An allen Ecken munkelt es. Es rumort auf Demonstrationen und in sozialen Kanälen. Wut und Empörung kochen hoch. Denn die Welt scheint aus den Fugen. Die Einschläge kommen immer näher. Eine Krise jagt die nächste. Man kann sich zwischen den Krisen nicht mal mehr erholen, wie das früher einmal war. Früher, als die Dinge noch normal waren. Aber waren sie das? Stephan Lessenich stellt unsere Vorstellungen vom Normalen vom Kopf auf die Füße.

Denn alle unsere Krisen sind menschengemacht. Sie sind allesamt das Ergebnis menschlichen Tuns und Denkens. Und des Ignorierens natürlich. Denn dass das alles so kommen würde, wussten die meisten von uns schon lange vorher: die Finanzkrise 2007, die Flüchtlingskrise von 2015, die große Pandemie von 2020, die Klimakrise sowieso.

Und genauso, dass die Krise der fossilen Energien ziemlich bald kommen würde, wussten alle, die nur ein bisschen aufmerksam die Berichte des Club of Rome wahrgenommen haben. Dass ein russischer Imperator diese Krise mit einem Krieg forcieren würde – eigentlich war auch das absehbar. Imperatoren nutzen es weidlich aus, wenn sie wissen, dass der Gegner abhängig ist und erpressbar. Und dass man ihn richtig destabilisieren kann, wenn man ihn an dem Stoff packt, von dem er glaubt, dass er billig und jederzeit verfügbar wäre.

Junkies der Wohlstandsgesellschaft

Wir sind eine Junkiegesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich eine Normalität konstruiert hat, die auf völlig unhaltbaren Prämissen aufbaut. Darauf geht der Sozialforscher und Gesellschaftstheoretiker Stephan Lessenich gleich zu Beginn seines furiosen Essays ein – für all die Leute, die tatsächlich glauben, dass früher alles besser gewesen wäre und für die Bilder von Normalität, die alle in den Köpfen tragen, tatsächlich eine reale Einschätzung des eigenen Handelns darstellen.

Dass dem nicht so ist, hat Lessenich ja schon 2016 in seinem ebenso treffsicheren Buch „Neben uns die Sintflut“ beschrieben, das wir seinerzeit in zwei Teilen besprochen haben (hier und hier). Wir haben die Grundlagen unseres Wirtschaftens ausgelagert, weit weg da draußen in andere Länder, wo wir nicht sehen (müssen), wie eigentlich der Wohlstand, den wir für so selbstverständlich halten, erzeugt wird.

Wie dafür zunehmend knappere Rohstoffe in den ärmeren Regionen des Erdballs geplündert werden, wie Menschen für Hungerlöhne für unsere Konsumprodukte schuften, wie anderswo die Wälder abgeholzt werden, damit wir billiges Fleisch in der Kühltheke finden, wie autoritäre Regime sich die Kassen füllen, weil unser Hunger nach Rohstoffen ihr Regime stabilisiert. Nicht zu vergessen die zur Kloake gemachten Flüsse und Meere und die Erdatmosphäre, die wir mit unserer Gier nach billiger fossiler Energie aufheizen, bis uns das Klima um die Ohren fliegt.

Lessenich berührt das Meiste davon auch in diesem Buch, versucht aber vor allem die Frage zu klären, warum so viele Menschen in den wohlhabenden Ländern jetzt regelrecht austicken, lärmen und demonstrieren. Was man natürlich – wie so viele Kommentatoren- einfach abtun kann als Populismus und Rechtsradikalismus, was es in Teilen auch ist. Aber Lessenich beobachtet auch das, was scheinbar ganz und gar nicht radikale Leute an politischen Rednerpulten, in Ministerämtern, in Zeitungsspalten und auf Kongressen so von sich geben. Und es überrascht ihn überhaupt nicht, dass sie im Grunde allesamt dieselbe Klaviatur spielen.

Keine Experimente!

Und dass es eine ziemlich alte Klaviatur ist, die sehr viel mit einem uralten CDU-Wahlslogan zu tun hat: „Keine Experimente!“ Wir leben in einem wirkmächtigen Bild von einer Normalität, die die Bewohner des wohlhabenden Nordens als etwas ihnen Zustehendes betrachten, etwas, das sie „sich verdient“ haben und dessen Regeln allgemeingültig sind. Es ist das Konstrukt einer Normalität.

