Am 22. April jährt sich der Geburtstag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant zum 300. Mal. Die Buchhandlungen füllen sich mit Kant-Biografien und Erklärbüchern zu seinen philosophischen Arbeiten, mit denen die moderne Philosophie begann. Eine Gelegenheit, die sich Propyläen nicht entgehen ließ und zwei der versiertesten Kant-Kenner zu einem Gespräch einlud, das am 30. und 31. Mai 2023 im Ullstein-Haus in Berlin stattfand: Omri Boehm und Daniel Kehlmann.

Omri Boehm, Philosophieprofessor an der New School for Social Research in New York, hat gerade erst 2022 die noch lesende Gemeinschaft mit seinem Buch „Radikaler Universalismus“ erfreut, ein Buch ganz im Sinne Kants und seiner bis heute revolutionären Gedanken zum aufgeklärten Denken. Ein Buch, das eben deshalb auch daran erinnert, wie viel in unseren heutigen Zeiten mit Fakenews. Identitäts-Denken und Populismus schiefläuft.

Als hätte sich im gewöhnlichen Verhalten der Menschen bis heute nichts geändert. Für eben dieses Buch wird Boehm in diesem Jahr auch mit dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Daniel Kehlmann kennen die Leserinnen und Leser unter anderem als Autor von „Die Vermessung der Welt“, einem Roman, in dem er auch den alten Kant auftreten lässt in einer fiktiven Szene, in der der Mathematiker Carl Friedrich Gauß den bewunderten Professor in Königsberg besucht, um ihm zu sagen, dass seine Sicht auf rationale Welterklärung à la Newton wahrscheinlich der nichteuklidischen Geometrie nicht standhalten wir.

Aber vielleicht hätte ihm Kant sogar zugestimmt, denn keiner der Berühmten vor ihm – nicht Leibniz, nicht Descartes, nicht Spinoza – hat sich so intensiv damit beschäftigt wie Kant, wie eigentlich unser Erkennen der Welt funktioniert. Und warum wir die Dinge an sich überhaupt nicht wahrnehmen können. Auch nicht mit wissenschaftlichen Methoden. Was zu Kants Zeiten durchaus noch ein Ärgernis war für einige Aufklärer, die ja nun gerade die rationale Erkennbarkeit der Welt zuweilen wie ein Mantra vor sich her trugen.

Was ist der Mensch?

Nach Gauß hat sich das gründlich geändert. Von Heisenberg, Planck und Einstein ganz zu schweigen. Die moderne Wissenschaft ist sich dessen nur zu bewusst, dass alles Forschen stets nur zu besseren, stimmigeren Modellen dessen führt, was die Welt wirklich ist. Wir machen uns Bilder von der Welt. Das wusste schon Platon.

Und natürlich kommen Boehm und Kehlmann in ihrem zwei Tage dauernden Gespräch auch auf diese Phänomene zu sprechen. Und nicht nur „Die Vermessung der Welt“ macht Kehlmann für Boehm zum idealen Gesprächspartner. Denn Kehlmann hat an der Universität Wien nicht nur Philosophie studiert, sondern auch eine Dissertation über den Begriff des Erhabenen in Kants Ästhetik begonnen. Die er aber nie beendet hat, wie er schreibt, weil das Schreiben von Romanen fortan seine Zeit beanspruchte.

Aber er ist mit Omri Boehm auf Augenhöhe. Sie spielen sich die Bälle zu. Aber nicht wie die Narren des Entertainments im Fernsehen, indem sie immerzu Recht behalten wollen und die Diskussionsrunde mit Besserwisserei übertrumpfen wollen.

Wenn man den beiden so beim Lesen zuhört, dann merkt man, wie herrlich und ergiebig Gespräche sein können, wenn Gesprächspartner einander achten, ihre eigenen Unsicherheiten und Zweifel zugeben und versuchen, mit dem Gegenüber gemeinsam die harten Nüsse zu knacken. Oder überhaupt zu verstehen, warum Kants Sätze zuweilen so radikal klingen. Weit über das übliche menschliche Kompromissdenken hinaus.

Dass da Misanthropen wie Nietzsche mit ihrer ganz und gar nicht humanistischen Weltsicht ihre Kritik deutlichst abbekommen, ist nur konsequent. Kaum ein anderer Philosoph steht so rigoros für die Abkehr von Kants Denken wie eben Nietzsche. „Humanitär oder Was ist der Mensch?“ ist eins jener Kapitel betitelt, in denen sich Boehm und Kehlmann ganz besonders dem Kern Kantschen Denkens widmen, seinem Universalismus, der immer die Frage stellt: Wann verhalte ich mich wirklich als Mensch? Und wann bin ich wirklich frei?

Was ist Freiheit?

