Die sieben Todsünden aus dem mittelalterlichen Ermahnungsapparat der katholischen Kirche kennt eigentlich jeder. Denn sie haben bis heute überlebt. Als Moralvorstellungen, alberne Kalendersprüche, aber auch als wirksames Instrument der politischen Manipulation. Der Hirzel Verlag hat eine kleine Buchserie draus gemacht, in der die Autor/-innen sich einmal intensiver mit jeder einzelnen „Sünde“ beschäftigen.

Wobei eigentlich selbst ein Buch „Sünde“ überfällig ist. Denn kaum ein anderes Wort zeigt so deutlich, wie tief sich die kirchliche Moral in unseren Sprachgebrauch eingefressen hat. Und wie sie die Sicht auf die Widersprüchlichkeit unseres Lebens verstellt. Denn ein Aspekt der – auch gern mal neu gemixten – „Todsünden“ ist ja, dass sie menschliches Leben verabsolutieren und dabei suggerieren, dass man den Menschen nur die „Sünden“ austreiben muss, dann bekommt man ganz automatisch eine heile Welt, in der die Menschen nur noch Liebe und Freude kennen.

Aber das war schon damals ein Fehler, als verbiesterte Bischöfe daran gingen, den Schafen in ihrer Herde eine Moral zu predigen, die nicht lebbar ist und „Sünden“ quasi ganz automatisch produziert. Und damit schlechtes Gewissen, Scham und Reue – all die schönen Dinge, mit denen Herrschende ihre Macht über die Köpfe ausüben.

Und das ist schon lange nicht mehr nur Mittelalter. So funktioniert (konservative) Politik bis heute – und nimmt sehr hässliche Formen an, wenn man an den Puritanismus der „White Supremacy“ in Amerika denkt. Nur so als Beispiel. Denn aus derselben Klamottenkiste bedienen sich auch die konservativen und erzkonservativen Populisten in Deutschland.

Sünden und Schein-Heiligkeit

„Völlerei“ und „Gier“ hat die Serie aus dem Hirzel Verlag schon behandelt. Wobei die Gier nicht wirklich zum klassischen Kanon der Todsünden gehört. Auch „Lust“ und „Wut“ gehören nicht dazu. Aber schon die Anlage der Reihe macht sichtbar, wie schmal und verbissen der alte Kirchenkanon ist. Und wie er das, was die alten Kirchenlehrer da als „Sünde“ definiert haben, regelrecht abschneidet von der Fülle des menschlichen Lebens. Denn hinter jeder „Sünde“ existiert nun einmal auch das, was die verbissenen Moralapostel verachtet, gefürchtet und gehasst haben: die Lust am Leben.

Dass das Christentum zu einer lust- und lebensfeindlichen Religion werden würde, hat bestimmt auch Jesus nicht so gewollt. Denn wer so eine rigide Moral entwickelt, wird zwangsläufig doppelzüngig und schein-heilig. Wie jeder Blick in die tatsächliche Lebensrealität diverser Priester, Politiker und puritanischer Säulenheiliger zeigt. Öffentlich predigen sie Wasser, heimlich saufen sie Wein, verprügeln ihre Frauen oder treiben sich auf Porno-Seiten herum.

Und trotzdem ändern sie nichts an ihrer scheinheiligen Argumentation. Höchste Zeit also, ihnen die Argumente zu nehmen. Und eines der schlimmsten ist das Argument, Menschen wären selber schuld an ihrer Armut, weil sie nicht fleißig genug wären, sich nicht genug anstrengen würden und es sich in der „sozialen Hängematte“ nur gemütlich machen wollen. Mit solchen Argumenten wurden die Hartz-Gesetze aus dem Boden gestampft. Und selbst sozialdemokratische Politiker waren sich nicht zu schade, den alten Paulus zu zitieren, der in seinem Brief an die Thessalonicher schrieb: „Denn schon als wir bei euch waren, geboten wir euch: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“

Wenn Arbeit zur einzigen Tugend wird

Natürlich kommt auch Bernd Imgrund da hin, nachdem er die 3.000 Jahre lange Diskussionsgeschichte um die Acedia skizziert hat, die man eben nicht nur mit Faulheit übersetzen kann, sondern auch mit Feigheit, Ignoranz, Überdruss, Trägheit des Herzens, wie Wikipedia feststellt. Die Unlust zum Arbeiten hat also viele Quellen und Gründe. Und etliche davon haben ganz simple psychische Ursachen – man denke nur an die moderne Diskussion um den Burnout.