Doch Normalität wird immer wieder neu konstruiert. Sie ist weder ein Gesetz, noch ein stabiler Zustand. Jede Krise stellt die Vorstellung von Normalität infrage. Was bislang ganz gut funktionierte, weil sich die Regierungen der demokratischen Staaten immer wieder haben etwas einfallen lassen, um mit viel Geld wieder so etwas wie einen status quo ante herzustellen. Zumindest die Illusion so eines Zustandes, auch wenn die Probleme damit selten bis nie gelöst waren, nur vertagt.

Gekaufte Zeit, nennt es Lessenich.

Und staunt durchaus ein wenig, wie stark sich demokratisch gewählte Regierungen unter Druck setzen lassen, wenn es um den Erhalt eines als normal empfundenen Zustandes geht. Mit dem Ergebnis, dass letztlich nur Symptome bekämpft werden, an den Ursachen für die Krise aber nichts geändert wird.

Was ja derzeit für alle anschaulich zu sehen ist beim Umgang mit der Klimakrise: Noch nie gab es so viele Verlautbarungen, was man alles gegen die Klimaerwärmung tun wolle. Und noch nie wurde so hemmungslos auf weiteres Wachstum gesetzt wie heute. Denn in der Vorstellung unserer „Normalität“ ist das fortgesetzte Wirtschaftswachstum direkt verbunden mit Wohlstand.

Es ist geradezu unvorstellbar, dass diese Jagd nach immer mehr Besitz, Prestige und gesellschaftlichem Status enden könnte. Es ist der zentrale Kern kapitalistischen Wirtschaftens. Und die westdeutsche Gesellschaft hat sich seit 70 Jahren daran gewöhnt, dass die Demokratie direkt gekoppelt ist mit einem permanenten Aufstiegsversprechen. Und Aufstieg drückt sich zuallererst in mehr Besitz und mehr Geld aus.

Der Radikalismus der Mitte

So viel Geld, dass dessen Besitzer bald gar nicht mehr wissen, wohin damit. Weshalb Lessenich in einem Kapitel recht genüsslich zeigt, wie diese zu Wohlstand gekommene Mittelschicht durch ihren Umgang mit Geld, Aktien und Immobilienerwerb selbst dazu beiträgt, die Krisen zu verschärfen. Denn ein Grundproblem des kapitalistischen Denkens ist nun einmal, dass es keine natürlichen Grenzen kennt bzw. diese ignoriert. Rohstoffe und Arbeitskräfte werden geradezu als unendlich verfügbar gedacht und auch der Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ hat daran nichts geändert.

Es wurde nur noch tiefer gebohrt, mit immer größerem Aufwand noch ein neues Abbaufeld erschlossen und noch mehr Gas aus dem Erdboden gepumpt, damit der einzig auf Wachstum getrimmte Riese nur ja gefüttert würde.

Aber was passiert, wenn genau das jetzt an seine Grenzen kommt? Denn davon erzählen ja sämtliche Krisen der Gegenwart?

Das Erste, was entsteht, ist Angst. Die maßgebliche Gesellschaftsschicht, die sogenannte Mitte, die sich immer als das Maß aller Dinge in der Bundesrepublik vestanden hat und so auch immer gewählt hat, gerät „an den Rand des Nervenzusammenbruchs“, wie es der Untertitel des Buches benennt. Denn die neuen Krisen gehen ans Herz ihrer Vorstellungen vom Normalen. Das, worin diese Gesellschaft nach den Abgründen des Nationalsozialismus ihr Seelenheil gefunden hat, ihre auf Wachstum und Wohlstand fokussierte Sicht auf Normalität, lässt sich ganz offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten.

Ein konstruiertes „Wir“

Gerade jene Mitte der Gesellschaft, die immer auf „Stabilität und Einheit“ gesetzt hat, erlebt jetzt, dass es diese Stabilität nicht gibt. Dass alle alten Gewissheiten infrage gestellt werden – mal durch Menschen, die vor Bürgerkriegen, Hungersnöten und Klimakatastrophen fliehen, mal durch ein Virus, das binnen Tagen rund um die Welt reist, mal durch einen idyllischen kleinen Fluss, der sich binnen Stunden in einen reißenden Strom verwandelt und brave Landräte zu der Einsicht zwingt, dass sie damit schlicht nicht umgehen können.

