einmal verschwindet.

Spurensuche in Schweden

Und zumindest das geben Linas Tagebücher schon als Auskunft: Wie sie als Jugendliche auf einmal entdeckte, dass sie ein Adoptivkind war. Und wie sie alles daran setzte, ihre leiblichen Eltern zu finden. Was ihr auch gelang. Was sich aber – je länger Henrik nachforscht – als Beginn einer nächsten Geschichte entpuppt, die noch viel vertrackter ist, weil darin ein geheimnisvoller Liebhaber auftaucht, der in Linas Leben eine prägende Rolle spielen sollte. Nur, dass sein Name nicht wirklich greifbar ist.

Stattdessen findet Henrik in Linas Unterlagen ein zerrissenes Foto, das einen Mann im Anzug eines Bademeisters zeigt, und – im abgerissenen Teil des Fotos – eine junge Frau, die Henrik nicht ganz grundlos an seine Mutter erinnert. Auch wenn es – wie er bald feststellt – Linas Mutter ist.

Seine Reise nach Schweden wird tatsächlich zu einer Reise in die Vergangenheit. Aber auch zu einem Korrektiv zu dem, was er aus Linas Tagebüchern weiß. Es ist so menschlich – aber wir vergessen es so leicht: Dass unsere Sicht auf das, was wir erleben, vielleicht tatsächlich nur unsere Sicht ist, geprägt durch unsere Vorurteile, Gefühle, Erwartungen. Verzerrt durch die Geschichten, die wir uns davon erzählen. Während die Menschen, die das alles mit uns erlebten, es ganz anders erinnern.

Sich an andere Vorgänge erinnern, auch an Vieles, was wir gar nicht wahrgenommen oder verdrängt haben. Das ist eigentlich das Spannende an Henriks Reise in die Vergangenheit seiner Mutter: Dass er nicht nur seine eigenen Erinnerungen an die Frau, die ihm immer ein wenig fremd geblieben ist, nun auf einmal durch eine komplett andere Lebensgeschichte ergänzen muss. Und dass auch Linas eigene Aufzeichnungen korrigiert werden durch die Dinge, die ihre schwedischen Adoptivgeschwister erinnern.

Linas Baum

Natürlich sieht er auch die Birke, unter der Lina ihre Asche in den Wind gestreut haben wollte. Und das alte Haus der Eisengießunternehmerfamilie, das noch genauso aussieht wie zu Linas Zeit. Auch wenn der Zahn der Zeit daran nagt. Und irgendwie scheint Linas Kindheit doch nicht so grau gewesen zu sein, wie es ihre Tagebücher vermuten ließen, war sie auch für die alt gewordene Frau ein Ort der Sehnsucht.

So wie ihre vertrackte Liebe zu dem mysteriösen Lars, der im Lauf von Henriks Recherchen immer deutlicher Konturen annimmt – genauso wie der Adoptivvater Gustav, der immer dann zur Stelle ist, wenn Linas Leben scheinbar aus der Bahn zu geraten scheint. Oder einfach die Konventionen ihrer Zeit und ihrer Adoptivfamilie sprengt.

Aber gleichzeitig ist Henriks Erkundung ein spätes Kennenlernen jener Frau, die seine Mutter war. Denn wer sind wir eigentlich, wenn wir alt sind? Was ist von unseren Träumen geblieben? Von dem, was wir in unserer Jugend einmal leben wollten? Oder haben wir es gelebt? Oder konnten es nicht leben, weil wir in den entscheidenden Momenten zurückgeschreckt sind? Oder die anderen nicht den Mut hatten.

Aber es ist halt eine Geschichte aus einem Europa Mitte des 20. Jahrhunderts, das noch fest in alten Konventionen feststeckte. Und manchmal für Frauen wie Lina nur noch der Ausweg blieb, in die Fremde zu heiraten, um Abstand zu bekommen. Vielleicht auch der Strenge zu entkommen. Oder einfach nur den ganzen Gefühlen, die einem das Leben so bedrückend machen können, dass man einfach nur noch wegwill. Und erst nach und nach merkt, dass die Flucht keine wirkliche Lösung war. Jedenfalls nicht für Lina, die erst spät, als der Tod sich langsam als letzte Lösung anmeldete, wieder lächeln lernte.

Henriks Geschichte

Wobei Henrik das alles auch auf sich nimmt, weil er selbst noch eine offene Rechnung hatte mit Lina. Nur dass er ihr das nicht mehr sagen konnte bei Lebzeiten. „Lina, als ich bei dir ankam, war deine Seele schon ausgehaucht. Ich habe mich nicht von dir verabschiedet, bin zu spät gekommen, vier Stunden zu spät, ich habe deinen Abschied verpasst“, erzählt Henrik in Gedanken mit der Verstorbenen. „Meine Ausrede, dass das Flugzeug Verspätung hatte, lasse ich nicht gelten. Ich habe deinen Tod nie akzeptiert. Ich kann ihn nicht annehmen, bis ich mich nicht von dir verabschiedet habe.“

Man überliest es glatt, dass es eigentlich die ganze Zeit Henriks Geschichte ist, die Geschichte eines Sohnes, der ein Leben lang mit seiner Mutter nie über die wirklich wichtigen Dinge reden konnte. Schon gar nicht über ihre Träume und ihre Vergangenheit. Dadurch, dass er nun ihr Leben nach und nach wieder zusammenfügt, wird ihm Vieles klarer. Auch warum sie sich so verschlossen hat, auch den eigenen Kindern gegenüber.

Und da dürfte die Geschichte so manche Leser und Leserinnen berühren, weil das eben oft passiert. Aus verschiedensten Gründen. Und so schwer greifbar ist, wenn die Eltern schweigen und auch ihre Gefühle einkapseln. Und da bleibt dann – im besten Fall – nur noch die späte Suche nach den Menschen, die einem ein Leben lang dennoch fremd geblieben sind.

Hilft das Henrik irgendwie? Oder bleibt er mit all dem, was er findet und hört, trotzdem allein? Vielleicht nicht. Denn eins hat er ja auf jeden Fall gefunden: Die Welt, in der seine Mutter aufwuchs. Und die dadurch auch ein Teil seiner Welt wird. Und eigentlich auch immer war.

Nun hat er auf Vieles eine Antwort, worüber er mit Lina niemals sprechen konnte. Etliche Gespräche hat er gleich auf Tonband aufgenommen, mit dem Versprechen, daraus einen (fiktiven) Roman zu machen. Aber wie viel ist an so einem Roman dann fiktiv? Und wie viel ist tatsächlich passiert und drängt darauf, endlich erzählt zu werden, weil es erzählt werden muss? Wer weiß das schon?

Aber manchmal steht eben eine Frau namens Lotta am Grab. Und legt die Spur in ein ganzes Knäuel alter Geschichten. Bei denen man dann schon auseinanderfitzen muss, wer jetzt eigentlich wessen Kind ist. Und was Menschen dazu bringt, sich ihre Lebensgeschichten zu erfinden.

Karl-Gustav Ruch „Linas Baum“ Sisifo im Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2024, 19,95 Euro.

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