Der oft die direkte Folge eines (protestantischen) Arbeitsethos ist, das Arbeit zur Tugend aller Tugenden erklärt und viel Arbeit geradezu zum Standesdünkel, zur Pose der ach so unabkömmlichen, immerfort beschäftigten Sklaven einer Arbeitsmoral, die Arbeit völlig entgrenzt.

Da sitzen sie dann mit ihren Laptops in der Bahn, sind fortwährend dabei, auf ihre Smartphones einzuhämmern, müssen mit schweren Dienstwagen immerfort über Autobahnen brettern, von Terminen gehetzt, die ihre persönliche Anwesenheit an den verschiedensten Orten erfordern. Sie fühlen sich wichtig. Und ihr Businessanzug verrät auch gleich noch, das ihnen das Ranklotzen auch richtig viel Geld einbringt.

Wie die protestantische Arbeitsmoral (und das Sich-Verdienen des Himmelreiches) am Ende aus den lutherschen „guten Werken“ die Arroganz des puren Geldverdienens gemacht hat, auch das erzählt Imgrund, der mit seinem Buch auch zeigt, welch vielfältige Literatur in 3.000 Jahren um die Faulheit entstanden ist. Angefangen natürlich bei den alten Griechen, die in diesem Sinne reiche Griechen waren, die gar nicht arbeiten mussten.

Das übersieht man gern, wenn man die alten Diskussionen über Hedonismus, Stoizismus, vita activa und vita contemplativa liest. Man hat es jedes Mal mit Männern zu tun, die nicht arbeiten mussten. Denn die Arbeit erledigten die Sklaven. Und entsprechend wurde die körperliche Arbeit von den heute so beliebten griechischen Geistesgrößen auch verachtet. Oder zumindest mit einem gewissen Unverständnis betrachtet, wenn dann doch mal einer von ihnen seinen Lebensunterhalt mit Arbeit verdiente.

Im Schweiße deines Angesichts!

Aber einen richtigen Knacks bekam das Verständnis von Arbeit erst durch die Bibel und das dort niedergeschriebene Urteil, das Gott über Adam und Eva nach ihrem – na hoppla – Sündenfall aussprach: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, verhängt er als Urteilsspruch über Adam. Und so prägt sich bis heute die (christliche) Sicht auf Arbeit. Nicht als Hort der Freude, der Kreativität, der Selbstverwirklichung, des Gemeinsinns, sondern als Plackerei. Ergebnis waren dann die neuzeitlichen Arbeits- und Zuchthäuser, in denen Arbeit tatsächlich als Strafe über Menschen verhängt wurde, denen die wohlhabenden Richter Müßiggang und Asozialität vorwarfen, auch wenn sie nur dummerweise obdach- und arbeitslos waren.

Der Blick auf die alten Griechen macht auch deutlich, dass sich die Lebenswelten der Reichen und Herrschenden immer schon gravierend von denen der Menschen unterschieden, die ihr Brot „im Schweiße ihres Angesichts“ verdienen mussten (und so nebenbei die Reichen und Selbstgerechten mit durchfütterten – bis heute). Die Bauern, Handwerker und Dienstleute hatten gar keine Frei-Zeit, in der sie mal so richtig faul sein konnten. Von Müßiggang konnten sie nicht mal träumen.

Dass überhaupt von Frei-Zeit die Rede ist, hat mit der modernen industriellen Entwicklung zu tun, stellt Imgrund fest. Erst sie schuf die Trennung zwischen Arbeit (in der Fabrik) und einer Zeit danach, in der sich die Ausgebeuteten dann entweder von der Arbeit oder gleich wieder für die Arbeit erholen konnten. Da war bei 12- und 16-Stunden-Arbeitstagen von einem Schlaraffendasein noch längst keine Rede.

Oder von Muße, Müßiggang oder gar Faulenzen als Kunst. Das sind alles Erfindungen einer wohlhabenden Oberschicht, die sich dann immer neue Dinge ausdachten, mit denen sie die verfügbare Zeit möglichst edel verbringen konnte. Bälle, Festschmäuse, Jagden, Hofmusiken usw. waren allesamt Erfindungen der herrschenden Müßiggänger, die sich sonst sehr bemühten, den Untertanen beizubringen, wie sehr ihre Arbeit und ihre Ungehobeltheit verachtet wurde.