Die Schocks kommen in immer kürzeren Abständen. Und es sind eben nicht die Ränder der Gesellschaft, die nun ausflippen. Oder die sozial sowieso Benachteiligten, die nie auch nur davon träumen konnten, jemals in Wohlstand zu leben. Es ist die gut versorgte Mitte der Gesellschaft, die nun in Panik verfällt. Ihr ganzes Weltmodell erweist sich als fragil.

Doch alles sträubt sich dagegen, diese radikale Veränderung zu akzeptieren. Denn das, was nach den Krisen kommt, ist ja noch gar nicht zu sehen. Niemand hat ein fertiges Rezept dafür. Nur eines ist klar: Hinterher wird es völlig anders aussehen und die Selbstverständlichkeiten von heute werden nicht mehr als normal betrachtet.

Was Lessenich zu der logischen Feststellung bringt: Nicht die Krisen sind das Unnormale. Sondern es ist das alte Denken über Normalität, das sich jetzt als völlig unhaltbar und als nicht fortsetzbar erweist. Da helfen auch all die politischen Floskeln von „Wir“, von „Zusammenhalt“ und „Füreinandereinstehen“ nichts. Das haben Flüchtlingskrise und Corona-Pandemie nur zu deutlich gezeigt. Der so oft aus der „Mitte der Gesellschaft“ heraus postulierte Wunsch nach Zusammenhalt scheitert schon daran, dass es diesen Zusammenhalt nur als Fiktion gibt. Als Gruppenfiktion.

Die Verlustängste der „alten weißen Männer“

Weshalb Lessenich auch sehr ausführlich auf die deutsche Gender- und Identitätsdebatte eingeht, die wieder von einer anderen Krise erzählt, flapsig formuliert von der Krise des „weißen alten Mannes“, der gerade erlebt, wie seine strukturelle Privilegierung in Wirtschaft, Politik, Medien usw. von mehreren Seiten infrage gestellt wird. Denn natürlich ist diese Privilegierung aufs engste mit dem alten Wohlstands- und Wachstumsdenken verbunden. Und mit dem, was den westlichen Gesellschaften gerade um die Ohren fliegt: ihre völlige Abhängigkeit von billigen fossilen Energieträgern.

Alle wissen seit mindestens 30 Jahren, dass wir aus dieser Abhängigkeit heraus müssen. Aber stattdessen sind wir immer weiter in die Sucht nach billigem Erdgas, billigem Öl und überhaupt billiger Energie hineingeschlittert. Oder gerannt. Denn „Geiz ist geil“ ist ein zentraler Schlachtruf des alten, ganz und gar nicht normalen Denkens, das einer intakten Umwelt, der Zukunft der Kinder und den so gern proklamierten Menschenrechten letztlich keinen Wert zumisst.

Denn das alles lässt sich nicht zu Geld machen. Aber verramschen. Den eigenen Vorstellungen von Normalität unterwerfen, solange wir all die üblen Folgen unseres „normalen“ Handels ausblenden und externalisieren können.

Jetzt, wo die Folgen dieses Ignorierens mit Wucht als Krise wieder im Heimatland einschlagen, sind just all die Menschen, die das alte Denken für normal hielten, geschockt, in Panik versetzt und heillos überfordert. Denn natürlich ahnen sie, dass es ihr Lebensmodell ist, das hier auf der Kippe steht.

„Es ist diese selbst historisch gewachsene, die gesellschaftlichen Individuen – ob sie wollen oder nicht – vereinnahmende Haltung, die die ‚mentale Infrastruktur‘ einer letztlich auf Expansion, Grenzüberschreitung und Rückschrittsverweigerung gepolten Alltagskultur trifft“, schreibt Lessenich. „Tief in unserem Inneren sind wir Wachstumssubjekte: von Kopf bis Fuß auf das Erreichen des nächsten Levels eingestellt.“

„Zurück zur Normalität“

Auch die so genannten „Querdenker“, die aus der Mitte dieser empörten Gesellschaft kommen, sind das. Aber mit Edward De Bonos „lateralem Denken“ haben sie nichts zu tun. Ein Denken, das genau jetzt gefragt ist. Denn jetzt braucht es Menschen, die sich ein anderes Normal denken / ausdenken können. Eines, das vom jetzigen Zustand aus erreichbar und gestaltbar ist. Während die „Querdenker“ im Grunde nur in verschärfter Tonlage behaupten, was auch besitzstandswahrende Politiker und Kommentatoren permanent fordern – ein Zurück zur alten Normalität.

Lessenich zeigt sehr klug, wie tief dieses „Zurück zur Normalität“-Denken in so ziemlich allen gesellschaftlichen Diskursen der letzten Jahre steckt. Sei es bei der „Bewältigung der Flüchtlingskrise“ (und der Verweigerung, Deutschland als Einwanderungsland zu begreifen), sei es bei der Diskussion um Tempobegrenzung auf Autobahnen, beim tapferen Kampf gegen Windmühlen oder in der Genderdebatte, in der ausgerechnet arrivierte und privilegierte Männer um den drohenden Verlust ihrer Privilegien jammern.

So wird Lessenichs Essay zu einer sehr genauen Begutachtung des ganz und gar nicht normalen Zustands unserer Gesellschaft und vor allem jener privilegierten Schicht, die in dieser Gesellschaft die Diskussionen bestimmt und damit die Sicht auf das, was als normal zu verstehen ist.

Und dass er befürchtet, dass sein Buch auch wieder nur in dieser Gesellschaftsschicht seine Leser findet, schreibt er auch. Was zumindest auch davon erzählt, dass er Hopfen und Malz nicht für verloren hält und auch Menschen, die sich zutiefst zurück sehnen in eine als „normal“ und „besser“ gedachte Zeit, lernfähig und lernwillig sind.

Und zumindest verstehen möchten, warum das alte Normal derart viele, sich jetzt überlagernde Krisen hervorgebracht hat. Und warum dieses „Normal“ nie normal war und jetzt gerade sowieso aufhört, die Norm zu sein. Schlicht weil seine Grundlagen zerstört sind und es ein „Weiterso“ nicht geben wird. Auch dann nicht, wenn die nächste Krise wieder mit viel Geld leidlich gemeistert bzw. vertagt wurde.

Ein Ort, an dem wir noch nie waren

Die gewohnten Mittel, noch einmal ein paar Jahre Zeit zu kaufen, bis die nächste Krise ausbricht, funktionieren nämlich immer weniger. „Wir werden nicht wieder dahin zurückfinden, wo wir herkommen“, schreibt Lessenich und zitiert Heinz Bude aus einem Beitag in der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir werden an einen Ort zurückkehren, wo wir noch nicht waren.“

Wenn man so denkt, jammert man nicht alten Normalitäten nach. Dann ist man neugierig auf das, was kommt. Und nutzt die ganze schöne Lebensenergie lieber dafür, sich Lösungen für das Kommende auszudenken. So gesehen ein richtig froh stimmendes Buch! Es geht, wenn wir nur wollen – und den Verzicht auf die ganzen Plagegeister der alten „Normalität“ als Erleichterung und Gewinn verstehen. Alles wird so bleiben, wie es niemals war. Das ist die frohe Botschaft.

Und jede neue Normalität, die sich dann einstellt, wenn die Dinge scheinbar wieder ihren Lauf nehmen, ist wieder nur ein Konstrukt mit lauter kleinen Glaubenssätzen, die immer nur so lang funktionieren, bis sich die Dinge wieder ändern.

Krisen erzählen von nichts anderem. Doch es war schon immer ein Fehler, bei ihrer „Bewältigung“ immer nur die Wiederherstellung eines alten Normal im Auge zu haben und – wie Lessenich ja auch anmerkt – jede alternative Option geradezu zu verteufeln, weil sie die herrschenden Vorstellungen von Normalität anzweifeln. Und sei es nur ein Veggieday in der Betriebskantine.

Was Lessenich hier vorgelegt hat, ist wohl die treffendste Analyse, die man über unsere „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ derzeit schreiben konnte. Eine Gesellschaft, die gerade merkt, wie alle ihre Vorstellungen von Wohlstand und Wachstum sich als irreal erweisen. Und die auch nur den Gedanken, sie müsste etwas an ihrem Leben ändern, als Zumutung und Degradierung empfindet.

Stephan Lessenich „Nicht mehr normal“, Hanser Berlin, Berlin 2022, 23 Euro.

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