„Wenn wir im Verhältnis zum bestirnten Himmel nicht mehr sind als Nietzsches ‘hochmütigste und verlogenste Minute der ‘Weltgeschichte”, ‚in der kluge Tiere das Erkennen erfanden‘, dann bleibt die kantische Definition menschlicher Personen eine leere Menge“, sagt Boehm. „Der Universalismus ist begraben, und was wir dann noch haben, sind kluge Tiere, die nicht frei sind und aus diesem Grund auf jeden Fall anhand ihrer konkreten Identitäten, Interessen, gesellschaftlichen Positionen definiert wefrden können – oder was auch immer.“

So entstehen Populismus, Identitätspolitik, Nationalismus, Rassismus usw. All die Ideologien, die Menschen nach Äußerlichkeiten sortieren und in (verfeindete) Gruppen spalten. Der Widerspruch wird zur Grundlage des Dazugehörens und des Nicht-Dazugehörens. Mit aufgeklärtem Denken hat das nichts mehr zu tun. Wobei Boehm und Kehlmann ihren Professor aus Königsberg auch nicht schonen. Die großen Diskussionen um den Rassismus bei Kant sind ja alle noch frisch.

Nur dass diese Diskussionen fast nie berücksichtigen, dass ausgerechnet diese rassistischen Passagen dem zentralen Kern Kantschen Denkens massiv widersprechen. Dem Kategorischen Imperativ sowieso, auf den sich sogar Adolf Eichmann bezog, wohl das typischste Beispiel dafür, dass ein Beamter des Bösen nicht mal begriffen hat, worum es beim Kategorischen Imperativ eigentlich geht.

Denn genau für die gedankenlose Ausführung von Befehlen steht er eben nicht. Im Gegenteil: Er steht für die Pflicht, die uns erst zum Menschen macht, der Pflicht, unser Handeln nach dem Guten hin auszurichten. Worauf Boehm und Kehlmann im Kapitel „Das Recht in die eigenen Hände nehmen“ sehr ausführlich zu sprechen kommen. Nachdem sie sich mit Gott und den Kantschen Widerlegungen der Gottesbeweise genauso beschäftigt haben wie mit der Autorität Gottes und des Staates und der Frage, ob man – als Mensch – gezwungen ist, diese Autoritäten anzuerkennen.

Immerhin ein ganz moderner Spagat zwischen Einhalten der menschgemachten staatlichen Gesetze (die auch ungerecht und falsch sein können) und dem, was uns einen Maßstab für menschliches Handeln gibt, geben sollte.

War Kant Anarchist?

Doch „Rechtsstaatlichkeit und positives Rceht“ sind nicht dasselbe, stellt Boehm fest. „Wie schon gesagt, hat der Staat streng genommen überhaupt keine Autorität, so wenig wie Gott.“ Das vergessen Innenminister, Polizeipräsidenten und politische Hardliner nur zu gern. Die Autorität liegt ganz allein beim kategorischen Imperativ, der uns eine Richtschnur gibt, wie wir uns als Mensch und gegenüber Menschen zu verhalten haben. Oder noch kantischer ausgedrückt: Wie wir im Handeln unter dem kategorischen Imperativ erst zu Menschen werden.

Was zwangsläufig den Begriff der Freiheit tangiert und den des Anarchismus, worüber die beiden natürlich auch ausführlich und lustvoll reden. Es klingt ja so schön: Kant ein Anarchist? Natürlich nicht.

Aber wenn man mit Boehm und Kehlmann seinen Freiheitsbegriff unter die Lupe nimmt, merkt man, dass Kant das ganze Gerede vom völlig freien Individuum, das heute auch das ganze liberale und neoliberale Denken (und die kapitalistische Rücksichtslosigkeit) besetzt, ad absurdum setzt und zeigt, dass menschliche Freiheit ohne eine Verpflichtung zu menschlichem Handeln nicht denkbar ist. Erst die Pflicht schafft die Grundlage für die menschliche Freiheit. Und zwar die Pflicht, die sich aus dem Kategorischen Imperativ ergibt.

Und so hinterfragen die beiden immer wieder unser scheinbar so gern eingeübtes Schwarz-Weiß-Denken, das oft nichts anderes ist als das Wiederkäuen angelernter Vorurteile. Die beiden spreche sogar von einem Leben auf Autopilot, in dem die Menschen ihr eigenes Wissen und Denken nicht (mehr) infrage stellen. Und dabei gar nicht merken, dass sie tatsächlich unfrei handeln. Sich ihrer selbstverschuldeten Zwänge gar nicht mehr bewusst. Mehrere Kapitel widmen die beiden dem Kantschen Freiheitsbegriff, der ohne Verantwortung nicht denkbar ist – und der so nebenbei einem allmächtigen Gott, der alles vorherbestimmt hat, den Boden entzieht.

Die selbstverschuldeten Unmündigkeiten

„Die Freiheit offenbart sich uns in der moralischen Verantwortung – in unserer Verpflichtung, so zu handeln, wie wir sollten, und dem Eingeständnis, dass die Welt so, wie sie ist, nicht sein sollte“, sagt Boehm. Womit der große geniale Leibniz mit der „besten aller Welten“ aus dem Rennen ist. Denn genau hier wird das moralische Denken erst wirksam: Weil die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, sind wir als Menschen in der Lage, menschlich zu handeln. Was bei Kant geradezu Grundbedingung für menschliche Handeln ist.

Und auf einmal merkt man, was für ein moderner Denker Kant ist und dass sein Denken überhaupt noch nicht abgegolten ist. Und schon gar nicht Allgemeingut. Die meisten Menschen versuchen nicht einmal, sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, den Kategorischen Imperativ also tatsächlich zur Maxime ihres Lebens zu machen. Lieber rennen sie Büttenrednern, Gurus und Verschwörungstheoretikern hinterher und definieren sich über die Meute, zu der sie gehören. Aber nicht als Mensch.

Und damit erklärt sich auch ein Großteil der heutigen Jammerei, Wüterei und Endzeitstimmung. Für die Kant überhaupt kein Verständnis gehabt hätte, setzt uns doch der Kategorische Imperativ jederzeit in die Lage, menschlich zu handeln und die Welt zum Besseren zu verändern. Oder mit Omri Boehms Worten: „Was, nebenbei bemerkt, schließlich wieder für das Handeln und die Aufklärung wichtig werden wird, weil Hoffnung mit Fortschritt zusammenhängt …“

Denn weil wir das Gute in der Lage sind zu erkennen und uns zum Ziel zu setzen, können wir handeln. Sind wir, so Kant, sogar verpflichtet zu handeln. Auch dann, wenn uns menschliche Gesetze eigentlich verbieten zu handeln, weil diese Gesetze ungerecht oder egoistisch sind. Oder einfach überholt, weil sie uns daran hindern, die Welt zum Besseren zu verändern.

Was ist das Schöne?

Man taucht mit diesen beiden Gesprächsführenden tief ein in die Gedankenwelt Kants, die einem durchaus fremd vorkommen kann, wenn man sich noch nie damit beschäftigt hat, wie eigentlich das Denken in unserem Kopf zustande kommt und warum dabei so viele falsche Denkmodelle der Welt entstanden sind. Und mittendrin immer wieder die Frage: Was macht uns eigentlich zu Menschen? Was unterscheidet uns vom Tier? Und warum geht damit auf einmal eine Pflicht einher, sich wie ein Mensch zu verhalten? Und warum entspringt diese Pflicht ausgerechnet der Freiheit und ist gleichzeitig ihre Grundbedingung?

Und was hat sich Kant eigentlich gedacht, als er den bestirnten Himmel über sich sah? Und damit die unendliche Winzigkeit menschlichen Daseins? Kant hat das auch zum großen Nachdenken über die Ästhetik gebracht, unsere Fähigkeit, das Schöne zu empfinden und zu erkennen. In der Natur genauso wie in der Kunst – oder besser: in dem, was in der Kunst tatsächlich über den Moment und das kleine eitle Individuum hinaus Gültigkeit hat.

Und während die beiden über Kants Kritik der Urteilskraft nachdenken, merken sie ganz beiläufig, dass Kant auch unser heutiges – falsches – Verständnis vom öffentlichen Sprechen kritisiert hat. Und zwar gründlich, wissend darum, dass Sprechen in öffentlichen Rollen trotz aller Öffentlichkeit nur privates (und egoistisches) Sprechen ist.

Man wäre fast geneigt, das ganze Buch zu rezipieren. Die beiden hatten da im Haus des Ullstein-Verlages jedenfalls zwei Tage lang richtig viel Spaß beim Sprechen über Kant und seine Gedankenwelt. Und diese in lauter übersichtliche Kapitel gepackten Gesprächsteile erschließen Kants durchaus nicht alltägliches Denken auch allen, die wie Musils Zögling Törleß über die ersten Seiten bei Kant nicht hinausgekommen sind. Manchmal braucht man einfach den Schlüssel.

Und Kehlmann und Boehm bieten eine Menge Schlüssel an, die Kants Universum auch für die geplagten Menschen von heute aufschließen und zeigen, wie aktuell und modern dieser Philosoph bis heute geblieben ist. Im Grunde nach wie vor eine Herausforderung für jeden, der nicht begreifen will, dass Aufklärung eine permanente Anstrengung ist, sich seines eigenen Denkens (und seiner angewöhnten Vorurteile) bewusst zu werden und anders handeln zu lernen. Nämlich als Mensch.

Omri Boehm, Daniel Kehlmann„Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant“, Propyläen, Berlin 2024, 26 Euro.

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