Leben wie die Sklavenhalter

Auch das steckt noch immer in den heute so üblich gewordenen Vokabeln wie Wachstum, Produktivität, Effizienz. Es ist der alte Herrenblick auf die Verfügbarkeit der Arbeitskraft der Leute, die ihre Arbeitskraft (und ihre Lebenszeit) verkaufen müssen, wenn sie überleben wollen. Der alte Blick der Feudalherren, die sich der Klassenunterschiede viel bewusster sind als die Malocher, die sich auch noch im schäbigsten Job verdingen, um irgendwie zu Geld zu kommen. Jobs, in die die Zeituhr (man denke nur an die Liefersklaven von heute) schon eingebaut ist. Wer die abgeforderte Leistung nicht bringt, gilt als faul, als „Minderleister“. Und wird gefeuert.

Faulheit also als Disziplinierungsvokabel.

Was nicht ausschließt, dass in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Menschen in so gut bezahlte Beschäftigungsverhältnisse gekommen sind, dass sie auf einmal dieselben Probleme haben, mit denen sich Jahrtausende lang nur Sklavenhalter und Feudalherren herumschlagen mussten: Auf einmal haben sie viel Zeit für sich – und können nichts damit anfangen. Auf einmal tauchen Floskeln auf wie „Zeit totschlagen“. Und da viele auch noch viel Geld haben, mit dem sie nichts Nützliches anfangen können, geben sie dieses genauso gedankenlos aus für all die Dinge, die kein Mensch wirklich braucht.

Und die auch nicht glücklich machen. Nicht grundlos merkt Bernd Imgrund an, wie sehr das Leben vieler Wohlstandsbürger heute dem Leben der griechischen Sklavenhalter ähnelt – bis hin zur gehorsamst an die Haustür gebrachten Speise. Man lässt sich liefern und genießt es, dass man hunderte (unsichtbare) Sklaven für sich arbeiten lässt.

Und da nimmt Imgrunds Ausflug in die Geschichte der Faulheit eine ganz besondere Wendung, die aufhorchen lässt. „Faulheit tötet“, überschrieb er dieses Kapitel und zitiert einen der treffendsten Sätze aus Immanuel Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung“: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen zeitlebens unmündig bleibt. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“

Hier darf man wirklich eine kleine Denkpause einlegen.

Es lohnt sich.

Nach uns die Sintflut

Denn diese Haltung ist für viele unserer heutigen Probleme verantwortlich. Oder mit Imgrunds Worten: „Kants Zitat enthält bereits die entscheidende Vokabel: Die heutzutage übelste Facette im Kosmos der Faulheit ist die Bequemlichkeit. Viele unserer globalen Probleme, vor allem die drohende Klimakatastrophe, hängen eng mit der menschlichen Bequemlichkeit zusammen.“ Und mit unserer Vorstellung von Wohlstand, den viele als verdient und gottgegeben verstehen. Dabei ist es nur seine Bequemlichkeit, die sie nicht opfern wollen. Motto: „Nach uns die Sintflut.“

Womit die Falle sichtbar wird, die die alten Griechen noch nicht sahen, weil Müßiggang nur ein Thema für eine winzige Minderheit war. Was aber, wenn das rücksichtslose Verprassen der Welt zum Lebensstandard ganzer Nationen wird und jeder einzelne von sich glaubt, er hätte mit der großen Zerstörung rein gar nichts zu tun? Dann greift schlicht das Gesetz der großen Zahl. Und eben auch eine Haltung, die man als Verweigerung, Ignoranz, Überdruss und „Trägheit des Herzens“ überall beobachten kann.

Man kennt kein Bedauern mehr mit jenen, die unter den Folgen dieses Lebensstils zu leiden haben, schottet sich lieber ab, stellt überall Schilder auf: „Zutritt verboten!“ Und schwadroniert lieber von „illegaler Einwanderung“, weil man glaubt, man habe sich diesen Wohlstand tatsächlich verdient. Und alles habe – bitteschön – billig zu sein und just-in-time geliefert.

Nur mehren sich gleichzeitig die Zeichen, dass eben diese so bequem gewordenen Menschen sich immer verlorener fühlen im Meer der erfüllten Wünsche. Denn die Dinge, mit denen man sich das Haus vollstopft, machen nicht glücklich, erlösen uns nicht von all den Fragen, die auftauchen, wenn die Zeit nicht durch eine sinnvolle Arbeit getaktet und erfüllt ist.

