Man nimmt es so hin. Es steht da, prominent ganz zum Anfang des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ In der Sächsischen Verfassung steht es übrigens genauso in Artikel 14. Dass das aber nicht selbstverständlich ist, darüber denkt man meistens nicht nach. Auch nicht darüber, dass das vor 1949 in keiner einzigen deutschen Verfassung stand.

Also tut der Historiker Habbo Knoch hier etwas, was im Grunde die Suche nach dem Ursprung der Würde ist – wie sie überhaupt ins Gespräch kam, wie sie zum Politikum wurde und wie sie am Ende tatsächlich genau in dieser Formel den Weg ins Grundgesetz nahm. Womit die Geschichte nicht endet. Denn die historische Spurensuche macht auch deutlich, dass die „Väter des Grundgesetzes“ unter der Menschenwürde noch etwas anderes verstanden als wir heute. Was auch mit ihrer politischen Prägung zu tun hat.

Und auf einmal ist man mittendrin in der Genese der Bundesrepublik Deutschland, die in ihren frühen Jahrzehnten noch eine gewaltige Last zu tragen hatte – und zwar nicht nur die Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus, die man am liebsten nicht thematisiert hätte. Immer wieder flammten Debatten um ein Ende der Schuldfrage auf. Aber die Bundesrepublik litt auch unter dem konservativen und autoritären Erbe Deutschlands. Das tut sie eigentlich bis heute.

Portionierte Menschenwürde

Denn indem der Historiker Habbo Knoch insbesondere die Entstehung des Würdebegriffs im 19. Jahrhundert untersucht, wird eine lange Tradition konservativen Denkens sichtbar, die aufs engste mit den autoritären Staatsvorstellungen des 19. Jahrhunderts korrespondiert. Erst spät, in den 1970er Jahren, gelangte tatsächlich der von Immanuel Kant definierte Würdebegriff zunehmend ins Zentrum der Interpretation.

Denn alle Diskussionen der 1950er und 1960er Jahre drehten sich um einen christlich-konservativen Würdebegriff, der die Menschenwürde eben nicht nur als Rückgriff auf Gott definierte, sondern auch das zur Norm setzte, was man so allgemein als christliche Werte und Normen versteht.

Man staunt sogar, wie lange es brauchte, bis in der bundesdeutschen Diskussion der Topos des vom Krieg gedemütigten Volkes zu verblassen begann und der Blick sich endlich auf die tatsächlichen Opfer der NS-Diktatur richtete. Viele Opfergruppen führten jahrzehntelang vergebliche Prozesse auf Anerkennung ihrer Demütigung und Entmenschlichung im Nazi-Reich. Ein blinder Fleck mit Vorgeschichte, der auch das lange Nicht-Wahrhaben-Wollen von Nazi-Denkweisen in vielen gesellschaftlichen Bereichen bedingte – sei es der Umgang mit behinderten Menschen, mit Kindern, mit Frauen, mit Ausländern.

Menschenwürde war bis weit in die 1970er Jahre eine Zuteilungssache – die Menschen wurden weiterhin als wert bzw. unwert gedacht. Und das steckt auch heute noch im Denken einer sogenannten Leistungsgesellschaft, welche die Menschen nach nützlich und nutzlos einteilt. Und dann entsprechend rabiat und abwertend mit Menschen umgeht, die als weniger wert betrachtet werden.

Oder so formuliert: Menschenwürde ist antastbar, wenn sie Prämissen untergeordnet wird, die mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes nichts zu tu haben. Wenn der Mensch eben nicht in seiner Würde und seinem ganzen Wesen als Mensch respektiert, sondern zum Objekt gemacht wird.

Die Zerbrechlichkeit des Menschen

Es ist trotzdem erstaunlich, wie lange es in der öffentlichen Diskussion brauchte, bis man sich der Position von Immanuel Kant überhaupt annäherte, die er in „Metaphysik der Sitten“ formulierte: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßig Anspruch auf Achtung von seinem Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden.“

Das ist eine grundlegende Würde, die dem Staat und den jeweiligen Mächtigen entzogen ist und umfassende Gültigkeit verlangt. Und trotzdem immer wieder unter die Räder kommt, weil alte, autoritäre Würdekonzepte immer wieder politische Schlagkraft entfalten und die Würde nach Klassen verteilen. Wobei gerade in den letzten zwei Jahrzehnten immer deutlicher wurde, dass Menschenwürde und Menschenrechte unabdingbar zusammengehören. Man kann Menschen nicht selbstverständliche (Grund-)Rechte vorenthalten, ohne dabei ihre Würde als menschliches Subjekt zu lädieren.

Und das hat eine Menge mit Staatsverständnis zu tun, wie Knoch mehrfach feststellt: „‚Ein Angriff auf (die) Würde und eine Menschenrechtsverletzung liegen vor‘, so die amerikanische Philosophin Dana Bergoffen, ‚wenn wir einem leiblichen Missbrauch unterworfen werden, der auf die Entfremdung und die Beraubung unserer einzigartigen menschlichen Vermögen zielt.‘ Die Würde des Menschen, so hat es Peter Bieri verallgemeinert, sei vor allem von dem Bewusstsein getragen, als Menschen ‘zerbrechlich und stets gefährdet’ zu sein.“

Die Demütigung des Menschen

Und so taucht der Würdebegriff in der bürgerlichen Debatte des 19. Jahrhunderts praktisch noch nicht auf. Viel zu tief verankert war die Vorstellung eines Staates, in dem es klare Hierarchien und eine klar differenzierte Zuteilung von Rechten und Würde gab. Es lag also auf der Hand, dass es die benachteiligten und rechtlosen Gruppen im Kaiserreich waren, die als Erstes den Begriff der Menschenwürde formulierten – in diesem Fall die Sozialdemokratie mit klarem Verweis auf die Würde der Arbeiter in einer Arbeitswelt, die auf die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten keine Rücksicht nahm. Die SPD wurde zur Stimme der „Erniedrigten“ und formulierte in ihrem Namen das menschliche Recht auf Leben und Arbeit in Würde.

Das ist noch nicht das, was dann tatsächlich 1949 als Formel ins Grundgesetz kam. Aber es bezeichnet den Aspekt des Würdebegriffs, der letztlich auch die Rolle des Staates als „Zuteiler“ von Würde und Rechten infrage stellte. Und damit die Grenzen staatlichen Handelns, ein Thema, das bis weit ins 20. Jahrhundert virulent war, während sich die bürgerlichen konservativen Parteien immer wieder auf ein Staatsverständnis beriefen, nach dem – meist unter dem Label „Ordnung und Sicherheit“ – die Machtverhältnisse auch als Ungleichheitsverhältnisse zementiert wurden.

Ein autoritär verstandener Staat garantierte „Stabilität“ dadurch, dass er – oft mit Gewalt und Härte – die Ungleichverteilung von Rechten sicherte. Ein Denken, das auch in der Weimarer Republik noch überlebte und es in vielen Bereichen für naturgegeben nahm, dass Menschen ausgegrenzt, weggesperrt, schikaniert und entwürdigt wurden.

Was nicht nur die Arbeiter betraf, sondern auch all jene Bevölkerungsgruppen, die dann zum Opfer des Nazi-Reiches wurden. Und die das nur deshalb auch werden konnten, weil es für die bürgerlichen Eliten selbstverständlich war, ganzen Menschengruppen ihre Menschenwürde abzusprechen und am Ende auch das Menschsein. Eine Stelle, an der jeder erschrecken darf, der bislang noch immer versuchte, den deutschen Faschismus aus sich selbst heraus zu verstehen und nicht aus den Vorurteilen und Ressentiments eines Bürgertums, das seinen Antisemitismus genauso pflegte wie seine Verachtung für die „minderwertigen“ Malocher, die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die Frauen oder die Menschen mit Behinderung.

Das überdauernde autoritäre Denken

Dass diese Denkkonzepte nicht 1945 einfach verschwanden, wird an der Diskussion in den 1950er und 1960er Jahren deutlich, die Knoch sehr detailliert nachvollzieht. Und dies tut er so detailreich, dass quasi ein ganzes Panorama der Adenauer-Zeit entsteht und der entstehenden Protestbewegungen, die nicht nur den „Muff aus tausend Jahren“ thematisierten, sondern auch grundlegende Fragen zur Menschenwürde und zur Rolle eines Staates stellten, der sich nach wie vor als autoritär verstand.

Und damit selbst als berechtigt zur Definition, wer welche Menschenwürde haben darf und wer nicht. Die Diskussion um die Menschenwürde und ihre Interpretation macht erst deutlich, wie lange auch die bundesrepublikanische Gesellschaft brauchte, die Implikationen dieser scheinbar so offenen Formel am Beginn des Grundgesetzes zu verstehen.

Denn nach wie vor ist es für große Teile der Gesellschaft nicht selbstverständlich, allen Mitgliedern der Gesellschaft die volle Menschenwürde zuzuerkennen. Ein Problem, das nicht nur Deutschland hat. Damit schlagen sich so gut wie alle Länder auf der Erde herum, auch wenn die Würde des Menschen als Formel längst auch internationale Dokumente und vor allem die Erklärung der Menschenrechte dominiert. Dass europäische Politiker tatsächlich noch immer überzeugt davon sind, dass das verhandelbar ist, zeigt der jüngste Asyl-Kompromiss, der letztlich die geballte Verachtung der europäischen Politik für die Not der von Krieg, Bürgerkrieg und Klimawandel zur Flucht gezwungenen Menschen offenbart.

Wie zivilisiert sind wir eigentlich?

Knoch zitiert den Philosophen Avishai Margalit, der unterscheidet „zwischen einer ‚zivilisierten‘ Gesellschaft, in der die Menschen einander nicht demütigen, und einer ‚anständigen‘ Gesellschaft, deren ‚Institutionen die Menschen nicht demütigen‘.“

Was einen wichtigen Aspekt deutlich macht, denn die Verletzung der Menschenwürde spürt vor allem derjenige, der gedemütigt wird. Nicht der Demütiger. Was auch erklärt, warum staatliche Institutionen sich so schwer tun, die Menschenwürde der verwalteten Menschen zu achten. Denn in vielen staatlichen Handlungen werden Menschen zu Sachen, Dingen, Objekten gemacht, unterliegen Weisungen und Verfügungen, bekommen Rechte zugewiesen oder entzogen.

Und am Ende entscheidet dann selbst die Rechtsprechung, ob staatliche Organe dabei nur mutwillig gehandelt haben oder im Geist eines Gesetzes, das die Negierung von Menschenwürde sogar begründet.

Wobei Knoch berechtigt anmerkt, dass in den letzten 20 Jahren so intensiv und ernsthaft über den Begriff der Menschenwürde diskutiert wurde, wie das in den 50 Jahren vorher nicht der Fall war. Die Gesellschaft ist nicht nur pluralistischer geworden, sondern auch feinfühliger für die Gefährdung der Menschenwürde. Was dann zwangsläufig wieder all den Leuten gewaltig auf den Keks geht, die immer noch der felsenfesten Überzeugung sind, dass Menschenrechte nicht allen gleichermaßen zustehen und Würde im Zweifel am Wirtshaustisch entschieden wird.

Auch wenn sich etwa die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und seine Interpretation des 1. Artikels des Grundgesetzes in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert hat. In immer mehr Gesetzesvorlagen findet der Verweis auf die Menschenwürde ihren Niederschlag. Die Sache ist also in Bewegung. Und gerade in den oft hitzigen Diskussionen zeigt sich, wie fruchtbar der Begriff der unantastbaren Menschenwürde geworden ist für eine Gesellschaft, die 1949 in weiten Teilen noch glaubte, sie müsste sich nicht wirklich ändern. Der Nationalsozialismus sei nur ein „Unfall der Geschichte“ gewesen und die Schuldfrage sowieso reif fürs Verjähren.

Lernen, was Menschenwürde eigentlich bedeutet

Doch genau das stimmt nicht. Und gerade Knochs akribische Beschreibung der Entstehung von Artikel 1 aus dem Grundgesetz zeigt, wie sehr die am Ende gefundene Formel schon ein Vorgriff war auf eine Gesellschaft, welche die frisch gegründete Bundesrepublik 1949 noch gar nicht war. Und wie sehr die späteren Diskussionen den Würdebegriff erst konkretisiert und angereichert haben. Und damit tatsächlich zu einer Demokratisierung der Gesellschaft beitrugen, wie sie selbst für die Autoren des Grundgesetzes 1949 noch nicht denkbar war.

„Erst im Verlauf der Jahrzehnte nach ihrer Gründung ließ sich in der Bundesrepublik normativ verankern, den Menschen nicht durch einen Kult der Härte gegen seine Verletzlichkeit zu imprägnieren, sondern die Verletzlichkeit durch eine Kultur der Empathie vor Angriffen auf sie zu schützen“, beschreibt Knoch diesen Vorgang, der ja vor allem auch eine Veränderung der Selbstsicht der Bürger zur Grundlage hatte. Denn wenn sich der Mensch selbst als verletzlich und angreifbar versteht und akzeptiert, neigt er weniger dazu, nach der Härte des Gesetzes zu rufen und ein „hartes Durchgreifen“ des Staates und seiner Institutionen gutzuheißen.

Das wiederum tun Menschen, die diese Verletzlichkeit einfach ignorieren und glauben, Härte tue Not, um den Staat und eine als homogen und unveränderlich verstandene Gesellschaft zu schützen. Ein Rückfall ins autoritäre Denken, der immer wieder Anhänger findet. Nicht nur der Mensch ist dadurch jederzeit gefährdet, es ist auch genau jene Gesellschaft, die eigentlich die Selbstbestimmungsrechte ihrer Bürger gewährleisten soll. Je tiefer man eintaucht in die Debatte um die Menschenwürde, umso deutlicher wird, dass es das eine ohne das andere nicht geben kann – keine gewährleisteten Grundrechte ohne eine umfassende Achtung für die Würde aller Menschen.

Ein langer Weg

Der Prozess zu so einer Gesellschaft, in der das ganz selbstverständlich und umfassend gilt, ist noch immer im Gang. Und immer wieder gibt es Rückschläge und Momente des Erschreckens, wenn Menschen eben doch wieder zum Objekt gemacht werden, zu einem Ding, dem die simple Würde als Mensch abgesprochen wird.

Im Grunde bringt Habbo Knoch in dieser Fleißarbeit, in der er die lange Genese der Menschenwürde im nationalen und im internationalen Recht nachzeichnet, einen Konfliktpunkt der Gegenwart zur Sprache, an dem sich entscheidet, wohin die Reise der Menschen nun weiter geht: Geht es zurück in autoritäre Staatsstrukturen, in denen Menschenwürde nicht mehr gewährleistet wird und wieder allein das Recht des Stärkeren zählt?

Oder in eine zunehmend emanzipierte Gesellschaft, in der das Wissen um die Verletzlichkeit jedes Menschen auch den respektvollen Umgang miteinander gewährleistet, Menschen einander also nicht mehr demütigen.

Die Frage ist offen. Und sie verknüpft sich genau mit der Formel, die auch alle Rechtlichkeit in einem „zivilisierten“ Staat begründet: der unantastbaren Menschenwürde.

Mit Betonung auf unantastbar. Aber da wird es natürlich kompliziert für alle, die meinen, nur Härte und Rücksichtslosigkeit wären die Mittel, mit denen ein Staat zu machen wäre.

Habbo Knoch„Im Namen der Würde“, Hanser Verlag, München 2023, 29 Euro.

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