Dinge zum Zeit-Totschlagen

Das sind die beiden Hauptprobleme in unserem Umgang mit Arbeit, die ja irgendwie wie der Gegenspieler der Faulheit aufscheint: Viele werten sie nach wie vor ab und halten es sogar in den geisteszermürbenden Bullshit-Jobs aus, verrichten für viel Geld Dinge, die kein Mensch braucht oder die sogar schädlich sind.

Und mit der freien Zeit nach der Arbeit können sie nichts Sinnvolles anfangen, weil sie nie gelernt haben, ihr eigenes Leben mit Sinn zu erfüllen. Also wird die Zeit wieder mit Netflix-Serien, Online-Spielen, Shopping und all den anderen Dingen totgeschlagen, die die moderne Zivilisation genau dafür erfunden hat.

Was Imgrund auf Ernst Bloch und G. K. Chesterton kommen lässt: „Bloch und Chesterton meinen dasselbe: Nichtstun ist eine hohe Kunst, das muss man können.“

Denn dass so viele Menschen meinen, sie müssten die ihnen verfügbare freie Zeit auch noch mit Dingen füllen, die irgendwie nach Geschäftigkeit und Verfügbarkeit aussehen, hat nun einmal auch damit zu tun, dass die meisten nie gelernt haben, sich wirklich einmal hängenzulassen, das Leben und die Stille zu genießen und einmal niemandem irgendwas beweisen zu müssen.

Denn das ist die grausamste Seite des puritanischen Arbeitsverständnisses – dass es selbst in die Köpfe der schwer schuftenden Malocher den Gedanken pflanzt, sie dürften keine Minute ungenutzt verstreichen lassen. Da schaut dann auch noch der schein-beschäftigte Mensch voller Verachtung auf den Nachbarn, der sich einfach mal zufrieden auf die Wiese legt und den Moment genießt. Der das Leben ist.

Das Recht auf Faulheit

Es ist kein kluger Grabspruch, wenn da steht: „Sein Leben war nichts als Arbeit.“

Denn das heißt nun einmal: Er hat nicht gelebt, sondern immer nur geschuftet. Und wahrscheinlich nie herausgefunden, wozu er wirklich auf der Welt war. Imgrund benennt dieses kleine, aber unerbittliche Problem: Arbeit mag anstrengend sein, ist aber deshalb schön bequem, weil sie meist festen, von anderen festgelegten Regeln folgt. „Die Freizeit hingegen kann massive Probleme bereiten. Weil man dort sein eigener Steuermann ist. Tu, was dir gefällt, lautet ein flotter Spruch. Aber was gefällt mir?“

Dass selbst Karl Marx mit seinem kapitalistischen Arbeitsethos massiven Widerspruch in der eigenen Familie bekam, merkt Imgrund sichtlich mit Freude an, wenn er immer wieder Paul Lafargue und dessen Buch „Das Recht auf Faulheit“ ins Spiel bringt. Wer über Faulheit nicht mehr in den Stereotypen der alten ostelbischen Landjunker nachdenkt, denkt auch über Arbeit anders nach.

Denn wenn Arbeit keine Erholungspausen kennt und keine sinnstiftenden Momente der Entspannung, wird auch die freie Zeit eher mit falscher Geschäftigkeit erfüllt. Dann erfasst die Arbeit auch die Zeit danach mit „nervöser Gereiztheit, Übermüdung und schlechter Verdauung“. Und der so wirksamen Verachtung für das Nichtstun, die Menschen zu Hamstern im Laufrad macht.

Doch wer den Genuss des Nichtstuns kennt, das, was auch schon die reichen Griechen Kontemplation nannten, weiß, dass einem da die besten Einfälle kommen und man die Welt und das Leben viel intensiver spürt. Aber wer gesteht sich das noch zu in einer Gesellschaft, die so verachtungsvoll auf „Minderleister“, „Sozialschmarotzer“ und andere Faulpelze schaut, die „unsere Steuern verprassen“ und in der „sozialen Hängematte liegen“?

So macht man allen ein ganz schlechtes Gewissen. Und kann Gesetze durchsetzen, die soziale Härte und Rücksichtlosigkeit als Wohltat verkaufen. Und Menschen, die sich dem verweigern, zu Asozialen und Terroristen erklärt. Erstaunlich, wie bei einer scheinbar so kleinen „Sünde“ die Seele einer ganzen verbissenen Gesellschaft zum Vorschein kommt.

Bernd Imgrund „Faul! Vom Nutzen des Nichtstuns“, Hirzel Verlag, Stuttgart 2023, 18 Euro

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar